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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Untergang der antiken lockt

Alls alledem erwuchs eine pessimistische Stimmung, die in einen förm¬
lichen Trieb der Selbstvernichtung ausartete, der sich in einer weithin herr¬
schenden Selbstmordmanie äußerte. secat erinnert an ähnliche Erscheinungen
bei Naturvölkern, die von der Vorsehung zum Verschwinden verurteilt worden
zu sein scheinen, z. B. die Bewohner der Antillen, die sich auf Verabredung
gemeindeweise teils durch Gift, teils durch den Strick töteten. Das Christentum
wirkte dieser Stimmung nicht entgegen; im Gegenteil, wie der christliche Preis
der Jungfrauschaft, so lag auch das Drängen der edelsten Christen zum Mär¬
tyrertode -- ein weiteres Mittel der Auslese der Untüchtigsten -- durchaus
in der herrschenden Richtung. In der Litteratur wirkte dieser Pessimismus
mit der Gesiminngslosigkeit zusammen, sie gänzlich unfruchtbar zu machen.
"Auch deswegen blieb die römische Litteratur so durchaus konservativ, weil
ihren Pflegern jede Erschütterung der bestehenden Zustände zum Verderbe"
gereichen mußte. Wer dächte da nicht an unsre "staatserhaltenden" !^ Denn
Schmarotzer waren sie alle, ob sie sich als arme Schlucker von der Gnade
ihrer Gönner, ob als Mitglieder des herrschenden Standes vom Raube der
Provinzen ernährten: der revolutionäre Geist, der das Gewordne vom Stand¬
punkte des Volkswohls und der gesunden Vernunft einer Kritik unterwirft,
hätte sich also in erster Linie gegen ihre Existenzberechtigung wenden müssen.
Jedes gesunde Volk freut sich an der Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft;
seine Philosophen entwerfen Bilder einer idealen Staatsverfassung, seine Dichter
und Romanschreiber träume" sich in Länder und Zeiten hinein, in denen die
Gerechtigkeit zur vollen Herrschaft gelaugt ist und jeder gute Mensch Grund
hat, zufrieden zu sein. Solche Utopien, wie sie im Altertum keinen geringern
als Plato, in der Neuzeit ein ganzes Heer von Schriftsteller", von Thomas
Morus bis auf Bellcuny und Bebel herab, beschäftigt haben, sind der Lit¬
teratur der Kaiserzeit durchaus fremd. Wenn sie die Gegenwart tadelt, so
geschieht das nur im Vergleich zur ruhmreichen Vergangenheit; der frische,
hoffnungsfreudige Ausblick in die Zukunft fehlt ihr güuzlich. Daß es besser
werden könne im Reiche, scheint keinem in den Sinn zu kommen, noch
weniger findet sich jemand, der sich im Ernst oder Scherz darüber den Kopf
zerbräche, wie es besser werden könne. Die einen freuen sich ihres Lebens,
die andern beklagen in dumpfer Verzweiflung das Elend der Zeit oder lassen
an ihr eine" müßigen Spott aus. Seinem Volke ein ideales Ziel zu weisen,
worauf sich dessen Streben richten könnte, betrachtet kein Schriftsteller als
seine Aufgabe." (S. 316.)

Die eigentliche Ursache des Untergangs des römischen Reiches ist ohne
Zweifel der Wille Gottes gewesen, den Germanen die Entfaltung ihres Wesens
und ihrer Kraft möglich zu machen; neben dem römischen Reiche hätten sie
weder ein Kllltnrvvlk werden noch Macht erlangen können, und in diesem
Reiche konnten sie es nur dadurch, daß sie es auflösten. So meint es auch


Der Untergang der antiken lockt

Alls alledem erwuchs eine pessimistische Stimmung, die in einen förm¬
lichen Trieb der Selbstvernichtung ausartete, der sich in einer weithin herr¬
schenden Selbstmordmanie äußerte. secat erinnert an ähnliche Erscheinungen
bei Naturvölkern, die von der Vorsehung zum Verschwinden verurteilt worden
zu sein scheinen, z. B. die Bewohner der Antillen, die sich auf Verabredung
gemeindeweise teils durch Gift, teils durch den Strick töteten. Das Christentum
wirkte dieser Stimmung nicht entgegen; im Gegenteil, wie der christliche Preis
der Jungfrauschaft, so lag auch das Drängen der edelsten Christen zum Mär¬
tyrertode — ein weiteres Mittel der Auslese der Untüchtigsten — durchaus
in der herrschenden Richtung. In der Litteratur wirkte dieser Pessimismus
mit der Gesiminngslosigkeit zusammen, sie gänzlich unfruchtbar zu machen.
„Auch deswegen blieb die römische Litteratur so durchaus konservativ, weil
ihren Pflegern jede Erschütterung der bestehenden Zustände zum Verderbe»
gereichen mußte. Wer dächte da nicht an unsre »staatserhaltenden« !^ Denn
Schmarotzer waren sie alle, ob sie sich als arme Schlucker von der Gnade
ihrer Gönner, ob als Mitglieder des herrschenden Standes vom Raube der
Provinzen ernährten: der revolutionäre Geist, der das Gewordne vom Stand¬
punkte des Volkswohls und der gesunden Vernunft einer Kritik unterwirft,
hätte sich also in erster Linie gegen ihre Existenzberechtigung wenden müssen.
Jedes gesunde Volk freut sich an der Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft;
seine Philosophen entwerfen Bilder einer idealen Staatsverfassung, seine Dichter
und Romanschreiber träume» sich in Länder und Zeiten hinein, in denen die
Gerechtigkeit zur vollen Herrschaft gelaugt ist und jeder gute Mensch Grund
hat, zufrieden zu sein. Solche Utopien, wie sie im Altertum keinen geringern
als Plato, in der Neuzeit ein ganzes Heer von Schriftsteller», von Thomas
Morus bis auf Bellcuny und Bebel herab, beschäftigt haben, sind der Lit¬
teratur der Kaiserzeit durchaus fremd. Wenn sie die Gegenwart tadelt, so
geschieht das nur im Vergleich zur ruhmreichen Vergangenheit; der frische,
hoffnungsfreudige Ausblick in die Zukunft fehlt ihr güuzlich. Daß es besser
werden könne im Reiche, scheint keinem in den Sinn zu kommen, noch
weniger findet sich jemand, der sich im Ernst oder Scherz darüber den Kopf
zerbräche, wie es besser werden könne. Die einen freuen sich ihres Lebens,
die andern beklagen in dumpfer Verzweiflung das Elend der Zeit oder lassen
an ihr eine» müßigen Spott aus. Seinem Volke ein ideales Ziel zu weisen,
worauf sich dessen Streben richten könnte, betrachtet kein Schriftsteller als
seine Aufgabe." (S. 316.)

Die eigentliche Ursache des Untergangs des römischen Reiches ist ohne
Zweifel der Wille Gottes gewesen, den Germanen die Entfaltung ihres Wesens
und ihrer Kraft möglich zu machen; neben dem römischen Reiche hätten sie
weder ein Kllltnrvvlk werden noch Macht erlangen können, und in diesem
Reiche konnten sie es nur dadurch, daß sie es auflösten. So meint es auch


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[0237] Der Untergang der antiken lockt Alls alledem erwuchs eine pessimistische Stimmung, die in einen förm¬ lichen Trieb der Selbstvernichtung ausartete, der sich in einer weithin herr¬ schenden Selbstmordmanie äußerte. secat erinnert an ähnliche Erscheinungen bei Naturvölkern, die von der Vorsehung zum Verschwinden verurteilt worden zu sein scheinen, z. B. die Bewohner der Antillen, die sich auf Verabredung gemeindeweise teils durch Gift, teils durch den Strick töteten. Das Christentum wirkte dieser Stimmung nicht entgegen; im Gegenteil, wie der christliche Preis der Jungfrauschaft, so lag auch das Drängen der edelsten Christen zum Mär¬ tyrertode — ein weiteres Mittel der Auslese der Untüchtigsten — durchaus in der herrschenden Richtung. In der Litteratur wirkte dieser Pessimismus mit der Gesiminngslosigkeit zusammen, sie gänzlich unfruchtbar zu machen. „Auch deswegen blieb die römische Litteratur so durchaus konservativ, weil ihren Pflegern jede Erschütterung der bestehenden Zustände zum Verderbe» gereichen mußte. Wer dächte da nicht an unsre »staatserhaltenden« !^ Denn Schmarotzer waren sie alle, ob sie sich als arme Schlucker von der Gnade ihrer Gönner, ob als Mitglieder des herrschenden Standes vom Raube der Provinzen ernährten: der revolutionäre Geist, der das Gewordne vom Stand¬ punkte des Volkswohls und der gesunden Vernunft einer Kritik unterwirft, hätte sich also in erster Linie gegen ihre Existenzberechtigung wenden müssen. Jedes gesunde Volk freut sich an der Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft; seine Philosophen entwerfen Bilder einer idealen Staatsverfassung, seine Dichter und Romanschreiber träume» sich in Länder und Zeiten hinein, in denen die Gerechtigkeit zur vollen Herrschaft gelaugt ist und jeder gute Mensch Grund hat, zufrieden zu sein. Solche Utopien, wie sie im Altertum keinen geringern als Plato, in der Neuzeit ein ganzes Heer von Schriftsteller», von Thomas Morus bis auf Bellcuny und Bebel herab, beschäftigt haben, sind der Lit¬ teratur der Kaiserzeit durchaus fremd. Wenn sie die Gegenwart tadelt, so geschieht das nur im Vergleich zur ruhmreichen Vergangenheit; der frische, hoffnungsfreudige Ausblick in die Zukunft fehlt ihr güuzlich. Daß es besser werden könne im Reiche, scheint keinem in den Sinn zu kommen, noch weniger findet sich jemand, der sich im Ernst oder Scherz darüber den Kopf zerbräche, wie es besser werden könne. Die einen freuen sich ihres Lebens, die andern beklagen in dumpfer Verzweiflung das Elend der Zeit oder lassen an ihr eine» müßigen Spott aus. Seinem Volke ein ideales Ziel zu weisen, worauf sich dessen Streben richten könnte, betrachtet kein Schriftsteller als seine Aufgabe." (S. 316.) Die eigentliche Ursache des Untergangs des römischen Reiches ist ohne Zweifel der Wille Gottes gewesen, den Germanen die Entfaltung ihres Wesens und ihrer Kraft möglich zu machen; neben dem römischen Reiche hätten sie weder ein Kllltnrvvlk werden noch Macht erlangen können, und in diesem Reiche konnten sie es nur dadurch, daß sie es auflösten. So meint es auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/237>, abgerufen am 01.09.2024.