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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Gsteu und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

ersteht die Reichshauptstadt nicht nur als ein Handelsplatz, sondern als ein
Jndustrieplatz ersten Ranges -- Berlin hat nach der letzten Zahlung 4444
Fabriken!--, der seinen Millionengürtel weiterspannt und die Fabrikschlote
hinausschiebt in die friedlichen Äcker, bis nach Mecklenburg hinein, wo Zucker¬
fabriken begründet werden. Je mehr die Entwicklung vorwärtsgehe, desto rascher
kommt der Ausgleich, er kommt ganz von selber.

Aber gewisse Gegensätze bleiben doch. Zweierlei regiert den Staat: der
westliche Jndustriemcignat und der östliche Landmagnat. Die Regierung steht
zwischen beiden. Giebt sie der Industrie, so denkt sie seit langem zuerst an
den Westen, und giebt sie der Landwirtschaft, so denkt sie an den Osten. Die
Landwirtschaft im Westen, die Industrie im Osten ist nicht selten unzufrieden.
Ein Grund hierfür ist freilich nicht immer vorhanden. Aber es herrscht ein
gewisser Neid, und bekommt der eine, so erwacht gleich im andern die Furcht,
daß bei ihm die knappe Decke zu kurz werden könnte. Und dann: man liebt
auch seinen alten Haß, und bietet sich die Gelegenheit, so hegt man gern die
lcmggewohnte und kaltgestellte Empfindung. So steht die Schlacht.

Aber ehe wir untersuchen, welcher der beiden Gegner im Rechte ist, sehen
wir erst einmal zu, ob denn der ganze Streit zu Recht besteht, ob man nicht
beide Gegner nach Hause schicken sollte. Lebten wir in der Vereinsamung, und
gäbe es nichts in der Welt als unser deutsches Vaterland, lebten wir ferner
nur als eine Masse wirtschaftender Einzelwesen und bildeten keinen geschlossenen
Staatsorganismus, so könnten wir dem Streite der Meinungen wohl mit ver¬
schränkten Armen zusehen. Aber wir leben im Staate, sogar in einer be¬
sondern Form des Staats, im Nationalstaate. Was ist heute seine Haupt¬
aufgabe? Es ist der Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen. Der Staat muß
mit ihnen allen rechnen; aber auch sie alle müssen mit dem Staate rechnen,
denn dieses Gebilde vereinigt in sich eine Potenz von Einfluß und Macht,
gegen die jede Einzelströmung nichtig erscheint. Aus dieser Machtvollkommen¬
heit aber erwächst dem Staate die Verpflichtung, mit höchster Einsicht und ab¬
wägender Gerechtigkeit zu verfahren, allenthalben und überall. Er darf keine
Gunst und Ungunst kennen; wie die Justitia, muß er wagen, was recht, d. h.
was sür alle nützlich ist, aber er soll keine Binde vor den Augen haben, sondern
er soll scharf zusehen, damit ihm nichts entgeht. Gesetzt den Fall, es wäre
irgendwo eine Industrie entstanden, und diese Industrie, die viele Bürger nährte
und mehrere schmückte und ihnen Brot und Helmstädt und Lebensinhalt gäbe,
würde notleidend; es träte irgend ein Umstand ein, der ihr Dasein gefährdete
und mit ihr die, die ihre Trüger sind. Sie ruft nach dem Staate, dem starken
Helfer. Wird er sie unter allen Umstünden hören? Hören gewiß; aber helfen
wird er ihr nur, wenn die Hilfe möglich ist ohne den Schaden der andern, die
ebenfalls den Staat bilden und aufrecht halten. Denn der Staat ist ein Orga¬
nismus, wie irgend einer, und er ist ein volkswirtschaftlicher Organismus oder
vielmehr der einzige volkswirtschaftliche Organismus, den wir haben. Eine


Der Gsteu und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

ersteht die Reichshauptstadt nicht nur als ein Handelsplatz, sondern als ein
Jndustrieplatz ersten Ranges — Berlin hat nach der letzten Zahlung 4444
Fabriken!—, der seinen Millionengürtel weiterspannt und die Fabrikschlote
hinausschiebt in die friedlichen Äcker, bis nach Mecklenburg hinein, wo Zucker¬
fabriken begründet werden. Je mehr die Entwicklung vorwärtsgehe, desto rascher
kommt der Ausgleich, er kommt ganz von selber.

Aber gewisse Gegensätze bleiben doch. Zweierlei regiert den Staat: der
westliche Jndustriemcignat und der östliche Landmagnat. Die Regierung steht
zwischen beiden. Giebt sie der Industrie, so denkt sie seit langem zuerst an
den Westen, und giebt sie der Landwirtschaft, so denkt sie an den Osten. Die
Landwirtschaft im Westen, die Industrie im Osten ist nicht selten unzufrieden.
Ein Grund hierfür ist freilich nicht immer vorhanden. Aber es herrscht ein
gewisser Neid, und bekommt der eine, so erwacht gleich im andern die Furcht,
daß bei ihm die knappe Decke zu kurz werden könnte. Und dann: man liebt
auch seinen alten Haß, und bietet sich die Gelegenheit, so hegt man gern die
lcmggewohnte und kaltgestellte Empfindung. So steht die Schlacht.

Aber ehe wir untersuchen, welcher der beiden Gegner im Rechte ist, sehen
wir erst einmal zu, ob denn der ganze Streit zu Recht besteht, ob man nicht
beide Gegner nach Hause schicken sollte. Lebten wir in der Vereinsamung, und
gäbe es nichts in der Welt als unser deutsches Vaterland, lebten wir ferner
nur als eine Masse wirtschaftender Einzelwesen und bildeten keinen geschlossenen
Staatsorganismus, so könnten wir dem Streite der Meinungen wohl mit ver¬
schränkten Armen zusehen. Aber wir leben im Staate, sogar in einer be¬
sondern Form des Staats, im Nationalstaate. Was ist heute seine Haupt¬
aufgabe? Es ist der Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen. Der Staat muß
mit ihnen allen rechnen; aber auch sie alle müssen mit dem Staate rechnen,
denn dieses Gebilde vereinigt in sich eine Potenz von Einfluß und Macht,
gegen die jede Einzelströmung nichtig erscheint. Aus dieser Machtvollkommen¬
heit aber erwächst dem Staate die Verpflichtung, mit höchster Einsicht und ab¬
wägender Gerechtigkeit zu verfahren, allenthalben und überall. Er darf keine
Gunst und Ungunst kennen; wie die Justitia, muß er wagen, was recht, d. h.
was sür alle nützlich ist, aber er soll keine Binde vor den Augen haben, sondern
er soll scharf zusehen, damit ihm nichts entgeht. Gesetzt den Fall, es wäre
irgendwo eine Industrie entstanden, und diese Industrie, die viele Bürger nährte
und mehrere schmückte und ihnen Brot und Helmstädt und Lebensinhalt gäbe,
würde notleidend; es träte irgend ein Umstand ein, der ihr Dasein gefährdete
und mit ihr die, die ihre Trüger sind. Sie ruft nach dem Staate, dem starken
Helfer. Wird er sie unter allen Umstünden hören? Hören gewiß; aber helfen
wird er ihr nur, wenn die Hilfe möglich ist ohne den Schaden der andern, die
ebenfalls den Staat bilden und aufrecht halten. Denn der Staat ist ein Orga¬
nismus, wie irgend einer, und er ist ein volkswirtschaftlicher Organismus oder
vielmehr der einzige volkswirtschaftliche Organismus, den wir haben. Eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/18>, abgerufen am 01.09.2024.