Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Sittlichkeit auf dein Lande

dieser manche Besonderheiten hat, sich z. B. von den benachbarten Nieder¬
sachsen durch große Weichheit unterscheidet, so glauben wir doch sein Werk
höher schätzen zu müssen als selbst die bekannten klassischen Arbeiten Nichts.
(Der ungenannte, aber nicht unbekannte Verfasser, Dr. Hermann Gebhardt,
Pfarrer in Molschleben, hat noch andre hübsche Sachen herausgegeben, wie
Aus der Geschichte des Dorfes Molschleben.)

Wagner und Wittenberg haben in aller Unschuld eine Stelle unsers Ge¬
sellschaftszustandes angebohrt, an der die schwierigsten und für die maßgebenden
Kreise peinlichsten Fragen hervorquellen, die nun aber, nachdem sie einmal
gestellt worden sind, gebieterisch Antwort fordern werden. Mit Proben aus
dem aufgehäuften Thatsachenmaterial verschonen wir unsre Leser und beschränken
uns auf die Mitteilung des Hauptergebnisses. Ideal sind die Zustände nirgends.
In den meisten Gegenden steht es schlimm, in mehreren großen Landschaften
sehr schlimm; die Leute leben "wie das liebe Vieh," mit dem selbstverständ¬
lichen Unterschiede, den ein boshafter Franzose für den einzigen Unterschied
zwischen Mensch und Vieh halten will, daß auch diesem biedern Landvolke die
Gabe verliehen ist, (Ah doirs sins soll et) av Kure 1'g.near su tout temps.
Und nun bedenke man, daß das Leute sind, die niemals weder die "lieder¬
lichen" alten Heiden noch französische Romane gelesen haben, die ganz unbe¬
rührt leben vom alten wie vom neuen Heidentum, von der Kunst wie von
der bösen modernen Wissenschaft, bei denen es nicht einmal Sozialdemokraten
giebt, und bei denen es trotzdem, wenigstens was das ledige junge Volk
betrifft, "immer so gewesen ist" wie heute, d. h. immer ungefähr so zugegangen
ist, wie es nach Gregorovius im sozialistischen Zukunftsstaate zugehen soll;
mau bedenke, daß diese Bevölkerungen niemals einen andern Einfluß erfahren
haben, als den des Pastors, des Lehrers, des Gutsherrn, der Dorfobrigkeit,
des Landrath und höchstens noch der Kaserne, und man bedenke schließlich,
daß in den meisten dieser Landschaften die Kirchlichkeit wenig zu wünschen
übrig läßt, und daß sie in einigen der Gegenden, wo die Sittlichkeit am tiefsten
stehst, musterhaft ist. Da drängt sich denn eine Reihe ganz unabweisbarer
Fragen auf. Daß nicht allein die heidnischen Germanen, sondern auch die
Griechen der homerischen Zeit und die Römer vor den punischen Kriegen weit
keuscher gewesen sind, steht fest. Woran liegt es nun, daß Bevölkerungen,
die seit Jahrhunderten, zum Teil seit länger als einem Jahrtausend, christlich
sind, in der geschlechtlichen Sittlichkeit tiefer stehen? War es eine Täuschung,
daß man dem Christentum versittlichende Kräfte zugeschrieben hat? Oder hat
man vielleicht im Namen des Christentums sittliche Forderungen erhoben, die
unerfüllbar und deshalb unwirksam waren, sodaß nicht einmal das Erfüllbare
geleistet wurde, was im Heidentum und im Judentum gefordert und vielfach
auch erreicht worden ist? Oder liegt es an sozialen Verhältnissen? Oder hat
man ganz allgemein die Aufgaben des Christentums nicht verstanden? Christus


Die Sittlichkeit auf dein Lande

dieser manche Besonderheiten hat, sich z. B. von den benachbarten Nieder¬
sachsen durch große Weichheit unterscheidet, so glauben wir doch sein Werk
höher schätzen zu müssen als selbst die bekannten klassischen Arbeiten Nichts.
(Der ungenannte, aber nicht unbekannte Verfasser, Dr. Hermann Gebhardt,
Pfarrer in Molschleben, hat noch andre hübsche Sachen herausgegeben, wie
Aus der Geschichte des Dorfes Molschleben.)

Wagner und Wittenberg haben in aller Unschuld eine Stelle unsers Ge¬
sellschaftszustandes angebohrt, an der die schwierigsten und für die maßgebenden
Kreise peinlichsten Fragen hervorquellen, die nun aber, nachdem sie einmal
gestellt worden sind, gebieterisch Antwort fordern werden. Mit Proben aus
dem aufgehäuften Thatsachenmaterial verschonen wir unsre Leser und beschränken
uns auf die Mitteilung des Hauptergebnisses. Ideal sind die Zustände nirgends.
In den meisten Gegenden steht es schlimm, in mehreren großen Landschaften
sehr schlimm; die Leute leben „wie das liebe Vieh," mit dem selbstverständ¬
lichen Unterschiede, den ein boshafter Franzose für den einzigen Unterschied
zwischen Mensch und Vieh halten will, daß auch diesem biedern Landvolke die
Gabe verliehen ist, (Ah doirs sins soll et) av Kure 1'g.near su tout temps.
Und nun bedenke man, daß das Leute sind, die niemals weder die „lieder¬
lichen" alten Heiden noch französische Romane gelesen haben, die ganz unbe¬
rührt leben vom alten wie vom neuen Heidentum, von der Kunst wie von
der bösen modernen Wissenschaft, bei denen es nicht einmal Sozialdemokraten
giebt, und bei denen es trotzdem, wenigstens was das ledige junge Volk
betrifft, „immer so gewesen ist" wie heute, d. h. immer ungefähr so zugegangen
ist, wie es nach Gregorovius im sozialistischen Zukunftsstaate zugehen soll;
mau bedenke, daß diese Bevölkerungen niemals einen andern Einfluß erfahren
haben, als den des Pastors, des Lehrers, des Gutsherrn, der Dorfobrigkeit,
des Landrath und höchstens noch der Kaserne, und man bedenke schließlich,
daß in den meisten dieser Landschaften die Kirchlichkeit wenig zu wünschen
übrig läßt, und daß sie in einigen der Gegenden, wo die Sittlichkeit am tiefsten
stehst, musterhaft ist. Da drängt sich denn eine Reihe ganz unabweisbarer
Fragen auf. Daß nicht allein die heidnischen Germanen, sondern auch die
Griechen der homerischen Zeit und die Römer vor den punischen Kriegen weit
keuscher gewesen sind, steht fest. Woran liegt es nun, daß Bevölkerungen,
die seit Jahrhunderten, zum Teil seit länger als einem Jahrtausend, christlich
sind, in der geschlechtlichen Sittlichkeit tiefer stehen? War es eine Täuschung,
daß man dem Christentum versittlichende Kräfte zugeschrieben hat? Oder hat
man vielleicht im Namen des Christentums sittliche Forderungen erhoben, die
unerfüllbar und deshalb unwirksam waren, sodaß nicht einmal das Erfüllbare
geleistet wurde, was im Heidentum und im Judentum gefordert und vielfach
auch erreicht worden ist? Oder liegt es an sozialen Verhältnissen? Oder hat
man ganz allgemein die Aufgaben des Christentums nicht verstanden? Christus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221825"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Sittlichkeit auf dein Lande</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_559" prev="#ID_558"> dieser manche Besonderheiten hat, sich z. B. von den benachbarten Nieder¬<lb/>
sachsen durch große Weichheit unterscheidet, so glauben wir doch sein Werk<lb/>
höher schätzen zu müssen als selbst die bekannten klassischen Arbeiten Nichts.<lb/>
(Der ungenannte, aber nicht unbekannte Verfasser, Dr. Hermann Gebhardt,<lb/>
Pfarrer in Molschleben, hat noch andre hübsche Sachen herausgegeben, wie<lb/>
Aus der Geschichte des Dorfes Molschleben.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_560" next="#ID_561"> Wagner und Wittenberg haben in aller Unschuld eine Stelle unsers Ge¬<lb/>
sellschaftszustandes angebohrt, an der die schwierigsten und für die maßgebenden<lb/>
Kreise peinlichsten Fragen hervorquellen, die nun aber, nachdem sie einmal<lb/>
gestellt worden sind, gebieterisch Antwort fordern werden. Mit Proben aus<lb/>
dem aufgehäuften Thatsachenmaterial verschonen wir unsre Leser und beschränken<lb/>
uns auf die Mitteilung des Hauptergebnisses. Ideal sind die Zustände nirgends.<lb/>
In den meisten Gegenden steht es schlimm, in mehreren großen Landschaften<lb/>
sehr schlimm; die Leute leben &#x201E;wie das liebe Vieh," mit dem selbstverständ¬<lb/>
lichen Unterschiede, den ein boshafter Franzose für den einzigen Unterschied<lb/>
zwischen Mensch und Vieh halten will, daß auch diesem biedern Landvolke die<lb/>
Gabe verliehen ist, (Ah doirs sins soll et) av Kure 1'g.near su tout temps.<lb/>
Und nun bedenke man, daß das Leute sind, die niemals weder die &#x201E;lieder¬<lb/>
lichen" alten Heiden noch französische Romane gelesen haben, die ganz unbe¬<lb/>
rührt leben vom alten wie vom neuen Heidentum, von der Kunst wie von<lb/>
der bösen modernen Wissenschaft, bei denen es nicht einmal Sozialdemokraten<lb/>
giebt, und bei denen es trotzdem, wenigstens was das ledige junge Volk<lb/>
betrifft, &#x201E;immer so gewesen ist" wie heute, d. h. immer ungefähr so zugegangen<lb/>
ist, wie es nach Gregorovius im sozialistischen Zukunftsstaate zugehen soll;<lb/>
mau bedenke, daß diese Bevölkerungen niemals einen andern Einfluß erfahren<lb/>
haben, als den des Pastors, des Lehrers, des Gutsherrn, der Dorfobrigkeit,<lb/>
des Landrath und höchstens noch der Kaserne, und man bedenke schließlich,<lb/>
daß in den meisten dieser Landschaften die Kirchlichkeit wenig zu wünschen<lb/>
übrig läßt, und daß sie in einigen der Gegenden, wo die Sittlichkeit am tiefsten<lb/>
stehst, musterhaft ist. Da drängt sich denn eine Reihe ganz unabweisbarer<lb/>
Fragen auf. Daß nicht allein die heidnischen Germanen, sondern auch die<lb/>
Griechen der homerischen Zeit und die Römer vor den punischen Kriegen weit<lb/>
keuscher gewesen sind, steht fest. Woran liegt es nun, daß Bevölkerungen,<lb/>
die seit Jahrhunderten, zum Teil seit länger als einem Jahrtausend, christlich<lb/>
sind, in der geschlechtlichen Sittlichkeit tiefer stehen? War es eine Täuschung,<lb/>
daß man dem Christentum versittlichende Kräfte zugeschrieben hat? Oder hat<lb/>
man vielleicht im Namen des Christentums sittliche Forderungen erhoben, die<lb/>
unerfüllbar und deshalb unwirksam waren, sodaß nicht einmal das Erfüllbare<lb/>
geleistet wurde, was im Heidentum und im Judentum gefordert und vielfach<lb/>
auch erreicht worden ist? Oder liegt es an sozialen Verhältnissen? Oder hat<lb/>
man ganz allgemein die Aufgaben des Christentums nicht verstanden? Christus</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Die Sittlichkeit auf dein Lande dieser manche Besonderheiten hat, sich z. B. von den benachbarten Nieder¬ sachsen durch große Weichheit unterscheidet, so glauben wir doch sein Werk höher schätzen zu müssen als selbst die bekannten klassischen Arbeiten Nichts. (Der ungenannte, aber nicht unbekannte Verfasser, Dr. Hermann Gebhardt, Pfarrer in Molschleben, hat noch andre hübsche Sachen herausgegeben, wie Aus der Geschichte des Dorfes Molschleben.) Wagner und Wittenberg haben in aller Unschuld eine Stelle unsers Ge¬ sellschaftszustandes angebohrt, an der die schwierigsten und für die maßgebenden Kreise peinlichsten Fragen hervorquellen, die nun aber, nachdem sie einmal gestellt worden sind, gebieterisch Antwort fordern werden. Mit Proben aus dem aufgehäuften Thatsachenmaterial verschonen wir unsre Leser und beschränken uns auf die Mitteilung des Hauptergebnisses. Ideal sind die Zustände nirgends. In den meisten Gegenden steht es schlimm, in mehreren großen Landschaften sehr schlimm; die Leute leben „wie das liebe Vieh," mit dem selbstverständ¬ lichen Unterschiede, den ein boshafter Franzose für den einzigen Unterschied zwischen Mensch und Vieh halten will, daß auch diesem biedern Landvolke die Gabe verliehen ist, (Ah doirs sins soll et) av Kure 1'g.near su tout temps. Und nun bedenke man, daß das Leute sind, die niemals weder die „lieder¬ lichen" alten Heiden noch französische Romane gelesen haben, die ganz unbe¬ rührt leben vom alten wie vom neuen Heidentum, von der Kunst wie von der bösen modernen Wissenschaft, bei denen es nicht einmal Sozialdemokraten giebt, und bei denen es trotzdem, wenigstens was das ledige junge Volk betrifft, „immer so gewesen ist" wie heute, d. h. immer ungefähr so zugegangen ist, wie es nach Gregorovius im sozialistischen Zukunftsstaate zugehen soll; mau bedenke, daß diese Bevölkerungen niemals einen andern Einfluß erfahren haben, als den des Pastors, des Lehrers, des Gutsherrn, der Dorfobrigkeit, des Landrath und höchstens noch der Kaserne, und man bedenke schließlich, daß in den meisten dieser Landschaften die Kirchlichkeit wenig zu wünschen übrig läßt, und daß sie in einigen der Gegenden, wo die Sittlichkeit am tiefsten stehst, musterhaft ist. Da drängt sich denn eine Reihe ganz unabweisbarer Fragen auf. Daß nicht allein die heidnischen Germanen, sondern auch die Griechen der homerischen Zeit und die Römer vor den punischen Kriegen weit keuscher gewesen sind, steht fest. Woran liegt es nun, daß Bevölkerungen, die seit Jahrhunderten, zum Teil seit länger als einem Jahrtausend, christlich sind, in der geschlechtlichen Sittlichkeit tiefer stehen? War es eine Täuschung, daß man dem Christentum versittlichende Kräfte zugeschrieben hat? Oder hat man vielleicht im Namen des Christentums sittliche Forderungen erhoben, die unerfüllbar und deshalb unwirksam waren, sodaß nicht einmal das Erfüllbare geleistet wurde, was im Heidentum und im Judentum gefordert und vielfach auch erreicht worden ist? Oder liegt es an sozialen Verhältnissen? Oder hat man ganz allgemein die Aufgaben des Christentums nicht verstanden? Christus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/179>, abgerufen am 29.11.2024.