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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Landtagswahlrecht in Sachsen

es die Sozialdemokratie zur Mehrheit in der Kammer bringen werde. Es
liegt ans der Hand, daß diese Befürchtung thöricht ist -- solange wenigstens
die Kammerpolitik nicht die Mehrheit auch der bürgerlichen Bevölkerung mit
aller Gewalt an die Seite der Sozialdemokratie gedrängt haben wird. Denn
die 45 ländlichen werden die 37 städtischen Wahlbezirke auf absehbare Zeit
immer niederzuhalten imstande sein. Zwar sind einige ländliche Bezirke bereits
so stark von der Industrie durchsetzt, daß vier von ihnen an die Sozial-
demvkrntie verloren gegangen sind. Dafür ist aber wieder eine ganze An¬
zahl kleiner Landstädte durchaus vor sozialdemokratischen Mehrheiten sicher.
Wenn aber selbst das Schreckliche geschähe, daß eine solche Mehrheit in das
Dresdner Landhaus einzöge, so ist doch gar nicht daran zu denken, daß die
feudale erste Kammer jemals zu sozialdemokratischen Gesetzesvorschlägen ihre
Zustimmung gebe. Nicht einmal eine Budgetverweigerung wäre zu befürchten,
da hierzu eine Zweidrittelmehrheit in einer der beiden Kammern nötig ist.
Und selbst wenn auch die erste Kammer zur Schwäche neigen sollte, so gehört
doch zum Zustandekommen von Gesetzen endlich noch die Zustimmung der
Krone, die als lebenskräftige Macht auch in Sachsen in voller Geltung steht.

Was fürchtet man also eigentlich? Antwort: den Umsturz der sächsischen
Staats- und Gesellschaftsordnung. Weshalb? Weil die Sozialdemokratie ein
Bierteil, ja vielleicht ein Dritten der Kanunersitze erobern wird. Und dann?
Dann werden wir sie nicht länger von den Deputationen fernhalten können.
So laßt sie doch herein! Ja, dort werden sie doch nur Skandal machen. Aber
ihr habt es ja noch gar nicht versucht! Das werden wir auch schön bleiben
lassen. Habt ihr denn in den Deputationen Dinge zu verbergen, die das Licht
zu scheuen haben? Nein, aber das machen wir lieber unter uns ab. Aber
wenn es so bequemer ist, ist es auch klug und gerecht? Thut nichts, der Jude
wird verbrannt. Sind denn nicht die sozialdemokratischen Abgeordneten gerade
so gut von sächsischen Wählern in die Kammer gesendet worden wie ihr? Thut
nichts, der Jude wird verbraunt. Fürchtet ihr denn nicht, es könnte euch eines
Tages einmal Gleiches mit Gleichem vergolten werden? Thut nichts, g-vrös
nous is clöluFv! So ungefähr lauten die Gründe, mit denen man den kürzlich
gefaßten Beschluß der konservativen, nationalliberalen und fortschrittlichen
Kammermehrheit verteidigen hört, durch den die Regierung aufgefordert worden
ist, ein neues, auf dem Dreiklassensystem und auf indirekten Wahlen auf¬
gebautes Wahlgesetz vorzulegen.

Das jetzt geltende Wahlrecht kennt leine Klassenwahl, beruht auf direkten
Wahlen und verlangt vom Wahlberechtigten nichts weiter, als den Besitz eines
mit Wohnsitz versehenen Grundstücks oder einen Steuerzensus von mindestens
drei Mark, was einen: Jahreseinkommen von über 600 Mark gleichkommt.
Es ist seit dem Jahre 1868 unverändert in Geltung, und es wird nicht viel
öffentlich-rechtliche Gesetze geben, die einen Zeitraum von 22 Jahren hindurch


Das Landtagswahlrecht in Sachsen

es die Sozialdemokratie zur Mehrheit in der Kammer bringen werde. Es
liegt ans der Hand, daß diese Befürchtung thöricht ist — solange wenigstens
die Kammerpolitik nicht die Mehrheit auch der bürgerlichen Bevölkerung mit
aller Gewalt an die Seite der Sozialdemokratie gedrängt haben wird. Denn
die 45 ländlichen werden die 37 städtischen Wahlbezirke auf absehbare Zeit
immer niederzuhalten imstande sein. Zwar sind einige ländliche Bezirke bereits
so stark von der Industrie durchsetzt, daß vier von ihnen an die Sozial-
demvkrntie verloren gegangen sind. Dafür ist aber wieder eine ganze An¬
zahl kleiner Landstädte durchaus vor sozialdemokratischen Mehrheiten sicher.
Wenn aber selbst das Schreckliche geschähe, daß eine solche Mehrheit in das
Dresdner Landhaus einzöge, so ist doch gar nicht daran zu denken, daß die
feudale erste Kammer jemals zu sozialdemokratischen Gesetzesvorschlägen ihre
Zustimmung gebe. Nicht einmal eine Budgetverweigerung wäre zu befürchten,
da hierzu eine Zweidrittelmehrheit in einer der beiden Kammern nötig ist.
Und selbst wenn auch die erste Kammer zur Schwäche neigen sollte, so gehört
doch zum Zustandekommen von Gesetzen endlich noch die Zustimmung der
Krone, die als lebenskräftige Macht auch in Sachsen in voller Geltung steht.

Was fürchtet man also eigentlich? Antwort: den Umsturz der sächsischen
Staats- und Gesellschaftsordnung. Weshalb? Weil die Sozialdemokratie ein
Bierteil, ja vielleicht ein Dritten der Kanunersitze erobern wird. Und dann?
Dann werden wir sie nicht länger von den Deputationen fernhalten können.
So laßt sie doch herein! Ja, dort werden sie doch nur Skandal machen. Aber
ihr habt es ja noch gar nicht versucht! Das werden wir auch schön bleiben
lassen. Habt ihr denn in den Deputationen Dinge zu verbergen, die das Licht
zu scheuen haben? Nein, aber das machen wir lieber unter uns ab. Aber
wenn es so bequemer ist, ist es auch klug und gerecht? Thut nichts, der Jude
wird verbrannt. Sind denn nicht die sozialdemokratischen Abgeordneten gerade
so gut von sächsischen Wählern in die Kammer gesendet worden wie ihr? Thut
nichts, der Jude wird verbraunt. Fürchtet ihr denn nicht, es könnte euch eines
Tages einmal Gleiches mit Gleichem vergolten werden? Thut nichts, g-vrös
nous is clöluFv! So ungefähr lauten die Gründe, mit denen man den kürzlich
gefaßten Beschluß der konservativen, nationalliberalen und fortschrittlichen
Kammermehrheit verteidigen hört, durch den die Regierung aufgefordert worden
ist, ein neues, auf dem Dreiklassensystem und auf indirekten Wahlen auf¬
gebautes Wahlgesetz vorzulegen.

Das jetzt geltende Wahlrecht kennt leine Klassenwahl, beruht auf direkten
Wahlen und verlangt vom Wahlberechtigten nichts weiter, als den Besitz eines
mit Wohnsitz versehenen Grundstücks oder einen Steuerzensus von mindestens
drei Mark, was einen: Jahreseinkommen von über 600 Mark gleichkommt.
Es ist seit dem Jahre 1868 unverändert in Geltung, und es wird nicht viel
öffentlich-rechtliche Gesetze geben, die einen Zeitraum von 22 Jahren hindurch


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[0138] Das Landtagswahlrecht in Sachsen es die Sozialdemokratie zur Mehrheit in der Kammer bringen werde. Es liegt ans der Hand, daß diese Befürchtung thöricht ist — solange wenigstens die Kammerpolitik nicht die Mehrheit auch der bürgerlichen Bevölkerung mit aller Gewalt an die Seite der Sozialdemokratie gedrängt haben wird. Denn die 45 ländlichen werden die 37 städtischen Wahlbezirke auf absehbare Zeit immer niederzuhalten imstande sein. Zwar sind einige ländliche Bezirke bereits so stark von der Industrie durchsetzt, daß vier von ihnen an die Sozial- demvkrntie verloren gegangen sind. Dafür ist aber wieder eine ganze An¬ zahl kleiner Landstädte durchaus vor sozialdemokratischen Mehrheiten sicher. Wenn aber selbst das Schreckliche geschähe, daß eine solche Mehrheit in das Dresdner Landhaus einzöge, so ist doch gar nicht daran zu denken, daß die feudale erste Kammer jemals zu sozialdemokratischen Gesetzesvorschlägen ihre Zustimmung gebe. Nicht einmal eine Budgetverweigerung wäre zu befürchten, da hierzu eine Zweidrittelmehrheit in einer der beiden Kammern nötig ist. Und selbst wenn auch die erste Kammer zur Schwäche neigen sollte, so gehört doch zum Zustandekommen von Gesetzen endlich noch die Zustimmung der Krone, die als lebenskräftige Macht auch in Sachsen in voller Geltung steht. Was fürchtet man also eigentlich? Antwort: den Umsturz der sächsischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Weshalb? Weil die Sozialdemokratie ein Bierteil, ja vielleicht ein Dritten der Kanunersitze erobern wird. Und dann? Dann werden wir sie nicht länger von den Deputationen fernhalten können. So laßt sie doch herein! Ja, dort werden sie doch nur Skandal machen. Aber ihr habt es ja noch gar nicht versucht! Das werden wir auch schön bleiben lassen. Habt ihr denn in den Deputationen Dinge zu verbergen, die das Licht zu scheuen haben? Nein, aber das machen wir lieber unter uns ab. Aber wenn es so bequemer ist, ist es auch klug und gerecht? Thut nichts, der Jude wird verbrannt. Sind denn nicht die sozialdemokratischen Abgeordneten gerade so gut von sächsischen Wählern in die Kammer gesendet worden wie ihr? Thut nichts, der Jude wird verbraunt. Fürchtet ihr denn nicht, es könnte euch eines Tages einmal Gleiches mit Gleichem vergolten werden? Thut nichts, g-vrös nous is clöluFv! So ungefähr lauten die Gründe, mit denen man den kürzlich gefaßten Beschluß der konservativen, nationalliberalen und fortschrittlichen Kammermehrheit verteidigen hört, durch den die Regierung aufgefordert worden ist, ein neues, auf dem Dreiklassensystem und auf indirekten Wahlen auf¬ gebautes Wahlgesetz vorzulegen. Das jetzt geltende Wahlrecht kennt leine Klassenwahl, beruht auf direkten Wahlen und verlangt vom Wahlberechtigten nichts weiter, als den Besitz eines mit Wohnsitz versehenen Grundstücks oder einen Steuerzensus von mindestens drei Mark, was einen: Jahreseinkommen von über 600 Mark gleichkommt. Es ist seit dem Jahre 1868 unverändert in Geltung, und es wird nicht viel öffentlich-rechtliche Gesetze geben, die einen Zeitraum von 22 Jahren hindurch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/138>, abgerufen am 01.09.2024.