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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Entwurf zu einem bürgerlichen Gesetzbuch vor dein Reichstage

heit der Bevölkerung "och fremd sind. Aber solche Reformen sind, wie das
Beispiel Josephs II. beweist, anch in absolut regierten Staaten schwer durch¬
zuführen und verfehlen oft ihren Zweck. Jedenfalls liegen bei uns die
Verhältnisse keineswegs so, daß eine radikale Reform bei Gelegenheit der
Einführung eines bürgerlichen Gesetzbuchs durchführbar oder auch nur wünschens¬
wert wäre. Im einzelnen konnte dem ersten Entwurf der Vorwurf gemacht
werden, daß er manchmal zu sehr an dem starren Recht festhalte und den
Schutz des wirtschaftlich Schwachen gegen Übervorteilung und Ausbeutung,
sowie die Anforderungen der Billigkeit zu wenig berücksichtige. Auch in dieser
Beziehung hat aber die zweite Kommission "och vieles gebessert. Wie von
andrer Seite richtig bemerkt worden ist, laßt der Entwurf neben dem strengen
Recht in weitem Umfange auch für Anwendung der Billigkeit Raum und wird
jetzt den gesteigerten Ansprüchen der Gegenwart ans Schutz des wirtschaftlich
Schwache" in höherm Grade gerecht, als irgend ein andres europäisches Gesetz¬
buch. Im Vergleich mit dein bisherigen Rechtszustande ist dabei vielfach ein
großer Fortschritt gemacht worden. Weitere Verbesserungen aber werden sich
viel leichter einführen lassen, wenn erst ein einheitliches Gesetzbuch vorliegt,
als bei dem Zustande der jetzigen Zersplitterung des Rechts. Die Einzel¬
staaten können auf diesem Gebiete wenig thun, und das Reich kann nicht
seine Thätigkeit darauf richte", das Landesrecht bald da bald dort in einzelnen
Punkten abzuändern. Durch das Verlangen nach einem Aufschub auf unbe¬
stimmte Zeit würde wegen der Ungewißheit über die künftigen Verhältnisse
das Werk in hohem Grade gefährdet werden. Außerdem würde die notwen¬
dige Beseitigung von Mängeln ans dem Gebiete des Handelsrechts und Proze߬
rechts mindestens sehr hinausgeschoben werden; denn das bürgerliche Gesetz¬
buch macht eine Revision des Handelsgesetzbuchs, der Zivilprozeßordnung und
der Konkursordnung erforderlich, eine zweimalige Umarbeitung dieser Gesetz¬
bücher in einem kurzen Zeitraum ist aber nicht wünschenswert.

Daß viele Freunde der Rechtseinheit einen Aufschub mit Rücksicht auf
die "soziale Reform" wünschen, läßt sich nur dadurch erklären, daß in späterer
Zeit sür soziale Bestrebungen eine bessere Stimmung oder eine günstigere
politische Situation erwartet wird. Aber bei eiuer solchen Zukunftspolitik
könnte nun nie zu einem bürgerlichen Gesetzbuch gelangen. Die politische und
soziale Entwicklung steht niemals still, sondern schreitet immer fort. Auch
nach Jahrzehnten könnte mit demselben Recht wie jetzt die Forderung erhoben
werden, mit Rücksicht auf die in Zukunft zu erwartenden Änderungen der
politischen Lage oder der öffentlichen Meinung die Einführung des bürger¬
lichen Gesetzbuchs noch zu verschiebe". Wer das thut, gleicht dem Manne,
der am Ufer eines Flusses sitzt und wartet, bis alles Wasser abgelaufen sein
wird. Ein Entwurf, der unsern jetzigen Verhältnissen entspricht, und mit dem
sich auch die Regierungen einverstanden erklären, liegt vor; der Reichstag


Der Entwurf zu einem bürgerlichen Gesetzbuch vor dein Reichstage

heit der Bevölkerung »och fremd sind. Aber solche Reformen sind, wie das
Beispiel Josephs II. beweist, anch in absolut regierten Staaten schwer durch¬
zuführen und verfehlen oft ihren Zweck. Jedenfalls liegen bei uns die
Verhältnisse keineswegs so, daß eine radikale Reform bei Gelegenheit der
Einführung eines bürgerlichen Gesetzbuchs durchführbar oder auch nur wünschens¬
wert wäre. Im einzelnen konnte dem ersten Entwurf der Vorwurf gemacht
werden, daß er manchmal zu sehr an dem starren Recht festhalte und den
Schutz des wirtschaftlich Schwachen gegen Übervorteilung und Ausbeutung,
sowie die Anforderungen der Billigkeit zu wenig berücksichtige. Auch in dieser
Beziehung hat aber die zweite Kommission »och vieles gebessert. Wie von
andrer Seite richtig bemerkt worden ist, laßt der Entwurf neben dem strengen
Recht in weitem Umfange auch für Anwendung der Billigkeit Raum und wird
jetzt den gesteigerten Ansprüchen der Gegenwart ans Schutz des wirtschaftlich
Schwache» in höherm Grade gerecht, als irgend ein andres europäisches Gesetz¬
buch. Im Vergleich mit dein bisherigen Rechtszustande ist dabei vielfach ein
großer Fortschritt gemacht worden. Weitere Verbesserungen aber werden sich
viel leichter einführen lassen, wenn erst ein einheitliches Gesetzbuch vorliegt,
als bei dem Zustande der jetzigen Zersplitterung des Rechts. Die Einzel¬
staaten können auf diesem Gebiete wenig thun, und das Reich kann nicht
seine Thätigkeit darauf richte», das Landesrecht bald da bald dort in einzelnen
Punkten abzuändern. Durch das Verlangen nach einem Aufschub auf unbe¬
stimmte Zeit würde wegen der Ungewißheit über die künftigen Verhältnisse
das Werk in hohem Grade gefährdet werden. Außerdem würde die notwen¬
dige Beseitigung von Mängeln ans dem Gebiete des Handelsrechts und Proze߬
rechts mindestens sehr hinausgeschoben werden; denn das bürgerliche Gesetz¬
buch macht eine Revision des Handelsgesetzbuchs, der Zivilprozeßordnung und
der Konkursordnung erforderlich, eine zweimalige Umarbeitung dieser Gesetz¬
bücher in einem kurzen Zeitraum ist aber nicht wünschenswert.

Daß viele Freunde der Rechtseinheit einen Aufschub mit Rücksicht auf
die „soziale Reform" wünschen, läßt sich nur dadurch erklären, daß in späterer
Zeit sür soziale Bestrebungen eine bessere Stimmung oder eine günstigere
politische Situation erwartet wird. Aber bei eiuer solchen Zukunftspolitik
könnte nun nie zu einem bürgerlichen Gesetzbuch gelangen. Die politische und
soziale Entwicklung steht niemals still, sondern schreitet immer fort. Auch
nach Jahrzehnten könnte mit demselben Recht wie jetzt die Forderung erhoben
werden, mit Rücksicht auf die in Zukunft zu erwartenden Änderungen der
politischen Lage oder der öffentlichen Meinung die Einführung des bürger¬
lichen Gesetzbuchs noch zu verschiebe». Wer das thut, gleicht dem Manne,
der am Ufer eines Flusses sitzt und wartet, bis alles Wasser abgelaufen sein
wird. Ein Entwurf, der unsern jetzigen Verhältnissen entspricht, und mit dem
sich auch die Regierungen einverstanden erklären, liegt vor; der Reichstag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/132>, abgerufen am 01.09.2024.