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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Wanderungen der ländlichen Bevölkerung in Preußen

dem Bauer zu dem Bauerntrotz und dem Bauernstarrsiun ausgebildet, dem
Charakterzüge, der ihn zu einem wirtschaftlich wie politisch so wertvollen, aber
auch schwer zu verstehenden und schwer zu behandelnden Menschen gemacht
hat. Beim Landarbeiter entsteht dieses Streben, dieses Gefühl des Wertes
der eignen Persönlichkeit erst jetzt, aber es stellt denselben Fortschritt in der
geistigen und Kulturentwicklung des ländlichen Arbeiters dar, wie ihn die
letzten drei Menschenalter für den Bauer herbeigeführt haben. Es hängt zu¬
sammen mit den: Übergang von der Naturallöhnung zum Geldlohne.

Es ist in letzter Zeit viel darüber geschrieben worden, daß gerade dieser
Übergang zum Geldlohne die Hauptschuld an den Schwierigkeiten trage, die
in Deutschland und Preußen unter der Bezeichnung: ländliche Arbeiterfrage
zusammengefaßt werden. Man hat ausgeführt -- und es ist das von hervor¬
ragenden Kennern unsrer ländlichen Arbeiterverhältnisse geschehen --, daß früher
bei der Naturallöhnung den Gutsbesitzer und seine Arbeiter gleiche Interessen
verbunden hätten, sür beide hohe Getreide- und Viehpreise wünschenswert gewesen
seien; heute bei der immer mehr zunehmenden Geldlöhnung müsse der Arbeiter
gleich dem städtischen Proletarier niedrige Preise für die Erzeugnisse der Land¬
wirtschaft fordern, da er, wie der Städter, nur Konsument sei. Mögen diese
Ausführungen über die frühere Harmonie und den jetzigen Gegensatz der
Interessen richtig sein oder nicht, darin stimmen doch alle Beobachter überein,
daß das ganz allgemeine Verlangen der ländlichen Arbeiter jetzt auf die Ein¬
führung des Geldlvhnes hindrängt. Solchem allgemeinen Verlangen einer
ganzen Bevölkerungsschicht kann auf die Dauer nicht widerstrebt werden.
Aber der Übergang ist ebenso mit mannigfachen Schwierigkeiten und wirtschaft¬
lichen Nachteilen verknüpft, wie das seinerzeit bei der Bauernbefreiung der
Fall war. Hier liegt eine weitere Hnuptursache des Abwanderus der länd¬
lichen Arbeiter. Die Industrie bietet höhere Löhne, die Stadt gewährt die
größere Möglichkeit, sich sein Leben nach seinem persönlichen Belieben ein¬
zurichten, und so ziehen denn jahraus jcchreiu Scharen gerade der kräftigsten
und arbeitstüchtigsten Leute von Lande hinweg, vermehren das städtische
Proletariat und entblößen das platte Land von Menschen und Arbeitskräfte".

Gewiß sind das schwere und ernste Folgen, die die soziale Entwicklung
der Landbevölkerung mit sich bringt, aber wir wollen deshalb doch nicht die
energische geistige Bewegung verkennen, die sich in dieser sozialen Erscheinung
bemerklich macht. Ich gebe zu, daß die große Mehrzahl der Landarbeiter, die
zur Stadt und in die Industrie geht, nur größeres Wohlleben, mehr Vergnügen,
mehr Abwechslung erstrebt, als sie das eintönige Leben im Dorf und auf dem
Gute zu bieten vermag. Ebenso wahr ist es, daß vielleicht ein Hauptreiz der
Sachsengängerei darin besteht, daß die nicht unbeträchtlichen Geldsummen, die
der Arbeiter am Schluß seiner Arbeit übrig behält, ihm die Möglichkeit geben,
während des Winters zu feiern. Immer sind es nur wenige, die den Fort-


Die Wanderungen der ländlichen Bevölkerung in Preußen

dem Bauer zu dem Bauerntrotz und dem Bauernstarrsiun ausgebildet, dem
Charakterzüge, der ihn zu einem wirtschaftlich wie politisch so wertvollen, aber
auch schwer zu verstehenden und schwer zu behandelnden Menschen gemacht
hat. Beim Landarbeiter entsteht dieses Streben, dieses Gefühl des Wertes
der eignen Persönlichkeit erst jetzt, aber es stellt denselben Fortschritt in der
geistigen und Kulturentwicklung des ländlichen Arbeiters dar, wie ihn die
letzten drei Menschenalter für den Bauer herbeigeführt haben. Es hängt zu¬
sammen mit den: Übergang von der Naturallöhnung zum Geldlohne.

Es ist in letzter Zeit viel darüber geschrieben worden, daß gerade dieser
Übergang zum Geldlohne die Hauptschuld an den Schwierigkeiten trage, die
in Deutschland und Preußen unter der Bezeichnung: ländliche Arbeiterfrage
zusammengefaßt werden. Man hat ausgeführt — und es ist das von hervor¬
ragenden Kennern unsrer ländlichen Arbeiterverhältnisse geschehen —, daß früher
bei der Naturallöhnung den Gutsbesitzer und seine Arbeiter gleiche Interessen
verbunden hätten, sür beide hohe Getreide- und Viehpreise wünschenswert gewesen
seien; heute bei der immer mehr zunehmenden Geldlöhnung müsse der Arbeiter
gleich dem städtischen Proletarier niedrige Preise für die Erzeugnisse der Land¬
wirtschaft fordern, da er, wie der Städter, nur Konsument sei. Mögen diese
Ausführungen über die frühere Harmonie und den jetzigen Gegensatz der
Interessen richtig sein oder nicht, darin stimmen doch alle Beobachter überein,
daß das ganz allgemeine Verlangen der ländlichen Arbeiter jetzt auf die Ein¬
führung des Geldlvhnes hindrängt. Solchem allgemeinen Verlangen einer
ganzen Bevölkerungsschicht kann auf die Dauer nicht widerstrebt werden.
Aber der Übergang ist ebenso mit mannigfachen Schwierigkeiten und wirtschaft¬
lichen Nachteilen verknüpft, wie das seinerzeit bei der Bauernbefreiung der
Fall war. Hier liegt eine weitere Hnuptursache des Abwanderus der länd¬
lichen Arbeiter. Die Industrie bietet höhere Löhne, die Stadt gewährt die
größere Möglichkeit, sich sein Leben nach seinem persönlichen Belieben ein¬
zurichten, und so ziehen denn jahraus jcchreiu Scharen gerade der kräftigsten
und arbeitstüchtigsten Leute von Lande hinweg, vermehren das städtische
Proletariat und entblößen das platte Land von Menschen und Arbeitskräfte».

Gewiß sind das schwere und ernste Folgen, die die soziale Entwicklung
der Landbevölkerung mit sich bringt, aber wir wollen deshalb doch nicht die
energische geistige Bewegung verkennen, die sich in dieser sozialen Erscheinung
bemerklich macht. Ich gebe zu, daß die große Mehrzahl der Landarbeiter, die
zur Stadt und in die Industrie geht, nur größeres Wohlleben, mehr Vergnügen,
mehr Abwechslung erstrebt, als sie das eintönige Leben im Dorf und auf dem
Gute zu bieten vermag. Ebenso wahr ist es, daß vielleicht ein Hauptreiz der
Sachsengängerei darin besteht, daß die nicht unbeträchtlichen Geldsummen, die
der Arbeiter am Schluß seiner Arbeit übrig behält, ihm die Möglichkeit geben,
während des Winters zu feiern. Immer sind es nur wenige, die den Fort-


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[0077] Die Wanderungen der ländlichen Bevölkerung in Preußen dem Bauer zu dem Bauerntrotz und dem Bauernstarrsiun ausgebildet, dem Charakterzüge, der ihn zu einem wirtschaftlich wie politisch so wertvollen, aber auch schwer zu verstehenden und schwer zu behandelnden Menschen gemacht hat. Beim Landarbeiter entsteht dieses Streben, dieses Gefühl des Wertes der eignen Persönlichkeit erst jetzt, aber es stellt denselben Fortschritt in der geistigen und Kulturentwicklung des ländlichen Arbeiters dar, wie ihn die letzten drei Menschenalter für den Bauer herbeigeführt haben. Es hängt zu¬ sammen mit den: Übergang von der Naturallöhnung zum Geldlohne. Es ist in letzter Zeit viel darüber geschrieben worden, daß gerade dieser Übergang zum Geldlohne die Hauptschuld an den Schwierigkeiten trage, die in Deutschland und Preußen unter der Bezeichnung: ländliche Arbeiterfrage zusammengefaßt werden. Man hat ausgeführt — und es ist das von hervor¬ ragenden Kennern unsrer ländlichen Arbeiterverhältnisse geschehen —, daß früher bei der Naturallöhnung den Gutsbesitzer und seine Arbeiter gleiche Interessen verbunden hätten, sür beide hohe Getreide- und Viehpreise wünschenswert gewesen seien; heute bei der immer mehr zunehmenden Geldlöhnung müsse der Arbeiter gleich dem städtischen Proletarier niedrige Preise für die Erzeugnisse der Land¬ wirtschaft fordern, da er, wie der Städter, nur Konsument sei. Mögen diese Ausführungen über die frühere Harmonie und den jetzigen Gegensatz der Interessen richtig sein oder nicht, darin stimmen doch alle Beobachter überein, daß das ganz allgemeine Verlangen der ländlichen Arbeiter jetzt auf die Ein¬ führung des Geldlvhnes hindrängt. Solchem allgemeinen Verlangen einer ganzen Bevölkerungsschicht kann auf die Dauer nicht widerstrebt werden. Aber der Übergang ist ebenso mit mannigfachen Schwierigkeiten und wirtschaft¬ lichen Nachteilen verknüpft, wie das seinerzeit bei der Bauernbefreiung der Fall war. Hier liegt eine weitere Hnuptursache des Abwanderus der länd¬ lichen Arbeiter. Die Industrie bietet höhere Löhne, die Stadt gewährt die größere Möglichkeit, sich sein Leben nach seinem persönlichen Belieben ein¬ zurichten, und so ziehen denn jahraus jcchreiu Scharen gerade der kräftigsten und arbeitstüchtigsten Leute von Lande hinweg, vermehren das städtische Proletariat und entblößen das platte Land von Menschen und Arbeitskräfte». Gewiß sind das schwere und ernste Folgen, die die soziale Entwicklung der Landbevölkerung mit sich bringt, aber wir wollen deshalb doch nicht die energische geistige Bewegung verkennen, die sich in dieser sozialen Erscheinung bemerklich macht. Ich gebe zu, daß die große Mehrzahl der Landarbeiter, die zur Stadt und in die Industrie geht, nur größeres Wohlleben, mehr Vergnügen, mehr Abwechslung erstrebt, als sie das eintönige Leben im Dorf und auf dem Gute zu bieten vermag. Ebenso wahr ist es, daß vielleicht ein Hauptreiz der Sachsengängerei darin besteht, daß die nicht unbeträchtlichen Geldsummen, die der Arbeiter am Schluß seiner Arbeit übrig behält, ihm die Möglichkeit geben, während des Winters zu feiern. Immer sind es nur wenige, die den Fort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/77>, abgerufen am 24.07.2024.