Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.Dardanellen und Nil auch das Bedenkliche, daß sie immer weitere Gebiete umfassen, energischer ein¬ An dem Ernst der türkischen Regierung, Kleinasien wirtschaftlich zu heben, Für den Rückgang der Volkszahl der Türken liegen zahlreiche Beweise vor. Die
Polygamie und die Lockerheit der leicht zu scheidenden Ehen sind dafür nicht allein verant¬ wortlich zu machen. Man muß auch an den Militärdienst denken, der auf den Türken niedern Dardanellen und Nil auch das Bedenkliche, daß sie immer weitere Gebiete umfassen, energischer ein¬ An dem Ernst der türkischen Regierung, Kleinasien wirtschaftlich zu heben, Für den Rückgang der Volkszahl der Türken liegen zahlreiche Beweise vor. Die
Polygamie und die Lockerheit der leicht zu scheidenden Ehen sind dafür nicht allein verant¬ wortlich zu machen. Man muß auch an den Militärdienst denken, der auf den Türken niedern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221495"/> <fw type="header" place="top"> Dardanellen und Nil</fw><lb/> <p xml:id="ID_1707" prev="#ID_1706"> auch das Bedenkliche, daß sie immer weitere Gebiete umfassen, energischer ein¬<lb/> greifen und länger dauern müßte. Die christlichen Schulen haben in Kleinasten<lb/> und Syrien unglaublich zugenommen, unterstützt durch Millionen europäischer<lb/> und nordamerikanischer Almosen, die als unentgeltlicher Unterricht, Waren und<lb/> bares Geld ins Land fließen. Die eingebornen Christen sind gelehrig, es fehlt<lb/> ihnen weder an Fleiß noch an natürlicher Begabung. Sie wissen aber mit<lb/> ihren frisch erworbnen Kenntnissen wenig anzufangen. Als Christen finden<lb/> sie im Beamtenstande höchstens zu den untersten Stellen Zugang. Zum Ge¬<lb/> werbe oder Ackerbau zurückzukehren haben sie niemals Lust. So speisen sie<lb/> denn jenes Proletariat von Handelsbeflissenen, das von Jaffa bis Trapezunt<lb/> dem ehrlichen Handel, besonders der europäischen Häuser, das Leben sauer macht<lb/> und dieses ganze Gebiet in den Handelskreisen Europas geradezu in Verruf<lb/> gebracht hat. Besonders in Syrien giebt es genug einheimische Handelshäuser<lb/> von bestem Ruf und großer Geldkraft. Aber im allgemeinen hat der über¬<lb/> müßige Zudrang zum Handel eine Masse Schiffbrüchiger, Unzufriedner, Ver¬<lb/> dächtiger geschaffen, die natürlich eine immer größere Gefahr für die Beherrscher<lb/> des Landes geworden sind, übrigens in jeder politischen Erschütterung ihren<lb/> Vorteil sehen. Den Europäern stehen sie in der Masse gewiß nicht freund¬<lb/> licher gegenüber als die Muhammedaner, und besonders fürchten sie, daß deren<lb/> wirtschaftliche Fortschritte von aufgeklärten türkischen Beamten mehr begünstigt<lb/> werden, als für ihre eignen Geschäfte gut ist. Auch ist es ihnen kein Ge¬<lb/> heimnis, daß der Europäer als Mensch mehr Sympathien für den ehrlichen<lb/> Türken als den verschmitzten Armenier oder Griechen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1708" next="#ID_1709"> An dem Ernst der türkischen Regierung, Kleinasien wirtschaftlich zu heben,<lb/> kann man nicht zweifeln, wenn man die Fortschritte des Verkehrs in dem<lb/> vor einem Menschenalter praktisch noch fast ganz weglosen Lande betrachtet.<lb/> 5000 Kilometer Landstraßen sind gebaut, die Anlage von Eisenbahnen durch Aus¬<lb/> länder entschieden gefördert worden. Die deutsche Gesellschaft für die ancitolischen<lb/> Eisenbahnen Hütte ohne die Hilfe der Regierungsorgane nicht in der unglaublich<lb/> kurzen Zeit von wenig über drei Jahren die 498 Kilometer lange Linie Jsmid-<lb/> Angora bauen können. Aber in den politischen Dingen kann man die Fremden<lb/> nicht ebenso frei gewähren lassen, und der gute Wille des Sultans und einiger<lb/> Beamten hilft nichts. Die Christen, kirchlich und national so tief gespalten,<lb/> daß selbst in den heiligen Stätten Palästinas türkische Soldaten Frieden unter<lb/> ihnen halten müssen, werden in Jahrzehnten nicht imstande sein, sich selbst zu helfen.<lb/> Wird aber gerade der Sultan die Macht haben, Einrichtungen wie die gemischten<lb/> Gerichte oder die internationale Finanzkommission Ägyptens einzuführen? Die<lb/> Türken gehen an Zahl,*) Macht und Besitz zurück, ihre kriegerischen Eigen-</p><lb/> <note xml:id="FID_72" place="foot" next="#FID_73"> Für den Rückgang der Volkszahl der Türken liegen zahlreiche Beweise vor. Die<lb/> Polygamie und die Lockerheit der leicht zu scheidenden Ehen sind dafür nicht allein verant¬<lb/> wortlich zu machen. Man muß auch an den Militärdienst denken, der auf den Türken niedern</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0521]
Dardanellen und Nil
auch das Bedenkliche, daß sie immer weitere Gebiete umfassen, energischer ein¬
greifen und länger dauern müßte. Die christlichen Schulen haben in Kleinasten
und Syrien unglaublich zugenommen, unterstützt durch Millionen europäischer
und nordamerikanischer Almosen, die als unentgeltlicher Unterricht, Waren und
bares Geld ins Land fließen. Die eingebornen Christen sind gelehrig, es fehlt
ihnen weder an Fleiß noch an natürlicher Begabung. Sie wissen aber mit
ihren frisch erworbnen Kenntnissen wenig anzufangen. Als Christen finden
sie im Beamtenstande höchstens zu den untersten Stellen Zugang. Zum Ge¬
werbe oder Ackerbau zurückzukehren haben sie niemals Lust. So speisen sie
denn jenes Proletariat von Handelsbeflissenen, das von Jaffa bis Trapezunt
dem ehrlichen Handel, besonders der europäischen Häuser, das Leben sauer macht
und dieses ganze Gebiet in den Handelskreisen Europas geradezu in Verruf
gebracht hat. Besonders in Syrien giebt es genug einheimische Handelshäuser
von bestem Ruf und großer Geldkraft. Aber im allgemeinen hat der über¬
müßige Zudrang zum Handel eine Masse Schiffbrüchiger, Unzufriedner, Ver¬
dächtiger geschaffen, die natürlich eine immer größere Gefahr für die Beherrscher
des Landes geworden sind, übrigens in jeder politischen Erschütterung ihren
Vorteil sehen. Den Europäern stehen sie in der Masse gewiß nicht freund¬
licher gegenüber als die Muhammedaner, und besonders fürchten sie, daß deren
wirtschaftliche Fortschritte von aufgeklärten türkischen Beamten mehr begünstigt
werden, als für ihre eignen Geschäfte gut ist. Auch ist es ihnen kein Ge¬
heimnis, daß der Europäer als Mensch mehr Sympathien für den ehrlichen
Türken als den verschmitzten Armenier oder Griechen hat.
An dem Ernst der türkischen Regierung, Kleinasien wirtschaftlich zu heben,
kann man nicht zweifeln, wenn man die Fortschritte des Verkehrs in dem
vor einem Menschenalter praktisch noch fast ganz weglosen Lande betrachtet.
5000 Kilometer Landstraßen sind gebaut, die Anlage von Eisenbahnen durch Aus¬
länder entschieden gefördert worden. Die deutsche Gesellschaft für die ancitolischen
Eisenbahnen Hütte ohne die Hilfe der Regierungsorgane nicht in der unglaublich
kurzen Zeit von wenig über drei Jahren die 498 Kilometer lange Linie Jsmid-
Angora bauen können. Aber in den politischen Dingen kann man die Fremden
nicht ebenso frei gewähren lassen, und der gute Wille des Sultans und einiger
Beamten hilft nichts. Die Christen, kirchlich und national so tief gespalten,
daß selbst in den heiligen Stätten Palästinas türkische Soldaten Frieden unter
ihnen halten müssen, werden in Jahrzehnten nicht imstande sein, sich selbst zu helfen.
Wird aber gerade der Sultan die Macht haben, Einrichtungen wie die gemischten
Gerichte oder die internationale Finanzkommission Ägyptens einzuführen? Die
Türken gehen an Zahl,*) Macht und Besitz zurück, ihre kriegerischen Eigen-
Für den Rückgang der Volkszahl der Türken liegen zahlreiche Beweise vor. Die
Polygamie und die Lockerheit der leicht zu scheidenden Ehen sind dafür nicht allein verant¬
wortlich zu machen. Man muß auch an den Militärdienst denken, der auf den Türken niedern
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