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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

hingelangen können, muß England mit Waren, Geld, Ideen, Sympathien
wirken. Wenn die Cyprioten über Englands Steuerdruck schreien und lieber
wieder türkisch werden möchten, sagt der humane Harcourt: England verliert
Geld an Cypern, aber unter keinen Umständen würde es eine Provinz, die es
der türkischen Verwaltung entzogen hat, dieser Verwaltung zurückgeben. Es
wäre vielleicht politisch, aber unmenschlich und unchristlich.

In diesem höhern Popularitätsdrang haben die Engländer für die
Armenier Partei ergriffen, ohne daß sie die Gegenpartei, die Türkei, auch nur
gehört hätten. Nicht bloß das unwissende Publikum und die über eine neue
Aufregung erfreuten Zeitungen, auch Leute wie Gladstone und der vorige
Präsident des Handelsamts, Bryce, haben mit einer erstaunlichen Vorliebe
von den heillosen armenischen Zuständen und den immer wiederkehrenden
Störungen des so ganz friedfertigen Lebens der trefflichen Armenier gesprochen,
lange ehe es zu ernsten Zusammenstößen gekommen war. Es ist aber gar
nicht zweifellos, daß man sich ein ganz falsches Bild von den Armeniern macht,
wenn man sie immer als die Lämmer, die Türken als die Wölfe darstellte.
Thatsache ist, daß gerade in dem Bezirk Saffar, wo die ersten Vergewaltigungen
stattgefunden haben sollen, die armenische Bevölkerung an Unbotmäßigkeit und
Roheit den Kurden und Türken gar nichts nachgiebt. Als die Verwaltung
der türkischen Schuld dort vor einigen Jahren eine Saline eröffnete, die den
Armeniern unbequem war, zerstörten diese die Werke und Häuser, verjagten
die Arbeiter und ermordeten die Wachtposten. Es giebt auch in andern Teilen
von Türkisch-Armenien Bezirke, wo die Regierung thatsächlich kaum Autorität
genug hat, die äußere Ruhe notdürftig aufrecht zu erhalten. Daß darunter
auch die armenischen Unterthanen leiden, ist nur zu wahr. Aber sie wurden
von den türkischen Behörden geschützt, wo es anging.

Ihr Unglück sind die muhammedanischen Kurden, diese "Krieger aus Nei¬
gung." wie sie Moltke nennt, die von ihren Bergfesten herabsteigen und seit
Urzeiten festgehaltne Ansprüche auf Land und Sachbesitz der ansässigen Armenier
erheben. Diese armenisch-kurdischen Gegensätze sind eine schwere Wunde des
Reichs, die nicht einmal eine internationale Kommission so leicht heilen wird.
Die türkische Verwaltung wird bei ihrer systematischen Unordnung und dem Ge¬
meinschaftsgefühl alles Muhammedanischen gegenüber allem Christlichen, das in
aufgeregten Zeiten mit elementarer Macht hervorbricht, noch weniger vermögen.
Am wenigsten helfen sicherlich die aufregenden Reden und Zeitungsartikel, mit
denen England die Flammen nur immer neu entfacht hat.

England hat für seine Begünstigung der Armenier übrigens noch den be¬
sondern Grund, daß es den Griechen schadet, wenn es ihren schärfsten Wett¬
bewerbern Luft macht. Es hat an Griechenland wenig Freude erlebt. Rußland
und Frankreich teilen sich in den verwaltenden Einfluß in Athen, und die
Handelsflotte der Griechen thut der englischen Abbruch. Die griechischen Segel-


Dardanellen und Nil

hingelangen können, muß England mit Waren, Geld, Ideen, Sympathien
wirken. Wenn die Cyprioten über Englands Steuerdruck schreien und lieber
wieder türkisch werden möchten, sagt der humane Harcourt: England verliert
Geld an Cypern, aber unter keinen Umständen würde es eine Provinz, die es
der türkischen Verwaltung entzogen hat, dieser Verwaltung zurückgeben. Es
wäre vielleicht politisch, aber unmenschlich und unchristlich.

In diesem höhern Popularitätsdrang haben die Engländer für die
Armenier Partei ergriffen, ohne daß sie die Gegenpartei, die Türkei, auch nur
gehört hätten. Nicht bloß das unwissende Publikum und die über eine neue
Aufregung erfreuten Zeitungen, auch Leute wie Gladstone und der vorige
Präsident des Handelsamts, Bryce, haben mit einer erstaunlichen Vorliebe
von den heillosen armenischen Zuständen und den immer wiederkehrenden
Störungen des so ganz friedfertigen Lebens der trefflichen Armenier gesprochen,
lange ehe es zu ernsten Zusammenstößen gekommen war. Es ist aber gar
nicht zweifellos, daß man sich ein ganz falsches Bild von den Armeniern macht,
wenn man sie immer als die Lämmer, die Türken als die Wölfe darstellte.
Thatsache ist, daß gerade in dem Bezirk Saffar, wo die ersten Vergewaltigungen
stattgefunden haben sollen, die armenische Bevölkerung an Unbotmäßigkeit und
Roheit den Kurden und Türken gar nichts nachgiebt. Als die Verwaltung
der türkischen Schuld dort vor einigen Jahren eine Saline eröffnete, die den
Armeniern unbequem war, zerstörten diese die Werke und Häuser, verjagten
die Arbeiter und ermordeten die Wachtposten. Es giebt auch in andern Teilen
von Türkisch-Armenien Bezirke, wo die Regierung thatsächlich kaum Autorität
genug hat, die äußere Ruhe notdürftig aufrecht zu erhalten. Daß darunter
auch die armenischen Unterthanen leiden, ist nur zu wahr. Aber sie wurden
von den türkischen Behörden geschützt, wo es anging.

Ihr Unglück sind die muhammedanischen Kurden, diese „Krieger aus Nei¬
gung." wie sie Moltke nennt, die von ihren Bergfesten herabsteigen und seit
Urzeiten festgehaltne Ansprüche auf Land und Sachbesitz der ansässigen Armenier
erheben. Diese armenisch-kurdischen Gegensätze sind eine schwere Wunde des
Reichs, die nicht einmal eine internationale Kommission so leicht heilen wird.
Die türkische Verwaltung wird bei ihrer systematischen Unordnung und dem Ge¬
meinschaftsgefühl alles Muhammedanischen gegenüber allem Christlichen, das in
aufgeregten Zeiten mit elementarer Macht hervorbricht, noch weniger vermögen.
Am wenigsten helfen sicherlich die aufregenden Reden und Zeitungsartikel, mit
denen England die Flammen nur immer neu entfacht hat.

England hat für seine Begünstigung der Armenier übrigens noch den be¬
sondern Grund, daß es den Griechen schadet, wenn es ihren schärfsten Wett¬
bewerbern Luft macht. Es hat an Griechenland wenig Freude erlebt. Rußland
und Frankreich teilen sich in den verwaltenden Einfluß in Athen, und die
Handelsflotte der Griechen thut der englischen Abbruch. Die griechischen Segel-


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[0519] Dardanellen und Nil hingelangen können, muß England mit Waren, Geld, Ideen, Sympathien wirken. Wenn die Cyprioten über Englands Steuerdruck schreien und lieber wieder türkisch werden möchten, sagt der humane Harcourt: England verliert Geld an Cypern, aber unter keinen Umständen würde es eine Provinz, die es der türkischen Verwaltung entzogen hat, dieser Verwaltung zurückgeben. Es wäre vielleicht politisch, aber unmenschlich und unchristlich. In diesem höhern Popularitätsdrang haben die Engländer für die Armenier Partei ergriffen, ohne daß sie die Gegenpartei, die Türkei, auch nur gehört hätten. Nicht bloß das unwissende Publikum und die über eine neue Aufregung erfreuten Zeitungen, auch Leute wie Gladstone und der vorige Präsident des Handelsamts, Bryce, haben mit einer erstaunlichen Vorliebe von den heillosen armenischen Zuständen und den immer wiederkehrenden Störungen des so ganz friedfertigen Lebens der trefflichen Armenier gesprochen, lange ehe es zu ernsten Zusammenstößen gekommen war. Es ist aber gar nicht zweifellos, daß man sich ein ganz falsches Bild von den Armeniern macht, wenn man sie immer als die Lämmer, die Türken als die Wölfe darstellte. Thatsache ist, daß gerade in dem Bezirk Saffar, wo die ersten Vergewaltigungen stattgefunden haben sollen, die armenische Bevölkerung an Unbotmäßigkeit und Roheit den Kurden und Türken gar nichts nachgiebt. Als die Verwaltung der türkischen Schuld dort vor einigen Jahren eine Saline eröffnete, die den Armeniern unbequem war, zerstörten diese die Werke und Häuser, verjagten die Arbeiter und ermordeten die Wachtposten. Es giebt auch in andern Teilen von Türkisch-Armenien Bezirke, wo die Regierung thatsächlich kaum Autorität genug hat, die äußere Ruhe notdürftig aufrecht zu erhalten. Daß darunter auch die armenischen Unterthanen leiden, ist nur zu wahr. Aber sie wurden von den türkischen Behörden geschützt, wo es anging. Ihr Unglück sind die muhammedanischen Kurden, diese „Krieger aus Nei¬ gung." wie sie Moltke nennt, die von ihren Bergfesten herabsteigen und seit Urzeiten festgehaltne Ansprüche auf Land und Sachbesitz der ansässigen Armenier erheben. Diese armenisch-kurdischen Gegensätze sind eine schwere Wunde des Reichs, die nicht einmal eine internationale Kommission so leicht heilen wird. Die türkische Verwaltung wird bei ihrer systematischen Unordnung und dem Ge¬ meinschaftsgefühl alles Muhammedanischen gegenüber allem Christlichen, das in aufgeregten Zeiten mit elementarer Macht hervorbricht, noch weniger vermögen. Am wenigsten helfen sicherlich die aufregenden Reden und Zeitungsartikel, mit denen England die Flammen nur immer neu entfacht hat. England hat für seine Begünstigung der Armenier übrigens noch den be¬ sondern Grund, daß es den Griechen schadet, wenn es ihren schärfsten Wett¬ bewerbern Luft macht. Es hat an Griechenland wenig Freude erlebt. Rußland und Frankreich teilen sich in den verwaltenden Einfluß in Athen, und die Handelsflotte der Griechen thut der englischen Abbruch. Die griechischen Segel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/519>, abgerufen am 24.08.2024.