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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

Gehirn ihrer Väter ist nur ein Teil der unglücklichen Erbschaft, die sie ange¬
treten haben, und deren Wucht sie ins Verderben ziehen mußte. Auch dieses
glaube ich gern, daß von den Verbrechen, die alljährlich abgeurteilt werden,
sehr viele auf Rechnung des Alkoholgenusses kommen, aber der ursächliche Zu¬
sammenhang zwischen Rausch und Verbrechen ist nicht so zu verstehen, als ob
der Rausch zu allen möglichen Schandthaten aufgelegt machte, sondern er hebt
nur die Selbstbeherrschung auf, und das ist allerdings ein Unglück für den
Armen in einer Zeit, wo er einer beinahe übermenschlichen Selbstbeherrschung
und der gespanntesten Aufmerksamkeit bedarf, um nicht in eine der unzäh¬
ligen Fußangeln, die seinen Weg umstellen, hineinzutappen.

In Harpersdorf war die Bevölkerung, obwohl jeder sein Glas trank,
kerngesund, die Frauen, Mädchen und Kinder waren bildhübsch, die Männer
tüchtig, und die Tagelöhnerinnen, denen ein kleiner Schnaps- oder Groggenuß
als höchste Seligkeit galt, wurden neunzig Jahre alt und jammerten, daß sie
unser Herrgott gar vergessen zu haben scheine. Ich selbst habe in jüngern
Jahren nur ausnahmsweise Vier und Wein getrunken, hie und da, z. B. auf
Ausflügen, einen Likör oder ein Gläschen Korn. Mit zweiundvierzig Jahren
kam ich nach Süddeutschland, und da ich ein paar Jahre hindurch im Gast¬
hause aß, war ich täglich gezwungen, Bier oder Wein oder beides zu trinken.
Später habe ich, je nach Umständen, abwechselnd die Milch- und Wasserdiüt
oder die Wein- oder Bierdiät beobachtet und mich, obwohl von schwächlichem
Körperbau und mit einem schwachen Magen behaftet, bei allen Arten von Diät
gleich wohl gefühlt. Man soll die jungen Leute anleiten, ihrer Natur zu folgen,
d. h. dem Körper zu gewähren, was ihm heilsam, und zu versagen, was ihm
schädlich ist. Was aber heilsam oder schädlich sei, das erkennt man an der Arbeits¬
fähigkeit, die täglich ungeschwächt erhalten werden muß; und das Heilsame und
Schädliche ist nicht für alle und unter allen Umständen dasselbe. Die Menschen
zur Selbständigkeit erziehen, das ist auch in dieser Beziehung unendlich viel
mehr wert, als sie zu Schafen machen, die jedem Leithammel oder Heiland
nachlaufen; sind doch nach den Temperenzlern, Vegetarianern und Wasser¬
fanatikern schon andre gekommen, die uns sagen, man dürfe auch keine Hülsen-
früchte und Gemüse und kein Brot, sondern nur rohe Getreidekörner genießen,
und wieder andre, die sagen, Baumfrüchte seien die einzige naturgemäße Nahrung,
weil unsre Vorfahren Affen gewesen seien; muß doch jeder solche Unsinn "wissen¬
schaftlich" begründet werden. Ich meine, jeder soll essen und trinken, was
ihm schmeckt und gut bekommt, wenn er das Geld dazu hat, und soll sich nicht
mit diätetischen Grübeleien zum Hypochonder machen; kein Chemiker, Physio-
loge und sonstiger Mann der Wissenschaft kann uns so gründlich belehren und
so zuverlässig leiten, wie unser eignes Befinden. Natürlich kann nur der wirt¬
schaftlich Unabhängige so selbständig handeln. Aber nicht bloß für unsinnig,
sondern auch für schädlich halte ich die übertriebne Agitation gegen den Alkohol.


Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

Gehirn ihrer Väter ist nur ein Teil der unglücklichen Erbschaft, die sie ange¬
treten haben, und deren Wucht sie ins Verderben ziehen mußte. Auch dieses
glaube ich gern, daß von den Verbrechen, die alljährlich abgeurteilt werden,
sehr viele auf Rechnung des Alkoholgenusses kommen, aber der ursächliche Zu¬
sammenhang zwischen Rausch und Verbrechen ist nicht so zu verstehen, als ob
der Rausch zu allen möglichen Schandthaten aufgelegt machte, sondern er hebt
nur die Selbstbeherrschung auf, und das ist allerdings ein Unglück für den
Armen in einer Zeit, wo er einer beinahe übermenschlichen Selbstbeherrschung
und der gespanntesten Aufmerksamkeit bedarf, um nicht in eine der unzäh¬
ligen Fußangeln, die seinen Weg umstellen, hineinzutappen.

In Harpersdorf war die Bevölkerung, obwohl jeder sein Glas trank,
kerngesund, die Frauen, Mädchen und Kinder waren bildhübsch, die Männer
tüchtig, und die Tagelöhnerinnen, denen ein kleiner Schnaps- oder Groggenuß
als höchste Seligkeit galt, wurden neunzig Jahre alt und jammerten, daß sie
unser Herrgott gar vergessen zu haben scheine. Ich selbst habe in jüngern
Jahren nur ausnahmsweise Vier und Wein getrunken, hie und da, z. B. auf
Ausflügen, einen Likör oder ein Gläschen Korn. Mit zweiundvierzig Jahren
kam ich nach Süddeutschland, und da ich ein paar Jahre hindurch im Gast¬
hause aß, war ich täglich gezwungen, Bier oder Wein oder beides zu trinken.
Später habe ich, je nach Umständen, abwechselnd die Milch- und Wasserdiüt
oder die Wein- oder Bierdiät beobachtet und mich, obwohl von schwächlichem
Körperbau und mit einem schwachen Magen behaftet, bei allen Arten von Diät
gleich wohl gefühlt. Man soll die jungen Leute anleiten, ihrer Natur zu folgen,
d. h. dem Körper zu gewähren, was ihm heilsam, und zu versagen, was ihm
schädlich ist. Was aber heilsam oder schädlich sei, das erkennt man an der Arbeits¬
fähigkeit, die täglich ungeschwächt erhalten werden muß; und das Heilsame und
Schädliche ist nicht für alle und unter allen Umständen dasselbe. Die Menschen
zur Selbständigkeit erziehen, das ist auch in dieser Beziehung unendlich viel
mehr wert, als sie zu Schafen machen, die jedem Leithammel oder Heiland
nachlaufen; sind doch nach den Temperenzlern, Vegetarianern und Wasser¬
fanatikern schon andre gekommen, die uns sagen, man dürfe auch keine Hülsen-
früchte und Gemüse und kein Brot, sondern nur rohe Getreidekörner genießen,
und wieder andre, die sagen, Baumfrüchte seien die einzige naturgemäße Nahrung,
weil unsre Vorfahren Affen gewesen seien; muß doch jeder solche Unsinn „wissen¬
schaftlich" begründet werden. Ich meine, jeder soll essen und trinken, was
ihm schmeckt und gut bekommt, wenn er das Geld dazu hat, und soll sich nicht
mit diätetischen Grübeleien zum Hypochonder machen; kein Chemiker, Physio-
loge und sonstiger Mann der Wissenschaft kann uns so gründlich belehren und
so zuverlässig leiten, wie unser eignes Befinden. Natürlich kann nur der wirt¬
schaftlich Unabhängige so selbständig handeln. Aber nicht bloß für unsinnig,
sondern auch für schädlich halte ich die übertriebne Agitation gegen den Alkohol.


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[0497] Wandlungen des Ich im Ieitenstrome Gehirn ihrer Väter ist nur ein Teil der unglücklichen Erbschaft, die sie ange¬ treten haben, und deren Wucht sie ins Verderben ziehen mußte. Auch dieses glaube ich gern, daß von den Verbrechen, die alljährlich abgeurteilt werden, sehr viele auf Rechnung des Alkoholgenusses kommen, aber der ursächliche Zu¬ sammenhang zwischen Rausch und Verbrechen ist nicht so zu verstehen, als ob der Rausch zu allen möglichen Schandthaten aufgelegt machte, sondern er hebt nur die Selbstbeherrschung auf, und das ist allerdings ein Unglück für den Armen in einer Zeit, wo er einer beinahe übermenschlichen Selbstbeherrschung und der gespanntesten Aufmerksamkeit bedarf, um nicht in eine der unzäh¬ ligen Fußangeln, die seinen Weg umstellen, hineinzutappen. In Harpersdorf war die Bevölkerung, obwohl jeder sein Glas trank, kerngesund, die Frauen, Mädchen und Kinder waren bildhübsch, die Männer tüchtig, und die Tagelöhnerinnen, denen ein kleiner Schnaps- oder Groggenuß als höchste Seligkeit galt, wurden neunzig Jahre alt und jammerten, daß sie unser Herrgott gar vergessen zu haben scheine. Ich selbst habe in jüngern Jahren nur ausnahmsweise Vier und Wein getrunken, hie und da, z. B. auf Ausflügen, einen Likör oder ein Gläschen Korn. Mit zweiundvierzig Jahren kam ich nach Süddeutschland, und da ich ein paar Jahre hindurch im Gast¬ hause aß, war ich täglich gezwungen, Bier oder Wein oder beides zu trinken. Später habe ich, je nach Umständen, abwechselnd die Milch- und Wasserdiüt oder die Wein- oder Bierdiät beobachtet und mich, obwohl von schwächlichem Körperbau und mit einem schwachen Magen behaftet, bei allen Arten von Diät gleich wohl gefühlt. Man soll die jungen Leute anleiten, ihrer Natur zu folgen, d. h. dem Körper zu gewähren, was ihm heilsam, und zu versagen, was ihm schädlich ist. Was aber heilsam oder schädlich sei, das erkennt man an der Arbeits¬ fähigkeit, die täglich ungeschwächt erhalten werden muß; und das Heilsame und Schädliche ist nicht für alle und unter allen Umständen dasselbe. Die Menschen zur Selbständigkeit erziehen, das ist auch in dieser Beziehung unendlich viel mehr wert, als sie zu Schafen machen, die jedem Leithammel oder Heiland nachlaufen; sind doch nach den Temperenzlern, Vegetarianern und Wasser¬ fanatikern schon andre gekommen, die uns sagen, man dürfe auch keine Hülsen- früchte und Gemüse und kein Brot, sondern nur rohe Getreidekörner genießen, und wieder andre, die sagen, Baumfrüchte seien die einzige naturgemäße Nahrung, weil unsre Vorfahren Affen gewesen seien; muß doch jeder solche Unsinn „wissen¬ schaftlich" begründet werden. Ich meine, jeder soll essen und trinken, was ihm schmeckt und gut bekommt, wenn er das Geld dazu hat, und soll sich nicht mit diätetischen Grübeleien zum Hypochonder machen; kein Chemiker, Physio- loge und sonstiger Mann der Wissenschaft kann uns so gründlich belehren und so zuverlässig leiten, wie unser eignes Befinden. Natürlich kann nur der wirt¬ schaftlich Unabhängige so selbständig handeln. Aber nicht bloß für unsinnig, sondern auch für schädlich halte ich die übertriebne Agitation gegen den Alkohol.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/497>, abgerufen am 26.07.2024.