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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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N?a"bin"ge>> des Ich im Zeiteilstrome

Vorzug des Landlebens, jedermann weiß, wie es um jedermanns Wirtschaft
steht, sieht man es doch an seinem Acker, seinem Garten, seinem Vieh,
seinen Gebäuden, seinen Geräten und bei einem Blick in seinen Hof. Ich er¬
innere mich aus den vier Jahren meines Harpersdvrfer Aufenthalts nur eines
einzigen schlechten Wirts, und das war unglücklicherweise der Halbbauer meiner
kleinen Gemeinde. Er war eigentlich nicht liederlich, sondern bloß unaussprech¬
lich dumm. Er mußte in seiner Jugend einmal auf den Kopf gefallen sein,
denn von Natur sind dort die Leute nicht dumm. Er büßte seineu kleinen
Hof ein und mußte sich als Knecht verdingen. Als ich ihm das erstemal nach
diesem Wandel begegnete und nach seinem Befinden fragte, antwortete er, mit
seinem ganzen breiten Gesichte lachend: Gutt gieht mersch, Herr Forr! suste
(sonst) mußte ich jeden Snnnvbend a poar Thoaler Lohn auszoahlen, und itzt
krieg ich Sunnobends en Thoaler. Der reine Hans im Glück! Hazardspiele
waren unbekannt. Branntwein trank jeder, und bei festlichen Gelegenheiten
heiterte man sich an, aber einen Trunkenbold gab es nicht.

Alle geistlichen Predigten, alle gelehrten Abhandlungen der Mediziner über
die Wirkungen des Alkohols und alle Kriminalstatistiken machen mich an der
aus dem Leben geschöpften Überzeugung nicht irre, daß ein dem Lebensalter,
der Körperkonstitution und der Lebensweise angemessener Alkoholgenuß nicht
nur nichts schadet, sondern der Gesundheit zuträglich ist. Verwerflich ist es
natürlich, Kindern Schnaps zu geben oder junge Leute zum regelmüßigen
Schnapsgenuß zu verführen. Von selbst, ohne Verführung, verfallen sie gar
nicht darauf; ihrem eignen Geschmack überlassen, werden sie Wasser, Milch,
Limonade, leichtes Bier vorziehen. Wenn junge Leute ganz allgemein alkohol¬
haltige Getränke genießen, oder wenn Stubenhocker regelmüßigem Schnaps-
oder Biergenuß ergeben sind, der ihnen nicht taugt (den Schneider verdirbts,
den Schmied kurirts!), so kommt das gewöhnlich daher, daß es ihnen an dem
Getränk fehlt, das ihre Natur verlangt. Jedes Alter, sagte ein alter frommer
Gymnasiallehrer, wenn er sein Schöppli trank, soll das trinken, was ihm zu¬
kommt: das Kind Milch, der Jüngling Vier, der Mann Wein, der Greis
Schnaps; mit der abnehmenden natürlichen Wärme muß natürlicherweise die
künstliche Wärmezufuhr steigen. Außer dem Lebensalter kommt selbstverständ¬
lich auch die Lebeusweise in Betracht. Dieselbe Menge Alkohol wirkt sehr
verschieden, je nachdem sie bei großer körperlicher Anstrengung im Freien oder
beim Sitzen in einem schlecht gelüfteten Zimmer genossen wird. Werden vier
bis sechs Gläser Vier beim Stillsitzen getrunken, so schadet die Überladung des
Magens mit Flüssigkeit noch weit mehr als der Alkoholgehalt, während die¬
selbe Menge wohlthätig wirkt, wenn sie, z. B. bei einer anstrengenden Fu߬
partie im Sommer, bloß zum Ersatz des vergossenen Schweißes dient. Den
Südländern braucht niemand Mäßigkeit zu predigen; mitten im Wein drin
sitzend, bleiben sie die mäßigsten aller Menschen und kühlen ihre Eigenwärme


N?a»bin»ge>> des Ich im Zeiteilstrome

Vorzug des Landlebens, jedermann weiß, wie es um jedermanns Wirtschaft
steht, sieht man es doch an seinem Acker, seinem Garten, seinem Vieh,
seinen Gebäuden, seinen Geräten und bei einem Blick in seinen Hof. Ich er¬
innere mich aus den vier Jahren meines Harpersdvrfer Aufenthalts nur eines
einzigen schlechten Wirts, und das war unglücklicherweise der Halbbauer meiner
kleinen Gemeinde. Er war eigentlich nicht liederlich, sondern bloß unaussprech¬
lich dumm. Er mußte in seiner Jugend einmal auf den Kopf gefallen sein,
denn von Natur sind dort die Leute nicht dumm. Er büßte seineu kleinen
Hof ein und mußte sich als Knecht verdingen. Als ich ihm das erstemal nach
diesem Wandel begegnete und nach seinem Befinden fragte, antwortete er, mit
seinem ganzen breiten Gesichte lachend: Gutt gieht mersch, Herr Forr! suste
(sonst) mußte ich jeden Snnnvbend a poar Thoaler Lohn auszoahlen, und itzt
krieg ich Sunnobends en Thoaler. Der reine Hans im Glück! Hazardspiele
waren unbekannt. Branntwein trank jeder, und bei festlichen Gelegenheiten
heiterte man sich an, aber einen Trunkenbold gab es nicht.

Alle geistlichen Predigten, alle gelehrten Abhandlungen der Mediziner über
die Wirkungen des Alkohols und alle Kriminalstatistiken machen mich an der
aus dem Leben geschöpften Überzeugung nicht irre, daß ein dem Lebensalter,
der Körperkonstitution und der Lebensweise angemessener Alkoholgenuß nicht
nur nichts schadet, sondern der Gesundheit zuträglich ist. Verwerflich ist es
natürlich, Kindern Schnaps zu geben oder junge Leute zum regelmüßigen
Schnapsgenuß zu verführen. Von selbst, ohne Verführung, verfallen sie gar
nicht darauf; ihrem eignen Geschmack überlassen, werden sie Wasser, Milch,
Limonade, leichtes Bier vorziehen. Wenn junge Leute ganz allgemein alkohol¬
haltige Getränke genießen, oder wenn Stubenhocker regelmüßigem Schnaps-
oder Biergenuß ergeben sind, der ihnen nicht taugt (den Schneider verdirbts,
den Schmied kurirts!), so kommt das gewöhnlich daher, daß es ihnen an dem
Getränk fehlt, das ihre Natur verlangt. Jedes Alter, sagte ein alter frommer
Gymnasiallehrer, wenn er sein Schöppli trank, soll das trinken, was ihm zu¬
kommt: das Kind Milch, der Jüngling Vier, der Mann Wein, der Greis
Schnaps; mit der abnehmenden natürlichen Wärme muß natürlicherweise die
künstliche Wärmezufuhr steigen. Außer dem Lebensalter kommt selbstverständ¬
lich auch die Lebeusweise in Betracht. Dieselbe Menge Alkohol wirkt sehr
verschieden, je nachdem sie bei großer körperlicher Anstrengung im Freien oder
beim Sitzen in einem schlecht gelüfteten Zimmer genossen wird. Werden vier
bis sechs Gläser Vier beim Stillsitzen getrunken, so schadet die Überladung des
Magens mit Flüssigkeit noch weit mehr als der Alkoholgehalt, während die¬
selbe Menge wohlthätig wirkt, wenn sie, z. B. bei einer anstrengenden Fu߬
partie im Sommer, bloß zum Ersatz des vergossenen Schweißes dient. Den
Südländern braucht niemand Mäßigkeit zu predigen; mitten im Wein drin
sitzend, bleiben sie die mäßigsten aller Menschen und kühlen ihre Eigenwärme


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[0494] N?a»bin»ge>> des Ich im Zeiteilstrome Vorzug des Landlebens, jedermann weiß, wie es um jedermanns Wirtschaft steht, sieht man es doch an seinem Acker, seinem Garten, seinem Vieh, seinen Gebäuden, seinen Geräten und bei einem Blick in seinen Hof. Ich er¬ innere mich aus den vier Jahren meines Harpersdvrfer Aufenthalts nur eines einzigen schlechten Wirts, und das war unglücklicherweise der Halbbauer meiner kleinen Gemeinde. Er war eigentlich nicht liederlich, sondern bloß unaussprech¬ lich dumm. Er mußte in seiner Jugend einmal auf den Kopf gefallen sein, denn von Natur sind dort die Leute nicht dumm. Er büßte seineu kleinen Hof ein und mußte sich als Knecht verdingen. Als ich ihm das erstemal nach diesem Wandel begegnete und nach seinem Befinden fragte, antwortete er, mit seinem ganzen breiten Gesichte lachend: Gutt gieht mersch, Herr Forr! suste (sonst) mußte ich jeden Snnnvbend a poar Thoaler Lohn auszoahlen, und itzt krieg ich Sunnobends en Thoaler. Der reine Hans im Glück! Hazardspiele waren unbekannt. Branntwein trank jeder, und bei festlichen Gelegenheiten heiterte man sich an, aber einen Trunkenbold gab es nicht. Alle geistlichen Predigten, alle gelehrten Abhandlungen der Mediziner über die Wirkungen des Alkohols und alle Kriminalstatistiken machen mich an der aus dem Leben geschöpften Überzeugung nicht irre, daß ein dem Lebensalter, der Körperkonstitution und der Lebensweise angemessener Alkoholgenuß nicht nur nichts schadet, sondern der Gesundheit zuträglich ist. Verwerflich ist es natürlich, Kindern Schnaps zu geben oder junge Leute zum regelmüßigen Schnapsgenuß zu verführen. Von selbst, ohne Verführung, verfallen sie gar nicht darauf; ihrem eignen Geschmack überlassen, werden sie Wasser, Milch, Limonade, leichtes Bier vorziehen. Wenn junge Leute ganz allgemein alkohol¬ haltige Getränke genießen, oder wenn Stubenhocker regelmüßigem Schnaps- oder Biergenuß ergeben sind, der ihnen nicht taugt (den Schneider verdirbts, den Schmied kurirts!), so kommt das gewöhnlich daher, daß es ihnen an dem Getränk fehlt, das ihre Natur verlangt. Jedes Alter, sagte ein alter frommer Gymnasiallehrer, wenn er sein Schöppli trank, soll das trinken, was ihm zu¬ kommt: das Kind Milch, der Jüngling Vier, der Mann Wein, der Greis Schnaps; mit der abnehmenden natürlichen Wärme muß natürlicherweise die künstliche Wärmezufuhr steigen. Außer dem Lebensalter kommt selbstverständ¬ lich auch die Lebeusweise in Betracht. Dieselbe Menge Alkohol wirkt sehr verschieden, je nachdem sie bei großer körperlicher Anstrengung im Freien oder beim Sitzen in einem schlecht gelüfteten Zimmer genossen wird. Werden vier bis sechs Gläser Vier beim Stillsitzen getrunken, so schadet die Überladung des Magens mit Flüssigkeit noch weit mehr als der Alkoholgehalt, während die¬ selbe Menge wohlthätig wirkt, wenn sie, z. B. bei einer anstrengenden Fu߬ partie im Sommer, bloß zum Ersatz des vergossenen Schweißes dient. Den Südländern braucht niemand Mäßigkeit zu predigen; mitten im Wein drin sitzend, bleiben sie die mäßigsten aller Menschen und kühlen ihre Eigenwärme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/494>, abgerufen am 26.07.2024.