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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Lin prachtwerk über unsre Kriegsflotte

Marine einen Rückblick zu werfen. Es ist ein zum größten Teil tief trauriges
Bild, das er da entrollt, ein Bild, das die Geschicke des deutschen Volks im
ganzen spiegelt. Er zeigt, wie seetüchtig die Völker deutschen Blutes vou
jeher gewesen sind, aber wie auch zur See nie eine dauernde Herrschaft hat
errungen werden können wegen der Zersplitterung der Kräfte, der Zerrissen¬
heit der deutschen Stämme. Der alte, jahrhundertelange Fluch des deutschen
Volks! Vaudalenkönige haben die Meere beherrscht, die Hanse hat mit den
Kriegsflotten, die ihre Kauffahrer zu schützen hatten, Königreiche in Baun ge¬
halten, aber alles sank wieder dahin, weil keine starke Hand dawar, es zu¬
sammenzufassen und zu leiten, weil republikanischer Dünkel und Krämergeist für
große Ziele nicht zu haben waren, und die Ohnmacht die besten Küstenländer,
Flandern und die Niederlande, preisgeben mußte. Wislicenus zeigt dann, wie
in unserm Jahrhundert einmal das Bewußtsein der Notwendigkeit einer deut¬
schen Flotte aufflackerte und das ganze Land eine "achtunggebietende Flotte"
forderte, und wie klüglich hinterher die Ausführung wurde, wie aber Preußen
unter seineu Hohenzollern im zähen Festhalten an der Idee vom großen Kur¬
fürsten an allmählich mit Versuchen und langsamem Fortschreiten die Grund¬
lage schuf, auf der sich jetzt nach der Gründung des Reichs die deutsche Ma¬
rine aufbaut. Die Einigung ist dn, und damit die Möglichkeit, daß uns eine
feste Hand auch auf der See dem zuführt" was wir auf dem Lande schon er¬
reicht haben.

Was ist aber der Zweck der Flotte? Wir haben in dem letzten Viertel¬
jahrhundert viel erreicht, aber damit ist nur der feste Punkt errungen, von
dem aus wir gewinnen müssen, was uns notthut. Wir sind, Gott sei Dank,
noch ein Volk, das sich vermehrt und sich ins Unendliche zu vermehren fähig
ist; das giebt uns die Überzeugung, daß die Vorsehung einen Zweck für uns
habe, daß wir eine Rolle auf dem Erdenrunde spielen sollen. Aber unsre
Grenzen beginnen zu eng zu werden und drohen uns zu ersticken. Die sozialen
Fragen zeigen es, es ist hundertmal in diesen Blättern ausgeführt wordeu,
daß unsre sozialen Fragen nur eine Naumfrcige sind -- wir brauchen Boden!
Das deutsche Volk ist wie ein Kind -- Gott sei Dank, noch ein Kind und
kein Greis --, das aus den Nähten seines Kleides platzen muß, wenn es nicht
darin verkümmern will. Es muß sich Abfluß schaffen für seine überflüssigen
Kräfte -- das ist die Lösung der sozialen, beiläufig auch der Frauenfrage -- nach
außen, in die Nähe oder in die Weite. Unsre Leser wissen, was unser Ideal
ist. Aber es ist gleichgiltig, ob wir uns Kolonialland überm Meere oder in
der alten Welt suchen, kein Weitergreifen ist möglich ohne eine starke See¬
macht, ohne Herrschaft über das Meer. Wer die See hat, hat das Land!
Alle Staaten wissen das, jeder drängt nach außen, wenn er sie nicht hat, und
jeder arbeitet mit allen Mitteln, sich stark zur See zu machen. Sieht nicht
jeder das Beispiel Englands? Wodurch hat dies an sich kleine und lächerlich


Lin prachtwerk über unsre Kriegsflotte

Marine einen Rückblick zu werfen. Es ist ein zum größten Teil tief trauriges
Bild, das er da entrollt, ein Bild, das die Geschicke des deutschen Volks im
ganzen spiegelt. Er zeigt, wie seetüchtig die Völker deutschen Blutes vou
jeher gewesen sind, aber wie auch zur See nie eine dauernde Herrschaft hat
errungen werden können wegen der Zersplitterung der Kräfte, der Zerrissen¬
heit der deutschen Stämme. Der alte, jahrhundertelange Fluch des deutschen
Volks! Vaudalenkönige haben die Meere beherrscht, die Hanse hat mit den
Kriegsflotten, die ihre Kauffahrer zu schützen hatten, Königreiche in Baun ge¬
halten, aber alles sank wieder dahin, weil keine starke Hand dawar, es zu¬
sammenzufassen und zu leiten, weil republikanischer Dünkel und Krämergeist für
große Ziele nicht zu haben waren, und die Ohnmacht die besten Küstenländer,
Flandern und die Niederlande, preisgeben mußte. Wislicenus zeigt dann, wie
in unserm Jahrhundert einmal das Bewußtsein der Notwendigkeit einer deut¬
schen Flotte aufflackerte und das ganze Land eine „achtunggebietende Flotte"
forderte, und wie klüglich hinterher die Ausführung wurde, wie aber Preußen
unter seineu Hohenzollern im zähen Festhalten an der Idee vom großen Kur¬
fürsten an allmählich mit Versuchen und langsamem Fortschreiten die Grund¬
lage schuf, auf der sich jetzt nach der Gründung des Reichs die deutsche Ma¬
rine aufbaut. Die Einigung ist dn, und damit die Möglichkeit, daß uns eine
feste Hand auch auf der See dem zuführt» was wir auf dem Lande schon er¬
reicht haben.

Was ist aber der Zweck der Flotte? Wir haben in dem letzten Viertel¬
jahrhundert viel erreicht, aber damit ist nur der feste Punkt errungen, von
dem aus wir gewinnen müssen, was uns notthut. Wir sind, Gott sei Dank,
noch ein Volk, das sich vermehrt und sich ins Unendliche zu vermehren fähig
ist; das giebt uns die Überzeugung, daß die Vorsehung einen Zweck für uns
habe, daß wir eine Rolle auf dem Erdenrunde spielen sollen. Aber unsre
Grenzen beginnen zu eng zu werden und drohen uns zu ersticken. Die sozialen
Fragen zeigen es, es ist hundertmal in diesen Blättern ausgeführt wordeu,
daß unsre sozialen Fragen nur eine Naumfrcige sind — wir brauchen Boden!
Das deutsche Volk ist wie ein Kind — Gott sei Dank, noch ein Kind und
kein Greis —, das aus den Nähten seines Kleides platzen muß, wenn es nicht
darin verkümmern will. Es muß sich Abfluß schaffen für seine überflüssigen
Kräfte — das ist die Lösung der sozialen, beiläufig auch der Frauenfrage — nach
außen, in die Nähe oder in die Weite. Unsre Leser wissen, was unser Ideal
ist. Aber es ist gleichgiltig, ob wir uns Kolonialland überm Meere oder in
der alten Welt suchen, kein Weitergreifen ist möglich ohne eine starke See¬
macht, ohne Herrschaft über das Meer. Wer die See hat, hat das Land!
Alle Staaten wissen das, jeder drängt nach außen, wenn er sie nicht hat, und
jeder arbeitet mit allen Mitteln, sich stark zur See zu machen. Sieht nicht
jeder das Beispiel Englands? Wodurch hat dies an sich kleine und lächerlich


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[0447] Lin prachtwerk über unsre Kriegsflotte Marine einen Rückblick zu werfen. Es ist ein zum größten Teil tief trauriges Bild, das er da entrollt, ein Bild, das die Geschicke des deutschen Volks im ganzen spiegelt. Er zeigt, wie seetüchtig die Völker deutschen Blutes vou jeher gewesen sind, aber wie auch zur See nie eine dauernde Herrschaft hat errungen werden können wegen der Zersplitterung der Kräfte, der Zerrissen¬ heit der deutschen Stämme. Der alte, jahrhundertelange Fluch des deutschen Volks! Vaudalenkönige haben die Meere beherrscht, die Hanse hat mit den Kriegsflotten, die ihre Kauffahrer zu schützen hatten, Königreiche in Baun ge¬ halten, aber alles sank wieder dahin, weil keine starke Hand dawar, es zu¬ sammenzufassen und zu leiten, weil republikanischer Dünkel und Krämergeist für große Ziele nicht zu haben waren, und die Ohnmacht die besten Küstenländer, Flandern und die Niederlande, preisgeben mußte. Wislicenus zeigt dann, wie in unserm Jahrhundert einmal das Bewußtsein der Notwendigkeit einer deut¬ schen Flotte aufflackerte und das ganze Land eine „achtunggebietende Flotte" forderte, und wie klüglich hinterher die Ausführung wurde, wie aber Preußen unter seineu Hohenzollern im zähen Festhalten an der Idee vom großen Kur¬ fürsten an allmählich mit Versuchen und langsamem Fortschreiten die Grund¬ lage schuf, auf der sich jetzt nach der Gründung des Reichs die deutsche Ma¬ rine aufbaut. Die Einigung ist dn, und damit die Möglichkeit, daß uns eine feste Hand auch auf der See dem zuführt» was wir auf dem Lande schon er¬ reicht haben. Was ist aber der Zweck der Flotte? Wir haben in dem letzten Viertel¬ jahrhundert viel erreicht, aber damit ist nur der feste Punkt errungen, von dem aus wir gewinnen müssen, was uns notthut. Wir sind, Gott sei Dank, noch ein Volk, das sich vermehrt und sich ins Unendliche zu vermehren fähig ist; das giebt uns die Überzeugung, daß die Vorsehung einen Zweck für uns habe, daß wir eine Rolle auf dem Erdenrunde spielen sollen. Aber unsre Grenzen beginnen zu eng zu werden und drohen uns zu ersticken. Die sozialen Fragen zeigen es, es ist hundertmal in diesen Blättern ausgeführt wordeu, daß unsre sozialen Fragen nur eine Naumfrcige sind — wir brauchen Boden! Das deutsche Volk ist wie ein Kind — Gott sei Dank, noch ein Kind und kein Greis —, das aus den Nähten seines Kleides platzen muß, wenn es nicht darin verkümmern will. Es muß sich Abfluß schaffen für seine überflüssigen Kräfte — das ist die Lösung der sozialen, beiläufig auch der Frauenfrage — nach außen, in die Nähe oder in die Weite. Unsre Leser wissen, was unser Ideal ist. Aber es ist gleichgiltig, ob wir uns Kolonialland überm Meere oder in der alten Welt suchen, kein Weitergreifen ist möglich ohne eine starke See¬ macht, ohne Herrschaft über das Meer. Wer die See hat, hat das Land! Alle Staaten wissen das, jeder drängt nach außen, wenn er sie nicht hat, und jeder arbeitet mit allen Mitteln, sich stark zur See zu machen. Sieht nicht jeder das Beispiel Englands? Wodurch hat dies an sich kleine und lächerlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/447>, abgerufen am 24.07.2024.