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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sind wir Sozialdemokraten?

I. Singer in Wien bei Dmicker und Humblot in Leipzig ein Buch heraus¬
gegeben: "Untersuchungen über die sozialen Zustände in den Fabrikbezirken des
nordöstlichen Böhmens." Wer erinnert sich wohl, in unsern bürgerlichen Zei¬
tungen Auszüge daraus gelesen zu haben? Und doch müßten die darin ent¬
haltenen Angaben schon als reiner Sensationsstosf, den ja die Zeitungen über
alles lieben, die Redaktionen anziehen, abgesehen davon, daß sie höchst wichtige
Charakteristiken des Kulturzustandes eines Landes enthalten, das ans Reich
grenzt, beinahe tausend Jahre lang deutsches Reichsland gewesen ist, vor¬
herrschend von Deutschen bewohnt wird und im lebhaftesten Verkehr mit uns
steht. Man erfährt unter anderen daraus, daß die Schlafstätten -- von Woh¬
nungen ist gar keine Rede -- der Arbeiter der reichen Trautencmer Fabrikanten
noch entsetzlicher sind als die schmutzigsten in den Londoner Sinns. Wir
haben schon öfter die Altertumskundigen aufgefordert, uns irgend ein Heiden¬
volk zu nennen, bei dem eine Ausnutzung von Sklavenkindern und Sklavinnen
vorgekommen wäre, wie die unsrer "freien" Arbeiterfrauen, Mädchen und Kinder,
darauf aber noch keine Antwort erhalten. Ans singers Buch fügen wir zur
Begründung unsrer Frage noch folgende Bemerkung (auf S. 81) bei: "So
gedenke ich noch mitleidsvoll der wunden Finger der Andreherinnen, die, ob¬
gleich sie die aus ihren Fingern sich bildenden Eiterblasen bei dem steten Han¬
tiren mit dem Faden der Weberkette zerschneiden, dennoch emsig fortarbeiten,
was sie sehr oft mit längern Wundkrankheiten zu büßen haben." Die An-
dreherinnen sind durchweg jugendliche Arbeiterinnen. Und welche unsrer bürger¬
lichen Zeitungen hätte ausführlich über die Wiener Bergziegelei berichtet, die
viel merkwürdiger ist, als die Pester Millenarausstellung sein wird (denn
einen solchen Jahrmarktskram findet man in irgend einer Großstadt jedes Jahr).
Wegen einiger Berichte der Arbeiterzeitung darüber standen Dr. Adler und ein
Mitredakteur am 12. November vor den Geschwornen; sie wurden einstimmig
freigesprochen. Adlers Verteidigungsrede begann mit folgenden Worten. "Es
war im November 1888, als in meine Wohnung ein junger Mann kam, in
Fetzen gehüllt. Ich lud ihn ein, einzutreten. Das ist unmöglich, sagte er,
ich bin verkauft. Der Mann hat Kleider bekommen, hat sich gewaschen, dann
haben wir gesprochen. Er war ein Arbeiter der Wiener Vergziegelfabrikgesell-
schcift. Er hat mir erzählt, was wir bis dahin nur geahnt hatten, was aber
die Behörden schon damals hätten wissen sollen, wissen können. Aber ich war
vorsichtig, darum habe ich mich persönlich überzeugt. Ich bin bei Nacht hinein
ins Werk. Wir mußten uns einschleichen, denn so ohne weiteres kam mau
nicht hinein. Wir haben Fürchterliches gesehn. In einem Raume, der ein
Zehntel so groß ist wie dieser Saal, wohnen achtzig Menschen beisammen.
Auf verfaultem Stroh lagen sie zusammengepfercht, Männer, Weiber und
Kinder durcheinander, alle nackt. In einer der Baracken sahen wir eine Fran,
die ihr neugebornes Kind neben sich liegen hatte. Ich fragte: Wo sind Sie


Sind wir Sozialdemokraten?

I. Singer in Wien bei Dmicker und Humblot in Leipzig ein Buch heraus¬
gegeben: „Untersuchungen über die sozialen Zustände in den Fabrikbezirken des
nordöstlichen Böhmens." Wer erinnert sich wohl, in unsern bürgerlichen Zei¬
tungen Auszüge daraus gelesen zu haben? Und doch müßten die darin ent¬
haltenen Angaben schon als reiner Sensationsstosf, den ja die Zeitungen über
alles lieben, die Redaktionen anziehen, abgesehen davon, daß sie höchst wichtige
Charakteristiken des Kulturzustandes eines Landes enthalten, das ans Reich
grenzt, beinahe tausend Jahre lang deutsches Reichsland gewesen ist, vor¬
herrschend von Deutschen bewohnt wird und im lebhaftesten Verkehr mit uns
steht. Man erfährt unter anderen daraus, daß die Schlafstätten — von Woh¬
nungen ist gar keine Rede — der Arbeiter der reichen Trautencmer Fabrikanten
noch entsetzlicher sind als die schmutzigsten in den Londoner Sinns. Wir
haben schon öfter die Altertumskundigen aufgefordert, uns irgend ein Heiden¬
volk zu nennen, bei dem eine Ausnutzung von Sklavenkindern und Sklavinnen
vorgekommen wäre, wie die unsrer „freien" Arbeiterfrauen, Mädchen und Kinder,
darauf aber noch keine Antwort erhalten. Ans singers Buch fügen wir zur
Begründung unsrer Frage noch folgende Bemerkung (auf S. 81) bei: „So
gedenke ich noch mitleidsvoll der wunden Finger der Andreherinnen, die, ob¬
gleich sie die aus ihren Fingern sich bildenden Eiterblasen bei dem steten Han¬
tiren mit dem Faden der Weberkette zerschneiden, dennoch emsig fortarbeiten,
was sie sehr oft mit längern Wundkrankheiten zu büßen haben." Die An-
dreherinnen sind durchweg jugendliche Arbeiterinnen. Und welche unsrer bürger¬
lichen Zeitungen hätte ausführlich über die Wiener Bergziegelei berichtet, die
viel merkwürdiger ist, als die Pester Millenarausstellung sein wird (denn
einen solchen Jahrmarktskram findet man in irgend einer Großstadt jedes Jahr).
Wegen einiger Berichte der Arbeiterzeitung darüber standen Dr. Adler und ein
Mitredakteur am 12. November vor den Geschwornen; sie wurden einstimmig
freigesprochen. Adlers Verteidigungsrede begann mit folgenden Worten. „Es
war im November 1888, als in meine Wohnung ein junger Mann kam, in
Fetzen gehüllt. Ich lud ihn ein, einzutreten. Das ist unmöglich, sagte er,
ich bin verkauft. Der Mann hat Kleider bekommen, hat sich gewaschen, dann
haben wir gesprochen. Er war ein Arbeiter der Wiener Vergziegelfabrikgesell-
schcift. Er hat mir erzählt, was wir bis dahin nur geahnt hatten, was aber
die Behörden schon damals hätten wissen sollen, wissen können. Aber ich war
vorsichtig, darum habe ich mich persönlich überzeugt. Ich bin bei Nacht hinein
ins Werk. Wir mußten uns einschleichen, denn so ohne weiteres kam mau
nicht hinein. Wir haben Fürchterliches gesehn. In einem Raume, der ein
Zehntel so groß ist wie dieser Saal, wohnen achtzig Menschen beisammen.
Auf verfaultem Stroh lagen sie zusammengepfercht, Männer, Weiber und
Kinder durcheinander, alle nackt. In einer der Baracken sahen wir eine Fran,
die ihr neugebornes Kind neben sich liegen hatte. Ich fragte: Wo sind Sie


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[0418] Sind wir Sozialdemokraten? I. Singer in Wien bei Dmicker und Humblot in Leipzig ein Buch heraus¬ gegeben: „Untersuchungen über die sozialen Zustände in den Fabrikbezirken des nordöstlichen Böhmens." Wer erinnert sich wohl, in unsern bürgerlichen Zei¬ tungen Auszüge daraus gelesen zu haben? Und doch müßten die darin ent¬ haltenen Angaben schon als reiner Sensationsstosf, den ja die Zeitungen über alles lieben, die Redaktionen anziehen, abgesehen davon, daß sie höchst wichtige Charakteristiken des Kulturzustandes eines Landes enthalten, das ans Reich grenzt, beinahe tausend Jahre lang deutsches Reichsland gewesen ist, vor¬ herrschend von Deutschen bewohnt wird und im lebhaftesten Verkehr mit uns steht. Man erfährt unter anderen daraus, daß die Schlafstätten — von Woh¬ nungen ist gar keine Rede — der Arbeiter der reichen Trautencmer Fabrikanten noch entsetzlicher sind als die schmutzigsten in den Londoner Sinns. Wir haben schon öfter die Altertumskundigen aufgefordert, uns irgend ein Heiden¬ volk zu nennen, bei dem eine Ausnutzung von Sklavenkindern und Sklavinnen vorgekommen wäre, wie die unsrer „freien" Arbeiterfrauen, Mädchen und Kinder, darauf aber noch keine Antwort erhalten. Ans singers Buch fügen wir zur Begründung unsrer Frage noch folgende Bemerkung (auf S. 81) bei: „So gedenke ich noch mitleidsvoll der wunden Finger der Andreherinnen, die, ob¬ gleich sie die aus ihren Fingern sich bildenden Eiterblasen bei dem steten Han¬ tiren mit dem Faden der Weberkette zerschneiden, dennoch emsig fortarbeiten, was sie sehr oft mit längern Wundkrankheiten zu büßen haben." Die An- dreherinnen sind durchweg jugendliche Arbeiterinnen. Und welche unsrer bürger¬ lichen Zeitungen hätte ausführlich über die Wiener Bergziegelei berichtet, die viel merkwürdiger ist, als die Pester Millenarausstellung sein wird (denn einen solchen Jahrmarktskram findet man in irgend einer Großstadt jedes Jahr). Wegen einiger Berichte der Arbeiterzeitung darüber standen Dr. Adler und ein Mitredakteur am 12. November vor den Geschwornen; sie wurden einstimmig freigesprochen. Adlers Verteidigungsrede begann mit folgenden Worten. „Es war im November 1888, als in meine Wohnung ein junger Mann kam, in Fetzen gehüllt. Ich lud ihn ein, einzutreten. Das ist unmöglich, sagte er, ich bin verkauft. Der Mann hat Kleider bekommen, hat sich gewaschen, dann haben wir gesprochen. Er war ein Arbeiter der Wiener Vergziegelfabrikgesell- schcift. Er hat mir erzählt, was wir bis dahin nur geahnt hatten, was aber die Behörden schon damals hätten wissen sollen, wissen können. Aber ich war vorsichtig, darum habe ich mich persönlich überzeugt. Ich bin bei Nacht hinein ins Werk. Wir mußten uns einschleichen, denn so ohne weiteres kam mau nicht hinein. Wir haben Fürchterliches gesehn. In einem Raume, der ein Zehntel so groß ist wie dieser Saal, wohnen achtzig Menschen beisammen. Auf verfaultem Stroh lagen sie zusammengepfercht, Männer, Weiber und Kinder durcheinander, alle nackt. In einer der Baracken sahen wir eine Fran, die ihr neugebornes Kind neben sich liegen hatte. Ich fragte: Wo sind Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/418>, abgerufen am 24.07.2024.