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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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sind mir Sozicildemokraten?

Recht -- beklagen. Die wachsende Menge der Besitzlosen hat ferner zur Folge
die Entwertung der Arbeit, also die Not der Handwerker und Lohnarbeiter,
die Überfüllung der Industrie, die, zum Export gedrängt, mit den Industrien
aller andern Völker in einen Kampf auf Tod und Leben verwickelt wird (wobei
sich alle jene unversöhnlichen Interessengegensätze ergeben, die Karl Marx auf¬
gedeckt hat), die Überfüllung des Handels mit unnötigen Zwischengliedern,
seine Belastung mit aufdringlicher und schwindelhafter Reklame, die Über¬
schwemmung des Landes mit unproduktiven Existenzen: Spekulanten, Schwind¬
lern, Projektenmachern, überzähligen Litteraten, Betrügern, Hochstaplern, Pro-
stituirten, Verbrechern; endlich, weil aus alle dem unzählige Streitigkeiten und
gefährliche Volksbewegungen entstehen, die Überwucherung des öffentlichen
Lebens mit bürokratischen Elementen, die in verhängnisvollen Zirkel die
Übel, die sie bekämpfen sollen, immer schlimmer machen. Daß der Druck dieser
Spannung, der mehr oder weniger von allen empfunden wird, auf der unterstell
Schicht am schwersten lasten muß, ist eine selbstverständliche Wirkung einfacher
mechanischer Gesetze.

Der größere Teil dieser Übel wird nun von den leitenden Kreisen ohne
weiteres anerkannt. Man hat höhern Orts nichts dagegegen einzuwenden,
daß die Landwirte, die Handwerker, die Kaufleute, die Industriellen, die Be¬
amten seit achtzehn Jahren unaufhörlich ihre Not bejammern, und beteuert
ebenso unaufhörlich seine Bereitwilligkeit, zu helfen. Nur leider, weil mau
nicht den Mut hat, die gemeinsame Grundursache aller Nöte auszusprechen,
bleibt es bei einem zick- und planlosen Gerede: seit 1877, wo das Notstands-
geschrei anfing, ist die Diskussion darüber auch nicht einen Schritt vorwärts
gerückt. Zwei Übel aber sollen schlechterdings nicht genannt werden, auf
keinerlei Weise, nicht laut und nicht leise: die Belastung des Volks mit einem
überzahlreichen Beamtentum und einer überstarken Repressionsmacht, und die
Not des vierten Standes -- denn jede Verbesserung der Lage des vierten Standes
bedroht die andern Stände mit einer Verschlechterung ihres Einkommens. Nun
ist aber die Anerkennung dieser beiden Übel, namentlich des zuletzt genannten,
als des Schlusses der verhängnisvollen Kette, zur Einsicht in die Gesamtlage
unbedingt notwendig, denn der Kern dieser Gesamtlage besteht darin, daß es
bei dem bestehende" Mißverhältnis von Bevölkerung und Boden unmöglich ist,
allen arbeitsfähigen Volksgenossen produktive Arbeit und allen produktiv ar¬
beitenden ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Nur wenn in den leitenden
Kreisen diese Lage anerkannt wird, kann man aus der heillosen, zick- und plan¬
losen Phrasendrescherei heraus zu einer Politik gelangen, die Hand und Fuß
hat. Darum ist es Pflicht des Patrioten, auf die Anerkennung dieser Lage
hinzuwirken, de" Herren, die sich hartnäckig weigern, zu sehen, die Augen ge¬
waltsam aufzureißen, und für diesen Zweck ^ ist die Sozialdemokratin' gar
nicht zu entbehren.


sind mir Sozicildemokraten?

Recht — beklagen. Die wachsende Menge der Besitzlosen hat ferner zur Folge
die Entwertung der Arbeit, also die Not der Handwerker und Lohnarbeiter,
die Überfüllung der Industrie, die, zum Export gedrängt, mit den Industrien
aller andern Völker in einen Kampf auf Tod und Leben verwickelt wird (wobei
sich alle jene unversöhnlichen Interessengegensätze ergeben, die Karl Marx auf¬
gedeckt hat), die Überfüllung des Handels mit unnötigen Zwischengliedern,
seine Belastung mit aufdringlicher und schwindelhafter Reklame, die Über¬
schwemmung des Landes mit unproduktiven Existenzen: Spekulanten, Schwind¬
lern, Projektenmachern, überzähligen Litteraten, Betrügern, Hochstaplern, Pro-
stituirten, Verbrechern; endlich, weil aus alle dem unzählige Streitigkeiten und
gefährliche Volksbewegungen entstehen, die Überwucherung des öffentlichen
Lebens mit bürokratischen Elementen, die in verhängnisvollen Zirkel die
Übel, die sie bekämpfen sollen, immer schlimmer machen. Daß der Druck dieser
Spannung, der mehr oder weniger von allen empfunden wird, auf der unterstell
Schicht am schwersten lasten muß, ist eine selbstverständliche Wirkung einfacher
mechanischer Gesetze.

Der größere Teil dieser Übel wird nun von den leitenden Kreisen ohne
weiteres anerkannt. Man hat höhern Orts nichts dagegegen einzuwenden,
daß die Landwirte, die Handwerker, die Kaufleute, die Industriellen, die Be¬
amten seit achtzehn Jahren unaufhörlich ihre Not bejammern, und beteuert
ebenso unaufhörlich seine Bereitwilligkeit, zu helfen. Nur leider, weil mau
nicht den Mut hat, die gemeinsame Grundursache aller Nöte auszusprechen,
bleibt es bei einem zick- und planlosen Gerede: seit 1877, wo das Notstands-
geschrei anfing, ist die Diskussion darüber auch nicht einen Schritt vorwärts
gerückt. Zwei Übel aber sollen schlechterdings nicht genannt werden, auf
keinerlei Weise, nicht laut und nicht leise: die Belastung des Volks mit einem
überzahlreichen Beamtentum und einer überstarken Repressionsmacht, und die
Not des vierten Standes — denn jede Verbesserung der Lage des vierten Standes
bedroht die andern Stände mit einer Verschlechterung ihres Einkommens. Nun
ist aber die Anerkennung dieser beiden Übel, namentlich des zuletzt genannten,
als des Schlusses der verhängnisvollen Kette, zur Einsicht in die Gesamtlage
unbedingt notwendig, denn der Kern dieser Gesamtlage besteht darin, daß es
bei dem bestehende» Mißverhältnis von Bevölkerung und Boden unmöglich ist,
allen arbeitsfähigen Volksgenossen produktive Arbeit und allen produktiv ar¬
beitenden ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Nur wenn in den leitenden
Kreisen diese Lage anerkannt wird, kann man aus der heillosen, zick- und plan¬
losen Phrasendrescherei heraus zu einer Politik gelangen, die Hand und Fuß
hat. Darum ist es Pflicht des Patrioten, auf die Anerkennung dieser Lage
hinzuwirken, de» Herren, die sich hartnäckig weigern, zu sehen, die Augen ge¬
waltsam aufzureißen, und für diesen Zweck ^ ist die Sozialdemokratin' gar
nicht zu entbehren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/416>, abgerufen am 04.07.2024.