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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
9. Gin idyllisches Ruheplätzchen")

eben der Unruhe, die der Gang der kirchlichen und der poli¬
tischen Entwicklung erregte, peinigte mich die Sorge um meine
und der Meinigen Zukunft. Beim damaligen Stande meiner
Schwerhörigkeit konnte ich allenfalls noch hoffen, eine Pfarrei
zu bekommen, aber wenn sich die Versorgung noch ein paar
Jahre hinzog, nicht mehr. Ich mußte mich also bei jeder Vakanz melden.
Eine Pfarrei, die ein herzoglich meiningischer Güterdirektor zu vergeben hatte,
wäre mir zugefallen, wenn ich ein paar Stunden früher gekommen wäre; eben
war die Präsentation für einen andern nach Meiningen zur Ausfertigung ab¬
gegangen. Als es sich dann um eine größere Pfarrei königlichen Patronats
handelte, hielt der Präsident meinem Gönner, der sehr lebhaft für mich ein¬
trat, meine Schwerhörigkeit entgegen und ließ sich auch durch die Einwendung
nicht umstimmen, daß dieses Übel gerade in einer größern Pfarrei weniger
hindre, weil da die Kaplüne das Beichtehören und dergleichen besorgen könnten.
Hatte ich doch selbst bei Pfarrern gedient, die wenig oder nichts mehr arbei¬
teten, auch einen sehr tauben Superintendenten und einen noch eandem Re¬
gierungspräsidenten kennen gelernt. Also mit einer guten Pfarrei war es
nichts -- zu meinem Glück; denn hätte ich eine bekommen, so würden mich
die Sicherheit und die Annehmlichkeiten meiner Lage vielleicht in dem Grade
gefesselt haben, daß ich als halber Heuchler bis an mein Lebensende darin
ausgehalten und meinen eigentlichen Beruf verfehlt hätte.

Im Winter wurde der kerngesunde rüstige Pfarrer plötzlich krank und
starb nach kurzem Krankenlager. Mit der Administration wurde ich zu meiner
Freude verschont, aber um die Pfarre, die der Bischof zu vergeben hat, mußte
ich natürlich einkommen. Es war damals Brauch, wird es wohl auch noch
heute sein, daß der Fürstbischof, um die Alumnen ein wenig kennen zu lernen,
sie der Reihe nach zu sich zu Tische befahl, jeden Donnerstag zwei. Damals
kam gerade mein Bruder dran. Diesen winkte Förster nach Tische in eine
Fensternische und sagte ihm: "Ihr Bruder ist um Grüssau eingekommen; das



*) Vergl. Heft 35, 36 und 37.


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
9. Gin idyllisches Ruheplätzchen")

eben der Unruhe, die der Gang der kirchlichen und der poli¬
tischen Entwicklung erregte, peinigte mich die Sorge um meine
und der Meinigen Zukunft. Beim damaligen Stande meiner
Schwerhörigkeit konnte ich allenfalls noch hoffen, eine Pfarrei
zu bekommen, aber wenn sich die Versorgung noch ein paar
Jahre hinzog, nicht mehr. Ich mußte mich also bei jeder Vakanz melden.
Eine Pfarrei, die ein herzoglich meiningischer Güterdirektor zu vergeben hatte,
wäre mir zugefallen, wenn ich ein paar Stunden früher gekommen wäre; eben
war die Präsentation für einen andern nach Meiningen zur Ausfertigung ab¬
gegangen. Als es sich dann um eine größere Pfarrei königlichen Patronats
handelte, hielt der Präsident meinem Gönner, der sehr lebhaft für mich ein¬
trat, meine Schwerhörigkeit entgegen und ließ sich auch durch die Einwendung
nicht umstimmen, daß dieses Übel gerade in einer größern Pfarrei weniger
hindre, weil da die Kaplüne das Beichtehören und dergleichen besorgen könnten.
Hatte ich doch selbst bei Pfarrern gedient, die wenig oder nichts mehr arbei¬
teten, auch einen sehr tauben Superintendenten und einen noch eandem Re¬
gierungspräsidenten kennen gelernt. Also mit einer guten Pfarrei war es
nichts — zu meinem Glück; denn hätte ich eine bekommen, so würden mich
die Sicherheit und die Annehmlichkeiten meiner Lage vielleicht in dem Grade
gefesselt haben, daß ich als halber Heuchler bis an mein Lebensende darin
ausgehalten und meinen eigentlichen Beruf verfehlt hätte.

Im Winter wurde der kerngesunde rüstige Pfarrer plötzlich krank und
starb nach kurzem Krankenlager. Mit der Administration wurde ich zu meiner
Freude verschont, aber um die Pfarre, die der Bischof zu vergeben hat, mußte
ich natürlich einkommen. Es war damals Brauch, wird es wohl auch noch
heute sein, daß der Fürstbischof, um die Alumnen ein wenig kennen zu lernen,
sie der Reihe nach zu sich zu Tische befahl, jeden Donnerstag zwei. Damals
kam gerade mein Bruder dran. Diesen winkte Förster nach Tische in eine
Fensternische und sagte ihm: „Ihr Bruder ist um Grüssau eingekommen; das



*) Vergl. Heft 35, 36 und 37.
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[0383] [Abbildung] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 9. Gin idyllisches Ruheplätzchen") eben der Unruhe, die der Gang der kirchlichen und der poli¬ tischen Entwicklung erregte, peinigte mich die Sorge um meine und der Meinigen Zukunft. Beim damaligen Stande meiner Schwerhörigkeit konnte ich allenfalls noch hoffen, eine Pfarrei zu bekommen, aber wenn sich die Versorgung noch ein paar Jahre hinzog, nicht mehr. Ich mußte mich also bei jeder Vakanz melden. Eine Pfarrei, die ein herzoglich meiningischer Güterdirektor zu vergeben hatte, wäre mir zugefallen, wenn ich ein paar Stunden früher gekommen wäre; eben war die Präsentation für einen andern nach Meiningen zur Ausfertigung ab¬ gegangen. Als es sich dann um eine größere Pfarrei königlichen Patronats handelte, hielt der Präsident meinem Gönner, der sehr lebhaft für mich ein¬ trat, meine Schwerhörigkeit entgegen und ließ sich auch durch die Einwendung nicht umstimmen, daß dieses Übel gerade in einer größern Pfarrei weniger hindre, weil da die Kaplüne das Beichtehören und dergleichen besorgen könnten. Hatte ich doch selbst bei Pfarrern gedient, die wenig oder nichts mehr arbei¬ teten, auch einen sehr tauben Superintendenten und einen noch eandem Re¬ gierungspräsidenten kennen gelernt. Also mit einer guten Pfarrei war es nichts — zu meinem Glück; denn hätte ich eine bekommen, so würden mich die Sicherheit und die Annehmlichkeiten meiner Lage vielleicht in dem Grade gefesselt haben, daß ich als halber Heuchler bis an mein Lebensende darin ausgehalten und meinen eigentlichen Beruf verfehlt hätte. Im Winter wurde der kerngesunde rüstige Pfarrer plötzlich krank und starb nach kurzem Krankenlager. Mit der Administration wurde ich zu meiner Freude verschont, aber um die Pfarre, die der Bischof zu vergeben hat, mußte ich natürlich einkommen. Es war damals Brauch, wird es wohl auch noch heute sein, daß der Fürstbischof, um die Alumnen ein wenig kennen zu lernen, sie der Reihe nach zu sich zu Tische befahl, jeden Donnerstag zwei. Damals kam gerade mein Bruder dran. Diesen winkte Förster nach Tische in eine Fensternische und sagte ihm: „Ihr Bruder ist um Grüssau eingekommen; das *) Vergl. Heft 35, 36 und 37.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/383>, abgerufen am 24.07.2024.