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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die reine Interessenvertretung

UM in dem wilden Trubel der Parteipvlitik das Steuer in fester Hand zu be¬
halten. So konnte es nicht ausbleiben, daß seine Stellung unsicher und immer
unsichrer wurde. Da hielten die alten Gegner des Fürsten Vismarck ihre Zeit
für gekommen, sich in die Regierung hineinzudrängen: Freisinn und Demo¬
kratie scharten sich um den Kanzler und breiteten schützend ihre Arme vor ihm
aus, während von der andern Seite die Agrarier gegen den verhaßten Ur¬
heber der Handelsverträge Sturm liefen. Als er aber gar nicht fallen wollte,
da ersann der pfissigste Kopf unter den Mißvergnügten eine schlaue Intrigue.
An die Ermordung Camoes anknüpfend, verlockte der alte Rattenfänger die
Partei, die seit Vismarcks Sturz zwischen rechts und links hin und her irrte
wie eine verlassene Herde Schafe, verlockte sie durch die Aussicht auf einen
Ministersessel oder gar die Kanzlerschaft, ein großes Geschrei zu erheben, das
Vaterland sei in Gefahr, und Sitte und Ordnung müßten geschützt werden.
Der Rattenfänger kannte seine Leute, und nie blühte der Hintertreppenverkehr
zwischen einzelnen Teilen der Regierung und den Parteien mehr, als da das
Zeichen: "Kampf für Religion, Sitte und Ordnung" am Himmel stand. Der
Kanzler versuchte, sich zwischen Scylla und Charybdis der demokratischen Un¬
gnade und der kaiserlichen Ungnade durchzuwinden und geriet natürlich erst
recht in den Strudel.

Nie hat der deutsche Reichstag eine würdelosere Haltung gezeigt als in
dem wüsten Raufen um die Person des zweiten Kanzlers. Als Herr von
Koller den Reichstag später mit seiner spaßhaften Geringschätzung wie eine
Versammlung von Schulbuben bediente, da hätten die grundsätzlichen Gegner
des Fürsten Vismarck erkennen können, wie liberal der Alte in Wirklichkeit
war, und wie thöricht liberale Männer darin handelten, sich selbst von der
Mitarbeit mit ihm auszuschließen. Und als für die Caprivistürmer die Be¬
lohnung ausblieb, als die notleidenden Großindustriellen kein Knebelgesetz für
Sozialdemokraten bekamen, und als den notleidenden Großgrundbesitzern be¬
deutet wurde, es eile nicht so sehr mit Antrag Kanitz und Doppelwährung,
hätten auch sie wohl mit einiger Beschämung einsehen dürfen, was für ein
erniedrigendes Geschüft das Ministerstürzen doch eigentlich für eine Partei des
deutschen Reichstags ist.

Aber Selbsterkenntnis soll sür den einzelnen Menschen schon das schwerste
Geschäft sein; für eine Partei ist sie noch um einiges schwieriger. Dafür sorgt
schon die Presse. Es ist wirklich kaum glaublich, auf einer wie tiefen Stufe
politischer Einsicht selbst große Parteiblütter stehen, sür die es nichts be-
Mckenderes giebt als eine Mitteilung "aus maßgebenden Kreisen." Eine
Nachricht mag noch so nichtssagend, eine Erörterung noch so papieren und ge¬
schmacklos sein, sie wird, mit eiuer pomphaften Einleitung versehen, abgedruckt,
Wenn sie nur über die Hintertreppe eines Ministeriums oder aus dein Partei-
büreau kommt. Geradezu ekelhaft aber ist es, wie sich solche Blätter in der


Die reine Interessenvertretung

UM in dem wilden Trubel der Parteipvlitik das Steuer in fester Hand zu be¬
halten. So konnte es nicht ausbleiben, daß seine Stellung unsicher und immer
unsichrer wurde. Da hielten die alten Gegner des Fürsten Vismarck ihre Zeit
für gekommen, sich in die Regierung hineinzudrängen: Freisinn und Demo¬
kratie scharten sich um den Kanzler und breiteten schützend ihre Arme vor ihm
aus, während von der andern Seite die Agrarier gegen den verhaßten Ur¬
heber der Handelsverträge Sturm liefen. Als er aber gar nicht fallen wollte,
da ersann der pfissigste Kopf unter den Mißvergnügten eine schlaue Intrigue.
An die Ermordung Camoes anknüpfend, verlockte der alte Rattenfänger die
Partei, die seit Vismarcks Sturz zwischen rechts und links hin und her irrte
wie eine verlassene Herde Schafe, verlockte sie durch die Aussicht auf einen
Ministersessel oder gar die Kanzlerschaft, ein großes Geschrei zu erheben, das
Vaterland sei in Gefahr, und Sitte und Ordnung müßten geschützt werden.
Der Rattenfänger kannte seine Leute, und nie blühte der Hintertreppenverkehr
zwischen einzelnen Teilen der Regierung und den Parteien mehr, als da das
Zeichen: „Kampf für Religion, Sitte und Ordnung" am Himmel stand. Der
Kanzler versuchte, sich zwischen Scylla und Charybdis der demokratischen Un¬
gnade und der kaiserlichen Ungnade durchzuwinden und geriet natürlich erst
recht in den Strudel.

Nie hat der deutsche Reichstag eine würdelosere Haltung gezeigt als in
dem wüsten Raufen um die Person des zweiten Kanzlers. Als Herr von
Koller den Reichstag später mit seiner spaßhaften Geringschätzung wie eine
Versammlung von Schulbuben bediente, da hätten die grundsätzlichen Gegner
des Fürsten Vismarck erkennen können, wie liberal der Alte in Wirklichkeit
war, und wie thöricht liberale Männer darin handelten, sich selbst von der
Mitarbeit mit ihm auszuschließen. Und als für die Caprivistürmer die Be¬
lohnung ausblieb, als die notleidenden Großindustriellen kein Knebelgesetz für
Sozialdemokraten bekamen, und als den notleidenden Großgrundbesitzern be¬
deutet wurde, es eile nicht so sehr mit Antrag Kanitz und Doppelwährung,
hätten auch sie wohl mit einiger Beschämung einsehen dürfen, was für ein
erniedrigendes Geschüft das Ministerstürzen doch eigentlich für eine Partei des
deutschen Reichstags ist.

Aber Selbsterkenntnis soll sür den einzelnen Menschen schon das schwerste
Geschäft sein; für eine Partei ist sie noch um einiges schwieriger. Dafür sorgt
schon die Presse. Es ist wirklich kaum glaublich, auf einer wie tiefen Stufe
politischer Einsicht selbst große Parteiblütter stehen, sür die es nichts be-
Mckenderes giebt als eine Mitteilung „aus maßgebenden Kreisen." Eine
Nachricht mag noch so nichtssagend, eine Erörterung noch so papieren und ge¬
schmacklos sein, sie wird, mit eiuer pomphaften Einleitung versehen, abgedruckt,
Wenn sie nur über die Hintertreppe eines Ministeriums oder aus dein Partei-
büreau kommt. Geradezu ekelhaft aber ist es, wie sich solche Blätter in der


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[0313] Die reine Interessenvertretung UM in dem wilden Trubel der Parteipvlitik das Steuer in fester Hand zu be¬ halten. So konnte es nicht ausbleiben, daß seine Stellung unsicher und immer unsichrer wurde. Da hielten die alten Gegner des Fürsten Vismarck ihre Zeit für gekommen, sich in die Regierung hineinzudrängen: Freisinn und Demo¬ kratie scharten sich um den Kanzler und breiteten schützend ihre Arme vor ihm aus, während von der andern Seite die Agrarier gegen den verhaßten Ur¬ heber der Handelsverträge Sturm liefen. Als er aber gar nicht fallen wollte, da ersann der pfissigste Kopf unter den Mißvergnügten eine schlaue Intrigue. An die Ermordung Camoes anknüpfend, verlockte der alte Rattenfänger die Partei, die seit Vismarcks Sturz zwischen rechts und links hin und her irrte wie eine verlassene Herde Schafe, verlockte sie durch die Aussicht auf einen Ministersessel oder gar die Kanzlerschaft, ein großes Geschrei zu erheben, das Vaterland sei in Gefahr, und Sitte und Ordnung müßten geschützt werden. Der Rattenfänger kannte seine Leute, und nie blühte der Hintertreppenverkehr zwischen einzelnen Teilen der Regierung und den Parteien mehr, als da das Zeichen: „Kampf für Religion, Sitte und Ordnung" am Himmel stand. Der Kanzler versuchte, sich zwischen Scylla und Charybdis der demokratischen Un¬ gnade und der kaiserlichen Ungnade durchzuwinden und geriet natürlich erst recht in den Strudel. Nie hat der deutsche Reichstag eine würdelosere Haltung gezeigt als in dem wüsten Raufen um die Person des zweiten Kanzlers. Als Herr von Koller den Reichstag später mit seiner spaßhaften Geringschätzung wie eine Versammlung von Schulbuben bediente, da hätten die grundsätzlichen Gegner des Fürsten Vismarck erkennen können, wie liberal der Alte in Wirklichkeit war, und wie thöricht liberale Männer darin handelten, sich selbst von der Mitarbeit mit ihm auszuschließen. Und als für die Caprivistürmer die Be¬ lohnung ausblieb, als die notleidenden Großindustriellen kein Knebelgesetz für Sozialdemokraten bekamen, und als den notleidenden Großgrundbesitzern be¬ deutet wurde, es eile nicht so sehr mit Antrag Kanitz und Doppelwährung, hätten auch sie wohl mit einiger Beschämung einsehen dürfen, was für ein erniedrigendes Geschüft das Ministerstürzen doch eigentlich für eine Partei des deutschen Reichstags ist. Aber Selbsterkenntnis soll sür den einzelnen Menschen schon das schwerste Geschäft sein; für eine Partei ist sie noch um einiges schwieriger. Dafür sorgt schon die Presse. Es ist wirklich kaum glaublich, auf einer wie tiefen Stufe politischer Einsicht selbst große Parteiblütter stehen, sür die es nichts be- Mckenderes giebt als eine Mitteilung „aus maßgebenden Kreisen." Eine Nachricht mag noch so nichtssagend, eine Erörterung noch so papieren und ge¬ schmacklos sein, sie wird, mit eiuer pomphaften Einleitung versehen, abgedruckt, Wenn sie nur über die Hintertreppe eines Ministeriums oder aus dein Partei- büreau kommt. Geradezu ekelhaft aber ist es, wie sich solche Blätter in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/313>, abgerufen am 24.07.2024.