Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches sollten wir nicht ein bischen Demokraten werden? Was ist doch Bis dahin müssen wir uns eben behelfen. Wer es bor seinem Gewissen Wir selbst haben eine Zeit lang die Ansicht vertreten, daß, da die poli¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches sollten wir nicht ein bischen Demokraten werden? Was ist doch Bis dahin müssen wir uns eben behelfen. Wer es bor seinem Gewissen Wir selbst haben eine Zeit lang die Ansicht vertreten, daß, da die poli¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0204" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221180"/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <div n="2"> <head> sollten wir nicht ein bischen Demokraten werden?</head> <p xml:id="ID_616"> Was ist doch<lb/> Kroatien, was ist die Türkei für eine schöne Gegend! Dort spricht man doch<lb/> noch — deutsch, hätten wir bald gesagt; Leute, die sich nicht leiden können, schlagen<lb/> einander dort auf offner Straße die Schädel ein. Wir finden das weit hübscher<lb/> und anständiger als die anonymen Verdächtigungen, Klatschereien und Hetzereien<lb/> in deu Zeitungen, wie sie bei uns nnter Gegnern Mode sind. Und noch dazu<lb/> können das lebhafte Temperament und die Aufrichtigkeit der Völklein, die da hinten<lb/> — weit hinten ists heute uicht mehr — auf einander schlagen, die großen euro¬<lb/> päischen Fragen, die man feige zurückhält, in Fluß bringen, und das könnte dann<lb/> vielleicht die erfreuliche Wirkung haben, daß die faulige Währung, die man bei<lb/> uns Politik nennt, noch einmal in einen gesunden Nenbilduugs- und Wachstums¬<lb/> prozeß umschlüge.</p><lb/> <p xml:id="ID_617"> Bis dahin müssen wir uns eben behelfen. Wer es bor seinem Gewissen<lb/> verantworten kann, der bleibt bei allen Parteikämpfen zu Hause und schimpft auf<lb/> den Unsinn; wer sich aber für verpflichtet hält, Partei zu nehmen, der muß sich<lb/> eben, wenn ihm seine Verhältnisse die freie Wahl gestatten, nach der Partei um¬<lb/> sehe«, die das Recht und die Vernunft auf ihrer Seite zu haben scheint, oder bei<lb/> der wenigstens das Unrecht und die Unvernunft ein gewisses erträgliches Maß<lb/> nicht überschreite». Da ist uns nun neulich, im 41. Hefte, gesagt worden: nur<lb/> um Gottes willen keine ständischen und keine Interessenvertretungen! Soll die Politik<lb/> gesund bleiben, so müssen die beiden, Natur und Geisterwelt durchwalteudeu Kräfte,<lb/> die bindende, festigende, erhaltende und die befreiende, lösende, durch Veränderung<lb/> fortbildende in den Parteien ihre Verkörperung finden. Damit ist aber unsern<lb/> heutigen großen Parteien das Urteil gesprochen, da sie allesamt Interessenver¬<lb/> tretungen sind in dem Grade, daß dort, wo — immer nur aus Klassen- oder<lb/> Standesinteresse — einmal das eigentlich politische Element zur Geltung kommt,<lb/> die Parteien sich keinen Augenblick bedenken, die durch ihre Parteinamen vor-<lb/> geschriebnen Rollen zu vertausche». Was giebt es heute veränderungssüchtigeres<lb/> als unsre Konservativen, was reaktionäreres als unsre Nationalliberalen? Daß kon¬<lb/> servativ und liberal weder dem Wortsinne noch der Sache nach Gegensätze, diese<lb/> üblich gewordnen Parteibezeichnnngen daher so schlecht wie möglich gewählt sind,<lb/> mag bei dieser Gelegenheit wieder einmal in Erinnerung gebracht werden. Wo<lb/> giebt es also eine wirklich politische Partei?</p><lb/> <p xml:id="ID_618" next="#ID_619"> Wir selbst haben eine Zeit lang die Ansicht vertreten, daß, da die poli¬<lb/> tischen Aufgaben im deutscheu Reiche sämtlich gelöst seien, vor der Hand andre<lb/> als soziale und wirtschaftliche Aufgaben nicht vorlagen, die Parteien daher gar<lb/> nichts andres sein könnten als Vertretungen von Klassen- und Standesinteressen.<lb/> In den letzten Jahren jedoch sind aufs neue politische Fragen aufgetaucht. Die<lb/> Reichsverfassung, insbesondre das Reichstagswahlrecht, ist von sehr angesehenen<lb/> Politikern ernsthaft in Frage gestellt worden, die Bureaukratie und die Polizei<lb/> haben im öffentlichen Leben ein Übergewicht gewonnen, das sich durch den Vor¬<lb/> schlag charakterisirt, den man in einigen großen Städten gemacht hat, Vereine zum<lb/> Schutze der Bürger gegen die Übergriffe der Polizei zu gründen, und die Straf¬<lb/> rechtspflege droht zu einem Monopol der Staatsanwälte zu werden, die es in der<lb/> Gewalt haben, anzuklagen, wen sie wollen, und entkommen zu lassen, wen sie<lb/> nicht anklagen wollen, und die denn auch noch in der Verhandlung die Rolle des</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0204]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
sollten wir nicht ein bischen Demokraten werden? Was ist doch
Kroatien, was ist die Türkei für eine schöne Gegend! Dort spricht man doch
noch — deutsch, hätten wir bald gesagt; Leute, die sich nicht leiden können, schlagen
einander dort auf offner Straße die Schädel ein. Wir finden das weit hübscher
und anständiger als die anonymen Verdächtigungen, Klatschereien und Hetzereien
in deu Zeitungen, wie sie bei uns nnter Gegnern Mode sind. Und noch dazu
können das lebhafte Temperament und die Aufrichtigkeit der Völklein, die da hinten
— weit hinten ists heute uicht mehr — auf einander schlagen, die großen euro¬
päischen Fragen, die man feige zurückhält, in Fluß bringen, und das könnte dann
vielleicht die erfreuliche Wirkung haben, daß die faulige Währung, die man bei
uns Politik nennt, noch einmal in einen gesunden Nenbilduugs- und Wachstums¬
prozeß umschlüge.
Bis dahin müssen wir uns eben behelfen. Wer es bor seinem Gewissen
verantworten kann, der bleibt bei allen Parteikämpfen zu Hause und schimpft auf
den Unsinn; wer sich aber für verpflichtet hält, Partei zu nehmen, der muß sich
eben, wenn ihm seine Verhältnisse die freie Wahl gestatten, nach der Partei um¬
sehe«, die das Recht und die Vernunft auf ihrer Seite zu haben scheint, oder bei
der wenigstens das Unrecht und die Unvernunft ein gewisses erträgliches Maß
nicht überschreite». Da ist uns nun neulich, im 41. Hefte, gesagt worden: nur
um Gottes willen keine ständischen und keine Interessenvertretungen! Soll die Politik
gesund bleiben, so müssen die beiden, Natur und Geisterwelt durchwalteudeu Kräfte,
die bindende, festigende, erhaltende und die befreiende, lösende, durch Veränderung
fortbildende in den Parteien ihre Verkörperung finden. Damit ist aber unsern
heutigen großen Parteien das Urteil gesprochen, da sie allesamt Interessenver¬
tretungen sind in dem Grade, daß dort, wo — immer nur aus Klassen- oder
Standesinteresse — einmal das eigentlich politische Element zur Geltung kommt,
die Parteien sich keinen Augenblick bedenken, die durch ihre Parteinamen vor-
geschriebnen Rollen zu vertausche». Was giebt es heute veränderungssüchtigeres
als unsre Konservativen, was reaktionäreres als unsre Nationalliberalen? Daß kon¬
servativ und liberal weder dem Wortsinne noch der Sache nach Gegensätze, diese
üblich gewordnen Parteibezeichnnngen daher so schlecht wie möglich gewählt sind,
mag bei dieser Gelegenheit wieder einmal in Erinnerung gebracht werden. Wo
giebt es also eine wirklich politische Partei?
Wir selbst haben eine Zeit lang die Ansicht vertreten, daß, da die poli¬
tischen Aufgaben im deutscheu Reiche sämtlich gelöst seien, vor der Hand andre
als soziale und wirtschaftliche Aufgaben nicht vorlagen, die Parteien daher gar
nichts andres sein könnten als Vertretungen von Klassen- und Standesinteressen.
In den letzten Jahren jedoch sind aufs neue politische Fragen aufgetaucht. Die
Reichsverfassung, insbesondre das Reichstagswahlrecht, ist von sehr angesehenen
Politikern ernsthaft in Frage gestellt worden, die Bureaukratie und die Polizei
haben im öffentlichen Leben ein Übergewicht gewonnen, das sich durch den Vor¬
schlag charakterisirt, den man in einigen großen Städten gemacht hat, Vereine zum
Schutze der Bürger gegen die Übergriffe der Polizei zu gründen, und die Straf¬
rechtspflege droht zu einem Monopol der Staatsanwälte zu werden, die es in der
Gewalt haben, anzuklagen, wen sie wollen, und entkommen zu lassen, wen sie
nicht anklagen wollen, und die denn auch noch in der Verhandlung die Rolle des
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |