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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Veltpolitik

von einander ausschließt. Beide sind asiatische Mächte, aber in wie ver-
schiednen Sinne! Wo ist die Grenze zwischen Nußland und Asien, Russen-
und Asiatentum? Geographisch und ethnographisch ist Osteuropa ein Stück
Asien, und das Gefühl davon geht in Russen und Asiaten gleichmäßig
über. Gerade Indien gegenüber erweist sich dieses osteuropäisch-asiatische Ge¬
meinbewußtsein als geschichtlich tief begründet. Die Russen rechnen sich zu
den von Norden hereinbrechenden Eroberern Indiens, die die Fähigkeit be¬
saßen, sich in der Halbinsel auszubreiten, sich dem Lande anzupassen. Als
Beherrscher Zentralasiens haben sie die Erbschaft des kriegerischen Sinnes der
Tnrkvölker Zentralasiens und ihres Verlangens nach Indien angetreten, in
dessen reiche Ebnen Mongolen und Türken, ihre Vorgänger, so oft hinab¬
gestiegen sind, um die schwachen dunkeln Völker mit wenigen kräftigen Schlägen
zu unterwerfen. Die Vertreter der höchsten Bildung sprechen diese asiatischen
Gedanken aus,^) die ganz dazu angethan sind, die Triebkraft politischer Ideale
von greifbarer Natur im großen und kleinen zu entfalten. Wenn sie- die
Schwäche der englischen Herrschaft in Indien in der Unfähigkeit der Eng¬
länder sehen, sich so wie sie in Asien hineinzuleben, bekunden sie zugleich
einen Glauben an sich selbst, der nur noch in einem andern ebenso expansiven
und ebenso selbstglüubigen Volke der Gegenwart, den Nordamerikanern, lebt.

Nicht bloß an der russisch-afghanischen Grenze ist eine Art Kriegspartei
beständig bereit, die gefürchteten Kosakenpatrouillen, die manchmal zu kleinen
fliegenden Kolonnen anwachsen, in das für streitig gehaltne Gebiet nach allen
Seiten hin, aber immer in der Richtung Indiens zu senden; in der ganzen
russischen Armee ist die Auffassung verbreitet, daß Rußland jede Gelegenheit
benutzen müsse, hier vorzurücken. Berühmte Strategen bekräftigen sie, und was
besonders gefährlich ist: seit der von angeblich 10000 Afghanen unterschriebnen
Einladung schir Alis an den General Abramofs, nach Kabul zu kommen,
glaubt jeder Russe, ganz Afghanistan sehne sich, durch Rußland von England
befreit zu werden. Ein für England, Indien und Afghanistan ganz besonders
gefährlicher Glaube! Dazu kommt die Anwesenheit Jsak Khans, des afghanischen
Thronprütendenden, auf russischem Boden, der sich einer russischen Pension
erfreut und auf den Augenblick wartet, wo er die afghanische Grenze über¬
schreiten kann, um wenigstens seine alte Provinz Afghanisch-Turkestan wieder¬
zugewinnen. Besonders dieser macht die Gesundheit des regierenden Emir
Abdurrhaman Khan für England zu einer Staatsangelegenheit ersten Ranges.



Bei uns hat sich im Bewußtsein des Volkes kein bewußter Gegensatz zu Asien ge¬
bildet, weil wir selbst dessen wesentlichster Teil waren und noch immer sind, weil wir dessen
Leben geführt, dessen geistige Interessen geteilt haben und schon durch unsre geographische Lage
immer berufen waren, die Führung des Ostens zu übernehmen, dieses Ostens, der nur in und
durch uns allmählich zu einem hbhern Bewußtsein und zu einer menschenwürdigen Daseinsform
erwachsen kann. (Fürst Uchtomsky, Die Orientreise des Großfürsten Thronfolger I, S, 236.)
Zur Kenntnis der englischen Veltpolitik

von einander ausschließt. Beide sind asiatische Mächte, aber in wie ver-
schiednen Sinne! Wo ist die Grenze zwischen Nußland und Asien, Russen-
und Asiatentum? Geographisch und ethnographisch ist Osteuropa ein Stück
Asien, und das Gefühl davon geht in Russen und Asiaten gleichmäßig
über. Gerade Indien gegenüber erweist sich dieses osteuropäisch-asiatische Ge¬
meinbewußtsein als geschichtlich tief begründet. Die Russen rechnen sich zu
den von Norden hereinbrechenden Eroberern Indiens, die die Fähigkeit be¬
saßen, sich in der Halbinsel auszubreiten, sich dem Lande anzupassen. Als
Beherrscher Zentralasiens haben sie die Erbschaft des kriegerischen Sinnes der
Tnrkvölker Zentralasiens und ihres Verlangens nach Indien angetreten, in
dessen reiche Ebnen Mongolen und Türken, ihre Vorgänger, so oft hinab¬
gestiegen sind, um die schwachen dunkeln Völker mit wenigen kräftigen Schlägen
zu unterwerfen. Die Vertreter der höchsten Bildung sprechen diese asiatischen
Gedanken aus,^) die ganz dazu angethan sind, die Triebkraft politischer Ideale
von greifbarer Natur im großen und kleinen zu entfalten. Wenn sie- die
Schwäche der englischen Herrschaft in Indien in der Unfähigkeit der Eng¬
länder sehen, sich so wie sie in Asien hineinzuleben, bekunden sie zugleich
einen Glauben an sich selbst, der nur noch in einem andern ebenso expansiven
und ebenso selbstglüubigen Volke der Gegenwart, den Nordamerikanern, lebt.

Nicht bloß an der russisch-afghanischen Grenze ist eine Art Kriegspartei
beständig bereit, die gefürchteten Kosakenpatrouillen, die manchmal zu kleinen
fliegenden Kolonnen anwachsen, in das für streitig gehaltne Gebiet nach allen
Seiten hin, aber immer in der Richtung Indiens zu senden; in der ganzen
russischen Armee ist die Auffassung verbreitet, daß Rußland jede Gelegenheit
benutzen müsse, hier vorzurücken. Berühmte Strategen bekräftigen sie, und was
besonders gefährlich ist: seit der von angeblich 10000 Afghanen unterschriebnen
Einladung schir Alis an den General Abramofs, nach Kabul zu kommen,
glaubt jeder Russe, ganz Afghanistan sehne sich, durch Rußland von England
befreit zu werden. Ein für England, Indien und Afghanistan ganz besonders
gefährlicher Glaube! Dazu kommt die Anwesenheit Jsak Khans, des afghanischen
Thronprütendenden, auf russischem Boden, der sich einer russischen Pension
erfreut und auf den Augenblick wartet, wo er die afghanische Grenze über¬
schreiten kann, um wenigstens seine alte Provinz Afghanisch-Turkestan wieder¬
zugewinnen. Besonders dieser macht die Gesundheit des regierenden Emir
Abdurrhaman Khan für England zu einer Staatsangelegenheit ersten Ranges.



Bei uns hat sich im Bewußtsein des Volkes kein bewußter Gegensatz zu Asien ge¬
bildet, weil wir selbst dessen wesentlichster Teil waren und noch immer sind, weil wir dessen
Leben geführt, dessen geistige Interessen geteilt haben und schon durch unsre geographische Lage
immer berufen waren, die Führung des Ostens zu übernehmen, dieses Ostens, der nur in und
durch uns allmählich zu einem hbhern Bewußtsein und zu einer menschenwürdigen Daseinsform
erwachsen kann. (Fürst Uchtomsky, Die Orientreise des Großfürsten Thronfolger I, S, 236.)
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/118>, abgerufen am 04.07.2024.