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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der ewige Jude und der Teufel

Legende und Geschichte den Dichter ergreifen, und wiederum jede, die aus den
Eindrücken des Lebens der Gegenwart und den Hypothesen der modernen
Wissenschaft heraus die Phantasie eines Dichters erfüllen kann, kommt in
Haushofers "Ewigen Juden" ebenso zu ihrem Recht und zum Wort, wie
jede Form und jedes Metrum (auch hierin die Vergleichung mit dem zweiten
Teil des Faust herausfordernd) innerhalb des 500 Seiten langen Gedichts
zur Anwendung kommt. Haushofers Ahasver vertritt gleichsam ein ver¬
steinertes Menschentum und begleitet die Menschheitsgeschicke über die Zeiten
der Völkerwanderung (im Mythus), des Mittelalters (in der Tragödie) und
bis in die Gegenwart und in eine Zukunft (die der Dichter in der phan¬
tastischen Komödie zweitausend Jahre nach 1886 setzt), er steht noch an der
Seite des letzten Menschen und wandelt als Schwarz im Nachspiel am Irren¬
haus vorüber und in die Welt hinaus:

Aus diesen Andeutungen allein kann der Leser entnehmen, daß Haushofers
phantasievolles Werk ein allmähliches Einleben, nachempfinden und Erkennen
fordert und -- verdient. Als der ergreifendste und in sich geschlossenste Teil
der viel umfassenden Dichtung erscheint uns die in der Mitte stehende Tra¬
gödie des Alchemisten Ernst von Werth und seiner Pflegetochter Elfe. Die
phantastische Komödie des Schlusses ist vielleicht geistreicher, jedenfalls be¬
weglicher und blitzender, läßt aber keinen reinen Eindruck aufkommen. Die
pessimistischen Prophezeiungen vom Ende der Erde und , der Menschheit klingen
in verwandte Stimmungen des Tages hinein und lassen deutlich erkennen,
wie es allmählich auch den Stärksten bei ihrer Gottähnlichkeit bange geworden
ist. Das Gedicht hat nicht die geringste Aussicht auf einen Masfenerfolg,
aber den vollsten Anspruch auf ernste Teilnahme und bleibende Anerkennung
der wenigen, die die Größe und den Ernst seiner poetischen Absicht, den
poetischen Reichtum seiner Einzelausführung zu schätzen vermögen. Das Er¬
scheinen einer zweiten Auflage bezeugt, daß diese Teilnahme in engern Kreisen
schon wirksam geworden ist.

Merkwürdig läßt sich das an dritter Stelle genannte Mysterium Ahasver
von Johannes Lepsius an. Es spielt zur Zeit des jüdischen Aufstands
und der Eroberung Jerusalems, also noch nicht vierzig Jahre nach der Kreu¬
zigung Christi, und mischt in höchst eigentümlicher Weise die Elemente des
alten allegorischen Mysteriums, und einer modernen, ganz naturalistischen Dar-


Der ewige Jude und der Teufel

Legende und Geschichte den Dichter ergreifen, und wiederum jede, die aus den
Eindrücken des Lebens der Gegenwart und den Hypothesen der modernen
Wissenschaft heraus die Phantasie eines Dichters erfüllen kann, kommt in
Haushofers „Ewigen Juden" ebenso zu ihrem Recht und zum Wort, wie
jede Form und jedes Metrum (auch hierin die Vergleichung mit dem zweiten
Teil des Faust herausfordernd) innerhalb des 500 Seiten langen Gedichts
zur Anwendung kommt. Haushofers Ahasver vertritt gleichsam ein ver¬
steinertes Menschentum und begleitet die Menschheitsgeschicke über die Zeiten
der Völkerwanderung (im Mythus), des Mittelalters (in der Tragödie) und
bis in die Gegenwart und in eine Zukunft (die der Dichter in der phan¬
tastischen Komödie zweitausend Jahre nach 1886 setzt), er steht noch an der
Seite des letzten Menschen und wandelt als Schwarz im Nachspiel am Irren¬
haus vorüber und in die Welt hinaus:

Aus diesen Andeutungen allein kann der Leser entnehmen, daß Haushofers
phantasievolles Werk ein allmähliches Einleben, nachempfinden und Erkennen
fordert und — verdient. Als der ergreifendste und in sich geschlossenste Teil
der viel umfassenden Dichtung erscheint uns die in der Mitte stehende Tra¬
gödie des Alchemisten Ernst von Werth und seiner Pflegetochter Elfe. Die
phantastische Komödie des Schlusses ist vielleicht geistreicher, jedenfalls be¬
weglicher und blitzender, läßt aber keinen reinen Eindruck aufkommen. Die
pessimistischen Prophezeiungen vom Ende der Erde und , der Menschheit klingen
in verwandte Stimmungen des Tages hinein und lassen deutlich erkennen,
wie es allmählich auch den Stärksten bei ihrer Gottähnlichkeit bange geworden
ist. Das Gedicht hat nicht die geringste Aussicht auf einen Masfenerfolg,
aber den vollsten Anspruch auf ernste Teilnahme und bleibende Anerkennung
der wenigen, die die Größe und den Ernst seiner poetischen Absicht, den
poetischen Reichtum seiner Einzelausführung zu schätzen vermögen. Das Er¬
scheinen einer zweiten Auflage bezeugt, daß diese Teilnahme in engern Kreisen
schon wirksam geworden ist.

Merkwürdig läßt sich das an dritter Stelle genannte Mysterium Ahasver
von Johannes Lepsius an. Es spielt zur Zeit des jüdischen Aufstands
und der Eroberung Jerusalems, also noch nicht vierzig Jahre nach der Kreu¬
zigung Christi, und mischt in höchst eigentümlicher Weise die Elemente des
alten allegorischen Mysteriums, und einer modernen, ganz naturalistischen Dar-


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[0088] Der ewige Jude und der Teufel Legende und Geschichte den Dichter ergreifen, und wiederum jede, die aus den Eindrücken des Lebens der Gegenwart und den Hypothesen der modernen Wissenschaft heraus die Phantasie eines Dichters erfüllen kann, kommt in Haushofers „Ewigen Juden" ebenso zu ihrem Recht und zum Wort, wie jede Form und jedes Metrum (auch hierin die Vergleichung mit dem zweiten Teil des Faust herausfordernd) innerhalb des 500 Seiten langen Gedichts zur Anwendung kommt. Haushofers Ahasver vertritt gleichsam ein ver¬ steinertes Menschentum und begleitet die Menschheitsgeschicke über die Zeiten der Völkerwanderung (im Mythus), des Mittelalters (in der Tragödie) und bis in die Gegenwart und in eine Zukunft (die der Dichter in der phan¬ tastischen Komödie zweitausend Jahre nach 1886 setzt), er steht noch an der Seite des letzten Menschen und wandelt als Schwarz im Nachspiel am Irren¬ haus vorüber und in die Welt hinaus: Aus diesen Andeutungen allein kann der Leser entnehmen, daß Haushofers phantasievolles Werk ein allmähliches Einleben, nachempfinden und Erkennen fordert und — verdient. Als der ergreifendste und in sich geschlossenste Teil der viel umfassenden Dichtung erscheint uns die in der Mitte stehende Tra¬ gödie des Alchemisten Ernst von Werth und seiner Pflegetochter Elfe. Die phantastische Komödie des Schlusses ist vielleicht geistreicher, jedenfalls be¬ weglicher und blitzender, läßt aber keinen reinen Eindruck aufkommen. Die pessimistischen Prophezeiungen vom Ende der Erde und , der Menschheit klingen in verwandte Stimmungen des Tages hinein und lassen deutlich erkennen, wie es allmählich auch den Stärksten bei ihrer Gottähnlichkeit bange geworden ist. Das Gedicht hat nicht die geringste Aussicht auf einen Masfenerfolg, aber den vollsten Anspruch auf ernste Teilnahme und bleibende Anerkennung der wenigen, die die Größe und den Ernst seiner poetischen Absicht, den poetischen Reichtum seiner Einzelausführung zu schätzen vermögen. Das Er¬ scheinen einer zweiten Auflage bezeugt, daß diese Teilnahme in engern Kreisen schon wirksam geworden ist. Merkwürdig läßt sich das an dritter Stelle genannte Mysterium Ahasver von Johannes Lepsius an. Es spielt zur Zeit des jüdischen Aufstands und der Eroberung Jerusalems, also noch nicht vierzig Jahre nach der Kreu¬ zigung Christi, und mischt in höchst eigentümlicher Weise die Elemente des alten allegorischen Mysteriums, und einer modernen, ganz naturalistischen Dar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/88>, abgerufen am 30.06.2024.