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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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der vorliegenden Leistung nicht behaupten, denn wenn er es hat, so hat er es
hier mit großem Geschick verborgen.

Wir wollen uns, nachdem wir einmal in den Vergleich mit Bellamy
hineingeraten sind, kurz den Rahmen vergegenwärtigen, in den dieser seinen
"Rückblick" gefaßt hat, denn diese scheinbare Abschweifung dürste auch den
Lesern willkommen sein, die das Buch des Amerikaners kennen. Es beginnt
ohne Umschweife mit der Behauptung, im Jahre 2000 n. Chr. im Auftrag
der Historischen Sektion der Bostoner Universität gedruckt zu sein. Mit einer
Erklärung des Umstandes, wie wir schon heute in den Besitz eines erst nach
hundert Jahren gedruckten Buches gelangen, giebt sich Bellamy nicht ab, und
daß er uns damit verschont, schon darin verrät sich, so seltsam es klingen mag,
seine Begabung. Er verfährt also, als ob es darauf ankäme, die Menschen
des Jahres 2000 über die Zustände am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
aufzuklären, und weil er weiß, daß es nicht jedermanns Sache ist, kultur¬
geschichtlichen Auseinandersetzungen zu folgen, so kleidet er seine Rückblicke in
einen Roman. So entsteht die Geschichte des Herrn Julian West, der im
Jahre 1857 in Boston geboren ist und durch einen seltsamen Zufall die
hundertdreizehn Jahre von 1887 bis 2000 -- verschlafen hat. Und das kam
so. Julian West war im Jahre 1887 der glückliche Bräutigam der schönen
und reichen Edles Bartlett. Nichts trübte den Gesichtskreis der beiden als
die Thatsache, daß ein Streik der Bauarbeiter die Vollendung des Hauses,
das sich der Bräutigam baute, und damit den Zeitpunkt der Vermählung
hinauszuschieben drohte. Eines Abends, es war am 30. Mai des Jahres
1887, verließ Julian, der, obwohl im übrigen gesund, seit einiger Zeit an
Schlaflosigkeit litt, früher als sonst seine Braut, in der Hoffnung, endlich den
seit mehreren Nächten entbehrten Schlaf zu finden. Das Haus, worin er
wohnte, hatte seit drei Geschlechtern seiner Familie gehört, deren letzter Sproß
er war. Es war ein altes, großes Gebäude, im Innern zwar mit vornehmer
altmodischer Eleganz ausgestattet, aber in einem Viertel gelegen, das schon
lange aufgehört hatte, eine begehrenswerte Gegend zu sein. Dieses Haus hatte
eine Eigentümlichkeit, die sein Besitzer nach seiner Vermählung sehr zu ver¬
missen fürchtete, nämlich ein Schlafgemach, das er sich wegen des nächtlichen
großen Lärms und seiner quälenden Schlaflosigkeit unter den Grundmauern
hatte bauen lassen. Aber selbst hier fand Herr West nur selten zwei Nächte
hinter einander Schlaf, und zuletzt war er so an das Wachen - gewohnt, daß
er sich um den Verlust einer Nachtruhe wenig mehr kümmerte. Wenn aber
auch eine zweite Nacht verging, ohne daß sich der Schlaf einstellte, so fühlte
er sich fo erschöpft, daß er aus Furcht vor einer schweren Nervenkrankheit zu
künstlichen Mitteln griff. Am Abend des folgenden Tages Pflegte er dann
einen Magnetiseur zu rufen, der ihn in einen Schlaf versenkte, aus dem er
uur durch die Umkehrung des hypnotischen Verfahrens wieder geweckt werden


Lntrückt in die Zukunft

der vorliegenden Leistung nicht behaupten, denn wenn er es hat, so hat er es
hier mit großem Geschick verborgen.

Wir wollen uns, nachdem wir einmal in den Vergleich mit Bellamy
hineingeraten sind, kurz den Rahmen vergegenwärtigen, in den dieser seinen
„Rückblick" gefaßt hat, denn diese scheinbare Abschweifung dürste auch den
Lesern willkommen sein, die das Buch des Amerikaners kennen. Es beginnt
ohne Umschweife mit der Behauptung, im Jahre 2000 n. Chr. im Auftrag
der Historischen Sektion der Bostoner Universität gedruckt zu sein. Mit einer
Erklärung des Umstandes, wie wir schon heute in den Besitz eines erst nach
hundert Jahren gedruckten Buches gelangen, giebt sich Bellamy nicht ab, und
daß er uns damit verschont, schon darin verrät sich, so seltsam es klingen mag,
seine Begabung. Er verfährt also, als ob es darauf ankäme, die Menschen
des Jahres 2000 über die Zustände am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
aufzuklären, und weil er weiß, daß es nicht jedermanns Sache ist, kultur¬
geschichtlichen Auseinandersetzungen zu folgen, so kleidet er seine Rückblicke in
einen Roman. So entsteht die Geschichte des Herrn Julian West, der im
Jahre 1857 in Boston geboren ist und durch einen seltsamen Zufall die
hundertdreizehn Jahre von 1887 bis 2000 — verschlafen hat. Und das kam
so. Julian West war im Jahre 1887 der glückliche Bräutigam der schönen
und reichen Edles Bartlett. Nichts trübte den Gesichtskreis der beiden als
die Thatsache, daß ein Streik der Bauarbeiter die Vollendung des Hauses,
das sich der Bräutigam baute, und damit den Zeitpunkt der Vermählung
hinauszuschieben drohte. Eines Abends, es war am 30. Mai des Jahres
1887, verließ Julian, der, obwohl im übrigen gesund, seit einiger Zeit an
Schlaflosigkeit litt, früher als sonst seine Braut, in der Hoffnung, endlich den
seit mehreren Nächten entbehrten Schlaf zu finden. Das Haus, worin er
wohnte, hatte seit drei Geschlechtern seiner Familie gehört, deren letzter Sproß
er war. Es war ein altes, großes Gebäude, im Innern zwar mit vornehmer
altmodischer Eleganz ausgestattet, aber in einem Viertel gelegen, das schon
lange aufgehört hatte, eine begehrenswerte Gegend zu sein. Dieses Haus hatte
eine Eigentümlichkeit, die sein Besitzer nach seiner Vermählung sehr zu ver¬
missen fürchtete, nämlich ein Schlafgemach, das er sich wegen des nächtlichen
großen Lärms und seiner quälenden Schlaflosigkeit unter den Grundmauern
hatte bauen lassen. Aber selbst hier fand Herr West nur selten zwei Nächte
hinter einander Schlaf, und zuletzt war er so an das Wachen - gewohnt, daß
er sich um den Verlust einer Nachtruhe wenig mehr kümmerte. Wenn aber
auch eine zweite Nacht verging, ohne daß sich der Schlaf einstellte, so fühlte
er sich fo erschöpft, daß er aus Furcht vor einer schweren Nervenkrankheit zu
künstlichen Mitteln griff. Am Abend des folgenden Tages Pflegte er dann
einen Magnetiseur zu rufen, der ihn in einen Schlaf versenkte, aus dem er
uur durch die Umkehrung des hypnotischen Verfahrens wieder geweckt werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/624>, abgerufen am 27.07.2024.