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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die große Berliner Kunstausstellung

zu fassen. Wenn Künstler -- wir denken dabei nur an die deutschen -- sich
alljährlich an einer Ausstellung beteiligen, darf man nicht jedes Jahr nach
Fortschritten spüren. Man kann froh sein, wenn man einen Stillstand, ein
Verharren auf der einmal gewonnenen Höhe beobachtet. Wir können auch
froh sein, wenn Männer wie Kraus, Menzel, Graf Harrach, H. Eschke, A. von
Werner, Holmberg, Wenglein, Ernst Körner -- ich greife nur ein paar Namen
aus der Zahl der allgemein bekannten auf unsrer Ausstellung vertretnen Maler
heraus -- noch recht lange in der gleichen Art und Kraft weiter schaffen, die
wir schon seit Jahrzehnten an ihnen schätzen. Sie bilden den alten Stamm
in dem Kampfe mit den vom Ausland eingeführten, der deutschen Kunst feind¬
lichen Elementen, weil sie unsre nationale Eigenart am reinsten bewahren.
Die Berliner Plastik, auf die wir sonst immer zählen durften, können wir in
diesem Jahre nicht zu Hilfe rufen. Es scheint, daß die Massenanfertigung der
Kaiser- und Kriegerdenkmäler der letzten zwei Jahrzehnte ihre Kräfte so stark
in Anspruch genommen hat, daß sie darüber keine Zeit zur Vertiefung ge¬
funden hat. Gegen das oberflächliche Pathos dieser Art von Plastik macht
sich schon seit längerer Zeit eine Reaktion geltend, die noch niemals so ener¬
gisch hervorgetreten ist wie in diesem Jahre. Sie ging von München aus,
wo einige junge Bildhauer an die italienische Frührenaissance, besonders an die
florentinische anknüpften, und in ihrem Stil Madonnenbilder in Büsten- und
Reliefform, biblische und mythologische Figuren, Porträtbüsten und -Reliefs
u. dergl. in. ausführten. Sie fanden in Berlin nicht weniger Nachahmer als
in München, und heute ist in der jungen deutschen Bildhauerwelt das üppige
Schwelgen im Barockstil fast völlig durch die strenge Askese der italienischen
Frührenaissance verdrängt worden. Das Relief kann nicht flach und körperlos
genug sein, und wo es nicht wirkt, hilft man ihm mit Bemalung nach. In
den runden Bildwerken wird streng auf eine äußerst schmächtige Körperbildung
gehalten: Arme, Beine und Oberkörper müssen so dünn und ätherisch sein,
daß ihre Inhaber jeden Augenblick bereit sein können, zu den himmlischen
Sphären zu entschwinden. Dieser Fanatismus hat wenigstens das Gute ge¬
habt, daß die jungen Bildhauer auf einem Umwege zu dem Urquell der Plastik,
zur Antike zurückgeführt worden sind. Ein junger Berliner Künstler, L. Tnaillon,
hat mit einem Erzeugnis seiner römischen Studien, einer auf ihrem Rosse des
feindlichen Angriffs gewärtigen Amazone von schlankem, edelm Körperbau, den
Weg gezeigt, auf dem die deutsche Plastik zurückzukehren hat, um frische Kräfte
zu sammeln. Dem Bildhauer selbst aus dieser ersten Äußerung seiner Kraft
ein günstiges Horoskop für seine Zukunft zu stellen, müssen wir jedoch ab¬
lehnen.

Wie oft haben wir es in den letzten fünfundzwanzig Jahren erlebt, daß
ein junger Maler oder Bildhauer, der durch einen glücklichen Wurf der Held
einer Kunstausstellung geworden war, schon nach wenigen Jahren in das Dunkel


Die große Berliner Kunstausstellung

zu fassen. Wenn Künstler — wir denken dabei nur an die deutschen — sich
alljährlich an einer Ausstellung beteiligen, darf man nicht jedes Jahr nach
Fortschritten spüren. Man kann froh sein, wenn man einen Stillstand, ein
Verharren auf der einmal gewonnenen Höhe beobachtet. Wir können auch
froh sein, wenn Männer wie Kraus, Menzel, Graf Harrach, H. Eschke, A. von
Werner, Holmberg, Wenglein, Ernst Körner — ich greife nur ein paar Namen
aus der Zahl der allgemein bekannten auf unsrer Ausstellung vertretnen Maler
heraus — noch recht lange in der gleichen Art und Kraft weiter schaffen, die
wir schon seit Jahrzehnten an ihnen schätzen. Sie bilden den alten Stamm
in dem Kampfe mit den vom Ausland eingeführten, der deutschen Kunst feind¬
lichen Elementen, weil sie unsre nationale Eigenart am reinsten bewahren.
Die Berliner Plastik, auf die wir sonst immer zählen durften, können wir in
diesem Jahre nicht zu Hilfe rufen. Es scheint, daß die Massenanfertigung der
Kaiser- und Kriegerdenkmäler der letzten zwei Jahrzehnte ihre Kräfte so stark
in Anspruch genommen hat, daß sie darüber keine Zeit zur Vertiefung ge¬
funden hat. Gegen das oberflächliche Pathos dieser Art von Plastik macht
sich schon seit längerer Zeit eine Reaktion geltend, die noch niemals so ener¬
gisch hervorgetreten ist wie in diesem Jahre. Sie ging von München aus,
wo einige junge Bildhauer an die italienische Frührenaissance, besonders an die
florentinische anknüpften, und in ihrem Stil Madonnenbilder in Büsten- und
Reliefform, biblische und mythologische Figuren, Porträtbüsten und -Reliefs
u. dergl. in. ausführten. Sie fanden in Berlin nicht weniger Nachahmer als
in München, und heute ist in der jungen deutschen Bildhauerwelt das üppige
Schwelgen im Barockstil fast völlig durch die strenge Askese der italienischen
Frührenaissance verdrängt worden. Das Relief kann nicht flach und körperlos
genug sein, und wo es nicht wirkt, hilft man ihm mit Bemalung nach. In
den runden Bildwerken wird streng auf eine äußerst schmächtige Körperbildung
gehalten: Arme, Beine und Oberkörper müssen so dünn und ätherisch sein,
daß ihre Inhaber jeden Augenblick bereit sein können, zu den himmlischen
Sphären zu entschwinden. Dieser Fanatismus hat wenigstens das Gute ge¬
habt, daß die jungen Bildhauer auf einem Umwege zu dem Urquell der Plastik,
zur Antike zurückgeführt worden sind. Ein junger Berliner Künstler, L. Tnaillon,
hat mit einem Erzeugnis seiner römischen Studien, einer auf ihrem Rosse des
feindlichen Angriffs gewärtigen Amazone von schlankem, edelm Körperbau, den
Weg gezeigt, auf dem die deutsche Plastik zurückzukehren hat, um frische Kräfte
zu sammeln. Dem Bildhauer selbst aus dieser ersten Äußerung seiner Kraft
ein günstiges Horoskop für seine Zukunft zu stellen, müssen wir jedoch ab¬
lehnen.

Wie oft haben wir es in den letzten fünfundzwanzig Jahren erlebt, daß
ein junger Maler oder Bildhauer, der durch einen glücklichen Wurf der Held
einer Kunstausstellung geworden war, schon nach wenigen Jahren in das Dunkel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/444>, abgerufen am 28.07.2024.