Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gelehrte sehr genau gemerkt und sich denkend zu eigen gemacht. Als ich Ein¬
wendungen erhob, schaute er mich groß und verwundert an. Ich schwieg in
der Erkenntnis, daß hier nichts mehr zu machen sei, und erstaunte über die
Schnelligkeit und Stärke der Veränderung meines Innern.

Die Zeitungen, die ich täglich las, waren die Schlesische und die liberal¬
katholischen Kölnischen Blätter. Die ultramontanen Hausblätter sah ich schon
seit längerer Zeit nicht mehr an, nicht etwa nach dem vorhin empfohlenen
Grundsatz, um mich nicht irre machen zu lassen, sondern im Gegenteil aus
Furcht, mein Temperament könnte mich zu öffentlichem Widerspruch hinreißen.
Wie gerechtfertigt diese Vorsicht war, sollte sich bald zeigen. Nach Tische ging
ich gewöhnlich aus ein paar Minuten zu meinem Mitkaplan, um ihn zu fragen,
was er beim Pfarrer aus der geistlichen Welt neues erfahren habe; die Haus-
blütter, die er mit herausbrachte, rührte ich nicht an. Am 22. April aber, es
war ein Freitag, warf ich unvorsichtigerweise einen Blick hinein, und zwei
Stunden später lag meine Erklärung schon im Briefkasten. Sie erschien in
der nächsten Sonntagsnummer der Schlesischen Zeitung und lautete:

Die Breslauer Hausblätter schreiben am heutigen Tage u. ni.: "Der Klerus,
sagt ihr weiter, ist in den gegenwärtigen kirchlichen Fragen gespalten. Und welches
sind diese Fragen? Ob die Definition der Jnfallibilität opportun oder nicht opportun
sei. Das geben wir zu. Ob diese Definition ein neues Dogma, ein Abfall vom
alten Glauben sei oder nicht, das verneinen wir entschieden. Legt doch einmal
die so formulirte Frage dem schlesischen Klerus vor, dann werdet ihr sehen, auf
welche Seite er tritt."

Mit diesen Worten ist ja dem schlesischen Klerus die Frage schou vorgelegt,
und ich für meine Person halte mich für verpflichtet, zu antworten.

1. Die Lehre von der Jnfallibilität und das gesamte damit verknüpfte kirchen¬
politische System, wie es im Syllabus und der denselben begleitenden Encyklika
hervortritt, steht im schneidendsten Gegensatz zur Vernunft, zum Evangelium, zur
alten Kirchenverfassung, zu den Anschauungen der Kirchenväter.

2. Wenn die mittelalterlichen Päpste dieses System teilweise geltend gemacht
haben, so hatten sie eine in den Zeitumständen liegende Berechtigung dazu, die in
der Gegenwart fehlt, wurden durch ihre bona nass entschuldigt, die heutzutage
wenigsteus bei wissenschaftlich gebildeten Männern nicht mehr möglich ist, und das
Gefährliche ihrer Bestrebungen wurde durch die überall innerhalb der Kirche selbst
frei und offen hervortretende kraftvollste Opposition wenigsteus teilweise abgeschwächt,
während heutzutage eine Opposition innerhalb der Kirche von den Gläubigen für
ein Unding gehalten und von den katholischen Blättern als Häresie gebrand¬
markt wird.

3. Dieses System, offiziell zum Prinzip erhoben, müßte wegen seiner innern
Unwahrheit notwendigerweise deu Organismus der katholischen Kirche auflösen, und
zwar in Anbetracht der Zeitumstände in nicht langer Frist.

4. Wer demnach glaubt, daß Erhaltung dieses großartigen und herrlichen
Organismus für die Wirksamkeit des Christentums notwendig oder auch nur
wünschenswert sei, hat die heilige Pflicht, gegen jene Bestrebungen mit Energie
aufzutreten.


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gelehrte sehr genau gemerkt und sich denkend zu eigen gemacht. Als ich Ein¬
wendungen erhob, schaute er mich groß und verwundert an. Ich schwieg in
der Erkenntnis, daß hier nichts mehr zu machen sei, und erstaunte über die
Schnelligkeit und Stärke der Veränderung meines Innern.

Die Zeitungen, die ich täglich las, waren die Schlesische und die liberal¬
katholischen Kölnischen Blätter. Die ultramontanen Hausblätter sah ich schon
seit längerer Zeit nicht mehr an, nicht etwa nach dem vorhin empfohlenen
Grundsatz, um mich nicht irre machen zu lassen, sondern im Gegenteil aus
Furcht, mein Temperament könnte mich zu öffentlichem Widerspruch hinreißen.
Wie gerechtfertigt diese Vorsicht war, sollte sich bald zeigen. Nach Tische ging
ich gewöhnlich aus ein paar Minuten zu meinem Mitkaplan, um ihn zu fragen,
was er beim Pfarrer aus der geistlichen Welt neues erfahren habe; die Haus-
blütter, die er mit herausbrachte, rührte ich nicht an. Am 22. April aber, es
war ein Freitag, warf ich unvorsichtigerweise einen Blick hinein, und zwei
Stunden später lag meine Erklärung schon im Briefkasten. Sie erschien in
der nächsten Sonntagsnummer der Schlesischen Zeitung und lautete:

Die Breslauer Hausblätter schreiben am heutigen Tage u. ni.: „Der Klerus,
sagt ihr weiter, ist in den gegenwärtigen kirchlichen Fragen gespalten. Und welches
sind diese Fragen? Ob die Definition der Jnfallibilität opportun oder nicht opportun
sei. Das geben wir zu. Ob diese Definition ein neues Dogma, ein Abfall vom
alten Glauben sei oder nicht, das verneinen wir entschieden. Legt doch einmal
die so formulirte Frage dem schlesischen Klerus vor, dann werdet ihr sehen, auf
welche Seite er tritt."

Mit diesen Worten ist ja dem schlesischen Klerus die Frage schou vorgelegt,
und ich für meine Person halte mich für verpflichtet, zu antworten.

1. Die Lehre von der Jnfallibilität und das gesamte damit verknüpfte kirchen¬
politische System, wie es im Syllabus und der denselben begleitenden Encyklika
hervortritt, steht im schneidendsten Gegensatz zur Vernunft, zum Evangelium, zur
alten Kirchenverfassung, zu den Anschauungen der Kirchenväter.

2. Wenn die mittelalterlichen Päpste dieses System teilweise geltend gemacht
haben, so hatten sie eine in den Zeitumständen liegende Berechtigung dazu, die in
der Gegenwart fehlt, wurden durch ihre bona nass entschuldigt, die heutzutage
wenigsteus bei wissenschaftlich gebildeten Männern nicht mehr möglich ist, und das
Gefährliche ihrer Bestrebungen wurde durch die überall innerhalb der Kirche selbst
frei und offen hervortretende kraftvollste Opposition wenigsteus teilweise abgeschwächt,
während heutzutage eine Opposition innerhalb der Kirche von den Gläubigen für
ein Unding gehalten und von den katholischen Blättern als Häresie gebrand¬
markt wird.

3. Dieses System, offiziell zum Prinzip erhoben, müßte wegen seiner innern
Unwahrheit notwendigerweise deu Organismus der katholischen Kirche auflösen, und
zwar in Anbetracht der Zeitumstände in nicht langer Frist.

4. Wer demnach glaubt, daß Erhaltung dieses großartigen und herrlichen
Organismus für die Wirksamkeit des Christentums notwendig oder auch nur
wünschenswert sei, hat die heilige Pflicht, gegen jene Bestrebungen mit Energie
aufzutreten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0435" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220761"/>
          <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1759" prev="#ID_1758"> gelehrte sehr genau gemerkt und sich denkend zu eigen gemacht. Als ich Ein¬<lb/>
wendungen erhob, schaute er mich groß und verwundert an. Ich schwieg in<lb/>
der Erkenntnis, daß hier nichts mehr zu machen sei, und erstaunte über die<lb/>
Schnelligkeit und Stärke der Veränderung meines Innern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1760"> Die Zeitungen, die ich täglich las, waren die Schlesische und die liberal¬<lb/>
katholischen Kölnischen Blätter. Die ultramontanen Hausblätter sah ich schon<lb/>
seit längerer Zeit nicht mehr an, nicht etwa nach dem vorhin empfohlenen<lb/>
Grundsatz, um mich nicht irre machen zu lassen, sondern im Gegenteil aus<lb/>
Furcht, mein Temperament könnte mich zu öffentlichem Widerspruch hinreißen.<lb/>
Wie gerechtfertigt diese Vorsicht war, sollte sich bald zeigen. Nach Tische ging<lb/>
ich gewöhnlich aus ein paar Minuten zu meinem Mitkaplan, um ihn zu fragen,<lb/>
was er beim Pfarrer aus der geistlichen Welt neues erfahren habe; die Haus-<lb/>
blütter, die er mit herausbrachte, rührte ich nicht an. Am 22. April aber, es<lb/>
war ein Freitag, warf ich unvorsichtigerweise einen Blick hinein, und zwei<lb/>
Stunden später lag meine Erklärung schon im Briefkasten. Sie erschien in<lb/>
der nächsten Sonntagsnummer der Schlesischen Zeitung und lautete:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1761"> Die Breslauer Hausblätter schreiben am heutigen Tage u. ni.: &#x201E;Der Klerus,<lb/>
sagt ihr weiter, ist in den gegenwärtigen kirchlichen Fragen gespalten. Und welches<lb/>
sind diese Fragen? Ob die Definition der Jnfallibilität opportun oder nicht opportun<lb/>
sei. Das geben wir zu. Ob diese Definition ein neues Dogma, ein Abfall vom<lb/>
alten Glauben sei oder nicht, das verneinen wir entschieden. Legt doch einmal<lb/>
die so formulirte Frage dem schlesischen Klerus vor, dann werdet ihr sehen, auf<lb/>
welche Seite er tritt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1762"> Mit diesen Worten ist ja dem schlesischen Klerus die Frage schou vorgelegt,<lb/>
und ich für meine Person halte mich für verpflichtet, zu antworten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1763"> 1. Die Lehre von der Jnfallibilität und das gesamte damit verknüpfte kirchen¬<lb/>
politische System, wie es im Syllabus und der denselben begleitenden Encyklika<lb/>
hervortritt, steht im schneidendsten Gegensatz zur Vernunft, zum Evangelium, zur<lb/>
alten Kirchenverfassung, zu den Anschauungen der Kirchenväter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1764"> 2. Wenn die mittelalterlichen Päpste dieses System teilweise geltend gemacht<lb/>
haben, so hatten sie eine in den Zeitumständen liegende Berechtigung dazu, die in<lb/>
der Gegenwart fehlt, wurden durch ihre bona nass entschuldigt, die heutzutage<lb/>
wenigsteus bei wissenschaftlich gebildeten Männern nicht mehr möglich ist, und das<lb/>
Gefährliche ihrer Bestrebungen wurde durch die überall innerhalb der Kirche selbst<lb/>
frei und offen hervortretende kraftvollste Opposition wenigsteus teilweise abgeschwächt,<lb/>
während heutzutage eine Opposition innerhalb der Kirche von den Gläubigen für<lb/>
ein Unding gehalten und von den katholischen Blättern als Häresie gebrand¬<lb/>
markt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1765"> 3. Dieses System, offiziell zum Prinzip erhoben, müßte wegen seiner innern<lb/>
Unwahrheit notwendigerweise deu Organismus der katholischen Kirche auflösen, und<lb/>
zwar in Anbetracht der Zeitumstände in nicht langer Frist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1766"> 4. Wer demnach glaubt, daß Erhaltung dieses großartigen und herrlichen<lb/>
Organismus für die Wirksamkeit des Christentums notwendig oder auch nur<lb/>
wünschenswert sei, hat die heilige Pflicht, gegen jene Bestrebungen mit Energie<lb/>
aufzutreten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0435] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome gelehrte sehr genau gemerkt und sich denkend zu eigen gemacht. Als ich Ein¬ wendungen erhob, schaute er mich groß und verwundert an. Ich schwieg in der Erkenntnis, daß hier nichts mehr zu machen sei, und erstaunte über die Schnelligkeit und Stärke der Veränderung meines Innern. Die Zeitungen, die ich täglich las, waren die Schlesische und die liberal¬ katholischen Kölnischen Blätter. Die ultramontanen Hausblätter sah ich schon seit längerer Zeit nicht mehr an, nicht etwa nach dem vorhin empfohlenen Grundsatz, um mich nicht irre machen zu lassen, sondern im Gegenteil aus Furcht, mein Temperament könnte mich zu öffentlichem Widerspruch hinreißen. Wie gerechtfertigt diese Vorsicht war, sollte sich bald zeigen. Nach Tische ging ich gewöhnlich aus ein paar Minuten zu meinem Mitkaplan, um ihn zu fragen, was er beim Pfarrer aus der geistlichen Welt neues erfahren habe; die Haus- blütter, die er mit herausbrachte, rührte ich nicht an. Am 22. April aber, es war ein Freitag, warf ich unvorsichtigerweise einen Blick hinein, und zwei Stunden später lag meine Erklärung schon im Briefkasten. Sie erschien in der nächsten Sonntagsnummer der Schlesischen Zeitung und lautete: Die Breslauer Hausblätter schreiben am heutigen Tage u. ni.: „Der Klerus, sagt ihr weiter, ist in den gegenwärtigen kirchlichen Fragen gespalten. Und welches sind diese Fragen? Ob die Definition der Jnfallibilität opportun oder nicht opportun sei. Das geben wir zu. Ob diese Definition ein neues Dogma, ein Abfall vom alten Glauben sei oder nicht, das verneinen wir entschieden. Legt doch einmal die so formulirte Frage dem schlesischen Klerus vor, dann werdet ihr sehen, auf welche Seite er tritt." Mit diesen Worten ist ja dem schlesischen Klerus die Frage schou vorgelegt, und ich für meine Person halte mich für verpflichtet, zu antworten. 1. Die Lehre von der Jnfallibilität und das gesamte damit verknüpfte kirchen¬ politische System, wie es im Syllabus und der denselben begleitenden Encyklika hervortritt, steht im schneidendsten Gegensatz zur Vernunft, zum Evangelium, zur alten Kirchenverfassung, zu den Anschauungen der Kirchenväter. 2. Wenn die mittelalterlichen Päpste dieses System teilweise geltend gemacht haben, so hatten sie eine in den Zeitumständen liegende Berechtigung dazu, die in der Gegenwart fehlt, wurden durch ihre bona nass entschuldigt, die heutzutage wenigsteus bei wissenschaftlich gebildeten Männern nicht mehr möglich ist, und das Gefährliche ihrer Bestrebungen wurde durch die überall innerhalb der Kirche selbst frei und offen hervortretende kraftvollste Opposition wenigsteus teilweise abgeschwächt, während heutzutage eine Opposition innerhalb der Kirche von den Gläubigen für ein Unding gehalten und von den katholischen Blättern als Häresie gebrand¬ markt wird. 3. Dieses System, offiziell zum Prinzip erhoben, müßte wegen seiner innern Unwahrheit notwendigerweise deu Organismus der katholischen Kirche auflösen, und zwar in Anbetracht der Zeitumstände in nicht langer Frist. 4. Wer demnach glaubt, daß Erhaltung dieses großartigen und herrlichen Organismus für die Wirksamkeit des Christentums notwendig oder auch nur wünschenswert sei, hat die heilige Pflicht, gegen jene Bestrebungen mit Energie aufzutreten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/435
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/435>, abgerufen am 26.06.2024.