Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das medizinische Studium

Auf einen wichtigen, vielleicht den brennendsten Punkt der ärztlichen
Frage, das Kassenwesen, hier einzugehen, verbietet mir der Raum. Denn in
wenig Worten und mit den vielverbreiteten Redensarten läßt sich eine Frage
von so großer Wichtigkeit nicht abthun. Daß es nicht so bleiben kann, wie
es ist, sondern daß vieles geändert werden muß, wenn nicht die Ärzte ins
Proletariat geraten sollen, habe ich bisher noch von allen aussprechen hören.

Vielbesprochen ist das Verhältnis der Militärärzte zur Praxis. Von
vielen Seiten ist offen verlangt worden, man möge den Militärärzten die
Ausübung von Privatpraxis untersagen. Wenn nur die Leute, die etwas
derartiges vorschlagen, auch angaben, wie sie sich die Ausführung denken. Es
wäre wahrlich ein Triumph: den Sanitätsoffizieren mit ihrer -- wenigstens
teilweise -- sehr guten Vorbildung die Praxis verboten, und jedem alten
Weibe die Kurpfuscherei freigestellt! Es herrscht vielfach die kindische Ansicht,
die Militärärzte seien nicht ganz "voll"; nun, das würde sofort eintreten,
wenn man den Sanitätsoffizieren die Praxis, d. h. die Möglichkeit, nicht ein¬
seitig zu werden, entzöge. Auch sollte man doch daran denken, daß viele
Militärärzte als Stabsärzte den Abschied nehmen. Verlangt man, daß sich
diese Leute "zur Ruhe setzen"? Übrigens lehrt die Erfahrung, daß die Praxis
der Sanitätsoffiziere sehr beschränkt ist und den Zivilkollegen wenig Ab¬
bruch thut.

Wenn ich dagegen an die Kurpfuscherei denke, so treibt mir das die
Schamröte ins Gesicht: im Volke der "Denker" wird einer jungen, im schönsten
Aufblühen begriffnen Wissenschaft ein Hindernis in den Weg gelegt, das un¬
überwindlich ist, weil es gemein ist. Theologen, Lehrer, Rechtscmwülte: alle
sind geschützt; aber "Medizinern" kann jeder, je dümmer und frecher, mit um
so mehr Erfolg. Das sind die Errungenschaften einer "unentwegt liberalen"
Gesetzgebung. Jeder, der nicht hilft, dieses Übel mit Stumpf und Stiel aus¬
zurotten, ist meiner Ansicht nach nicht zu den Gebildeten zu rechnen. Jeder,
der eine Heilung unternimmt und sich dafür bezahlen läßt, ohne Arzt zu sein,
sollte schwer bestraft werden. Das wenigstens sollte unser Jahrhundert noch
erleben.

Zum Schluß noch ein Wort über die Organisation der Medizin. Der
bisherige Zustand des gemeinschaftlichen Kultus-, Unterrichts- und Medizinal¬
ministeriums ist unhaltbar. Das Mediziualmiuisterium ist vom Unterrichts¬
ministerium nicht zu trennen; dagegen spricht die Verbindung der Medizin mit
den Universitäten. Aber weshalb gehört das Ministerium der geistlichen An¬
gelegenheiten hierher? Es hat doch weder mit der Schule noch mit der Me¬
dizin so viel zu thun, daß es nicht davon getrennt bestehen könnte.

Wir sehen: es ist viel zu reformiren. Die ärztliche Frage ist ein sehr
wichtiger Teil der sozialen. Denn es handelt sich hier nicht um das Interesse
des Standes allein, sondern um das der Gesellschaft. Palliativmittel sind


Das medizinische Studium

Auf einen wichtigen, vielleicht den brennendsten Punkt der ärztlichen
Frage, das Kassenwesen, hier einzugehen, verbietet mir der Raum. Denn in
wenig Worten und mit den vielverbreiteten Redensarten läßt sich eine Frage
von so großer Wichtigkeit nicht abthun. Daß es nicht so bleiben kann, wie
es ist, sondern daß vieles geändert werden muß, wenn nicht die Ärzte ins
Proletariat geraten sollen, habe ich bisher noch von allen aussprechen hören.

Vielbesprochen ist das Verhältnis der Militärärzte zur Praxis. Von
vielen Seiten ist offen verlangt worden, man möge den Militärärzten die
Ausübung von Privatpraxis untersagen. Wenn nur die Leute, die etwas
derartiges vorschlagen, auch angaben, wie sie sich die Ausführung denken. Es
wäre wahrlich ein Triumph: den Sanitätsoffizieren mit ihrer — wenigstens
teilweise — sehr guten Vorbildung die Praxis verboten, und jedem alten
Weibe die Kurpfuscherei freigestellt! Es herrscht vielfach die kindische Ansicht,
die Militärärzte seien nicht ganz „voll"; nun, das würde sofort eintreten,
wenn man den Sanitätsoffizieren die Praxis, d. h. die Möglichkeit, nicht ein¬
seitig zu werden, entzöge. Auch sollte man doch daran denken, daß viele
Militärärzte als Stabsärzte den Abschied nehmen. Verlangt man, daß sich
diese Leute „zur Ruhe setzen"? Übrigens lehrt die Erfahrung, daß die Praxis
der Sanitätsoffiziere sehr beschränkt ist und den Zivilkollegen wenig Ab¬
bruch thut.

Wenn ich dagegen an die Kurpfuscherei denke, so treibt mir das die
Schamröte ins Gesicht: im Volke der „Denker" wird einer jungen, im schönsten
Aufblühen begriffnen Wissenschaft ein Hindernis in den Weg gelegt, das un¬
überwindlich ist, weil es gemein ist. Theologen, Lehrer, Rechtscmwülte: alle
sind geschützt; aber „Medizinern" kann jeder, je dümmer und frecher, mit um
so mehr Erfolg. Das sind die Errungenschaften einer „unentwegt liberalen"
Gesetzgebung. Jeder, der nicht hilft, dieses Übel mit Stumpf und Stiel aus¬
zurotten, ist meiner Ansicht nach nicht zu den Gebildeten zu rechnen. Jeder,
der eine Heilung unternimmt und sich dafür bezahlen läßt, ohne Arzt zu sein,
sollte schwer bestraft werden. Das wenigstens sollte unser Jahrhundert noch
erleben.

Zum Schluß noch ein Wort über die Organisation der Medizin. Der
bisherige Zustand des gemeinschaftlichen Kultus-, Unterrichts- und Medizinal¬
ministeriums ist unhaltbar. Das Mediziualmiuisterium ist vom Unterrichts¬
ministerium nicht zu trennen; dagegen spricht die Verbindung der Medizin mit
den Universitäten. Aber weshalb gehört das Ministerium der geistlichen An¬
gelegenheiten hierher? Es hat doch weder mit der Schule noch mit der Me¬
dizin so viel zu thun, daß es nicht davon getrennt bestehen könnte.

Wir sehen: es ist viel zu reformiren. Die ärztliche Frage ist ein sehr
wichtiger Teil der sozialen. Denn es handelt sich hier nicht um das Interesse
des Standes allein, sondern um das der Gesellschaft. Palliativmittel sind


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220752"/>
          <fw type="header" place="top"> Das medizinische Studium</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1737"> Auf einen wichtigen, vielleicht den brennendsten Punkt der ärztlichen<lb/>
Frage, das Kassenwesen, hier einzugehen, verbietet mir der Raum. Denn in<lb/>
wenig Worten und mit den vielverbreiteten Redensarten läßt sich eine Frage<lb/>
von so großer Wichtigkeit nicht abthun. Daß es nicht so bleiben kann, wie<lb/>
es ist, sondern daß vieles geändert werden muß, wenn nicht die Ärzte ins<lb/>
Proletariat geraten sollen, habe ich bisher noch von allen aussprechen hören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1738"> Vielbesprochen ist das Verhältnis der Militärärzte zur Praxis. Von<lb/>
vielen Seiten ist offen verlangt worden, man möge den Militärärzten die<lb/>
Ausübung von Privatpraxis untersagen. Wenn nur die Leute, die etwas<lb/>
derartiges vorschlagen, auch angaben, wie sie sich die Ausführung denken. Es<lb/>
wäre wahrlich ein Triumph: den Sanitätsoffizieren mit ihrer &#x2014; wenigstens<lb/>
teilweise &#x2014; sehr guten Vorbildung die Praxis verboten, und jedem alten<lb/>
Weibe die Kurpfuscherei freigestellt! Es herrscht vielfach die kindische Ansicht,<lb/>
die Militärärzte seien nicht ganz &#x201E;voll"; nun, das würde sofort eintreten,<lb/>
wenn man den Sanitätsoffizieren die Praxis, d. h. die Möglichkeit, nicht ein¬<lb/>
seitig zu werden, entzöge. Auch sollte man doch daran denken, daß viele<lb/>
Militärärzte als Stabsärzte den Abschied nehmen. Verlangt man, daß sich<lb/>
diese Leute &#x201E;zur Ruhe setzen"? Übrigens lehrt die Erfahrung, daß die Praxis<lb/>
der Sanitätsoffiziere sehr beschränkt ist und den Zivilkollegen wenig Ab¬<lb/>
bruch thut.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1739"> Wenn ich dagegen an die Kurpfuscherei denke, so treibt mir das die<lb/>
Schamröte ins Gesicht: im Volke der &#x201E;Denker" wird einer jungen, im schönsten<lb/>
Aufblühen begriffnen Wissenschaft ein Hindernis in den Weg gelegt, das un¬<lb/>
überwindlich ist, weil es gemein ist. Theologen, Lehrer, Rechtscmwülte: alle<lb/>
sind geschützt; aber &#x201E;Medizinern" kann jeder, je dümmer und frecher, mit um<lb/>
so mehr Erfolg. Das sind die Errungenschaften einer &#x201E;unentwegt liberalen"<lb/>
Gesetzgebung. Jeder, der nicht hilft, dieses Übel mit Stumpf und Stiel aus¬<lb/>
zurotten, ist meiner Ansicht nach nicht zu den Gebildeten zu rechnen. Jeder,<lb/>
der eine Heilung unternimmt und sich dafür bezahlen läßt, ohne Arzt zu sein,<lb/>
sollte schwer bestraft werden. Das wenigstens sollte unser Jahrhundert noch<lb/>
erleben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1740"> Zum Schluß noch ein Wort über die Organisation der Medizin. Der<lb/>
bisherige Zustand des gemeinschaftlichen Kultus-, Unterrichts- und Medizinal¬<lb/>
ministeriums ist unhaltbar. Das Mediziualmiuisterium ist vom Unterrichts¬<lb/>
ministerium nicht zu trennen; dagegen spricht die Verbindung der Medizin mit<lb/>
den Universitäten. Aber weshalb gehört das Ministerium der geistlichen An¬<lb/>
gelegenheiten hierher? Es hat doch weder mit der Schule noch mit der Me¬<lb/>
dizin so viel zu thun, daß es nicht davon getrennt bestehen könnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1741" next="#ID_1742"> Wir sehen: es ist viel zu reformiren. Die ärztliche Frage ist ein sehr<lb/>
wichtiger Teil der sozialen. Denn es handelt sich hier nicht um das Interesse<lb/>
des Standes allein, sondern um das der Gesellschaft.  Palliativmittel sind</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426] Das medizinische Studium Auf einen wichtigen, vielleicht den brennendsten Punkt der ärztlichen Frage, das Kassenwesen, hier einzugehen, verbietet mir der Raum. Denn in wenig Worten und mit den vielverbreiteten Redensarten läßt sich eine Frage von so großer Wichtigkeit nicht abthun. Daß es nicht so bleiben kann, wie es ist, sondern daß vieles geändert werden muß, wenn nicht die Ärzte ins Proletariat geraten sollen, habe ich bisher noch von allen aussprechen hören. Vielbesprochen ist das Verhältnis der Militärärzte zur Praxis. Von vielen Seiten ist offen verlangt worden, man möge den Militärärzten die Ausübung von Privatpraxis untersagen. Wenn nur die Leute, die etwas derartiges vorschlagen, auch angaben, wie sie sich die Ausführung denken. Es wäre wahrlich ein Triumph: den Sanitätsoffizieren mit ihrer — wenigstens teilweise — sehr guten Vorbildung die Praxis verboten, und jedem alten Weibe die Kurpfuscherei freigestellt! Es herrscht vielfach die kindische Ansicht, die Militärärzte seien nicht ganz „voll"; nun, das würde sofort eintreten, wenn man den Sanitätsoffizieren die Praxis, d. h. die Möglichkeit, nicht ein¬ seitig zu werden, entzöge. Auch sollte man doch daran denken, daß viele Militärärzte als Stabsärzte den Abschied nehmen. Verlangt man, daß sich diese Leute „zur Ruhe setzen"? Übrigens lehrt die Erfahrung, daß die Praxis der Sanitätsoffiziere sehr beschränkt ist und den Zivilkollegen wenig Ab¬ bruch thut. Wenn ich dagegen an die Kurpfuscherei denke, so treibt mir das die Schamröte ins Gesicht: im Volke der „Denker" wird einer jungen, im schönsten Aufblühen begriffnen Wissenschaft ein Hindernis in den Weg gelegt, das un¬ überwindlich ist, weil es gemein ist. Theologen, Lehrer, Rechtscmwülte: alle sind geschützt; aber „Medizinern" kann jeder, je dümmer und frecher, mit um so mehr Erfolg. Das sind die Errungenschaften einer „unentwegt liberalen" Gesetzgebung. Jeder, der nicht hilft, dieses Übel mit Stumpf und Stiel aus¬ zurotten, ist meiner Ansicht nach nicht zu den Gebildeten zu rechnen. Jeder, der eine Heilung unternimmt und sich dafür bezahlen läßt, ohne Arzt zu sein, sollte schwer bestraft werden. Das wenigstens sollte unser Jahrhundert noch erleben. Zum Schluß noch ein Wort über die Organisation der Medizin. Der bisherige Zustand des gemeinschaftlichen Kultus-, Unterrichts- und Medizinal¬ ministeriums ist unhaltbar. Das Mediziualmiuisterium ist vom Unterrichts¬ ministerium nicht zu trennen; dagegen spricht die Verbindung der Medizin mit den Universitäten. Aber weshalb gehört das Ministerium der geistlichen An¬ gelegenheiten hierher? Es hat doch weder mit der Schule noch mit der Me¬ dizin so viel zu thun, daß es nicht davon getrennt bestehen könnte. Wir sehen: es ist viel zu reformiren. Die ärztliche Frage ist ein sehr wichtiger Teil der sozialen. Denn es handelt sich hier nicht um das Interesse des Standes allein, sondern um das der Gesellschaft. Palliativmittel sind

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/426
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/426>, abgerufen am 25.06.2024.