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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Das medizinische Studium

denen, die es vorher nicht konnten. Vor allem gehört lebhaftes Interesse für
die Naturwissenschaften im allgemeinen, für die organischen im besondern dazu;
ferner ein sanftes, rücksichtsvolles Naturell -- ein grober Arzt ist ein Unding;
es gehört dazu Opfermut. Nächstenliebe. Furchtlosigkeit vor dem Kranken¬
zimmer. Das alles sind Eigenschaften, die sich nicht aneignen lassen, und doch
wie viele Ärzte laufen heute ohne sie herum!

Nur ganz kurz möchte ich die heikle Berechtigungsfrage berühren. Ich
bin mit der Mehrheit der Mediziner der Ansicht, daß das Realgymnasium die
Berechtigung zum medizinischen Studium verdient; ja ich glaube, daß es sie
allein verdient. Ich erkenne willig die Vorzüge des Gymnasiums für die
Vorbildung zum philologisch-historischen, zum theologischen, auch zum juristischen
Studium an; aber sür das medizinische, mathematische und naturwissenschaft¬
liche Studium ist das Realgymnasium vorzuziehen. Man frage nur die
Mediziner des ersten und zweiten Svmmersemesters! Es könnte ja jedem
Gymnasiasten freigestellt werden, in den naturwissenschaftlichen Fächern eine
Nachprüfung auf einem Realgymnasium abzulegen, wie es heute die Real¬
schüler in den Sprachen thun müssen. Ich meine, daß so dem medizinischen
Studium mehr tüchtige Kräfte zugeführt und noch mehr untaugliche davon
zurückgehalten werden würden; denn es würden sich zunächst hauptsächlich solche
der Sache unterziehen, die Lust haben, sich noch ein Jahr mit Naturwissen¬
schaften zu beschäftigen, und neben diesen die Realgymnasiasten; das wäre aber
sicher mehr wert, als daß sich die Nealgymnasiasten noch ein Jahr mit Latein
und Griechisch beschäftigen müssen, und die Gymnasiasten sofort Medizin
studiren dürfen.

Vorher aber müßten in dem Studium selbst einschneidende Veränderungen
eintreten, wenn man einen Erfolg sehen will. Zunächst ist die Festsetzung der
gesamten Studienzeit auf sechs Jahre dringend anzuraten. Diese Einrichtung
bewährt sich heute in Österreich schon vortrefflich. Dort fallen auf das eigent¬
liche Studium fünf Jahre, auf eine praktische Thätigkeit ein Jahr. Bei uns
schwankt gegenwärtig die Studienzeit zwischen neun und zehn Semestern. Von
dem Anfangstermin, ob Ostern oder Michaelis, hängt es meist ab, wie viel
Zeit der Student braucht. Solchen Zufälligkeiten, die immer Ungerechtigkeiten
wie sich bringen, muß vorgebeugt werden. Würde die Studienzeit für alle auf
fünf Jahre festgesetzt, so wäre damit eine feste Grundlage geschaffen.

Ähnlich verhält es sich mit der Ablegung des Physiknms. Den Ge¬
rüchten zufolge beabsichtigt man, das Physiknm ein Semester später zu legen,
als ans Ende des fünften Halbjahres. Das wäre der unbesonnenste Schritt,
den man thun könnte. Viele behaupte" ja, das Physikum schon nach drei
Semestern ablegen zu können. Außerdem muß man doch bedenken, daß das
Physikum eine Entlastung des Mediziners sein soll. Durch diese Prüfung soll
das rein naturwissenschaftliche Wissen abgetrennt werden; ferner soll durch


Das medizinische Studium

denen, die es vorher nicht konnten. Vor allem gehört lebhaftes Interesse für
die Naturwissenschaften im allgemeinen, für die organischen im besondern dazu;
ferner ein sanftes, rücksichtsvolles Naturell — ein grober Arzt ist ein Unding;
es gehört dazu Opfermut. Nächstenliebe. Furchtlosigkeit vor dem Kranken¬
zimmer. Das alles sind Eigenschaften, die sich nicht aneignen lassen, und doch
wie viele Ärzte laufen heute ohne sie herum!

Nur ganz kurz möchte ich die heikle Berechtigungsfrage berühren. Ich
bin mit der Mehrheit der Mediziner der Ansicht, daß das Realgymnasium die
Berechtigung zum medizinischen Studium verdient; ja ich glaube, daß es sie
allein verdient. Ich erkenne willig die Vorzüge des Gymnasiums für die
Vorbildung zum philologisch-historischen, zum theologischen, auch zum juristischen
Studium an; aber sür das medizinische, mathematische und naturwissenschaft¬
liche Studium ist das Realgymnasium vorzuziehen. Man frage nur die
Mediziner des ersten und zweiten Svmmersemesters! Es könnte ja jedem
Gymnasiasten freigestellt werden, in den naturwissenschaftlichen Fächern eine
Nachprüfung auf einem Realgymnasium abzulegen, wie es heute die Real¬
schüler in den Sprachen thun müssen. Ich meine, daß so dem medizinischen
Studium mehr tüchtige Kräfte zugeführt und noch mehr untaugliche davon
zurückgehalten werden würden; denn es würden sich zunächst hauptsächlich solche
der Sache unterziehen, die Lust haben, sich noch ein Jahr mit Naturwissen¬
schaften zu beschäftigen, und neben diesen die Realgymnasiasten; das wäre aber
sicher mehr wert, als daß sich die Nealgymnasiasten noch ein Jahr mit Latein
und Griechisch beschäftigen müssen, und die Gymnasiasten sofort Medizin
studiren dürfen.

Vorher aber müßten in dem Studium selbst einschneidende Veränderungen
eintreten, wenn man einen Erfolg sehen will. Zunächst ist die Festsetzung der
gesamten Studienzeit auf sechs Jahre dringend anzuraten. Diese Einrichtung
bewährt sich heute in Österreich schon vortrefflich. Dort fallen auf das eigent¬
liche Studium fünf Jahre, auf eine praktische Thätigkeit ein Jahr. Bei uns
schwankt gegenwärtig die Studienzeit zwischen neun und zehn Semestern. Von
dem Anfangstermin, ob Ostern oder Michaelis, hängt es meist ab, wie viel
Zeit der Student braucht. Solchen Zufälligkeiten, die immer Ungerechtigkeiten
wie sich bringen, muß vorgebeugt werden. Würde die Studienzeit für alle auf
fünf Jahre festgesetzt, so wäre damit eine feste Grundlage geschaffen.

Ähnlich verhält es sich mit der Ablegung des Physiknms. Den Ge¬
rüchten zufolge beabsichtigt man, das Physiknm ein Semester später zu legen,
als ans Ende des fünften Halbjahres. Das wäre der unbesonnenste Schritt,
den man thun könnte. Viele behaupte» ja, das Physikum schon nach drei
Semestern ablegen zu können. Außerdem muß man doch bedenken, daß das
Physikum eine Entlastung des Mediziners sein soll. Durch diese Prüfung soll
das rein naturwissenschaftliche Wissen abgetrennt werden; ferner soll durch


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[0423] Das medizinische Studium denen, die es vorher nicht konnten. Vor allem gehört lebhaftes Interesse für die Naturwissenschaften im allgemeinen, für die organischen im besondern dazu; ferner ein sanftes, rücksichtsvolles Naturell — ein grober Arzt ist ein Unding; es gehört dazu Opfermut. Nächstenliebe. Furchtlosigkeit vor dem Kranken¬ zimmer. Das alles sind Eigenschaften, die sich nicht aneignen lassen, und doch wie viele Ärzte laufen heute ohne sie herum! Nur ganz kurz möchte ich die heikle Berechtigungsfrage berühren. Ich bin mit der Mehrheit der Mediziner der Ansicht, daß das Realgymnasium die Berechtigung zum medizinischen Studium verdient; ja ich glaube, daß es sie allein verdient. Ich erkenne willig die Vorzüge des Gymnasiums für die Vorbildung zum philologisch-historischen, zum theologischen, auch zum juristischen Studium an; aber sür das medizinische, mathematische und naturwissenschaft¬ liche Studium ist das Realgymnasium vorzuziehen. Man frage nur die Mediziner des ersten und zweiten Svmmersemesters! Es könnte ja jedem Gymnasiasten freigestellt werden, in den naturwissenschaftlichen Fächern eine Nachprüfung auf einem Realgymnasium abzulegen, wie es heute die Real¬ schüler in den Sprachen thun müssen. Ich meine, daß so dem medizinischen Studium mehr tüchtige Kräfte zugeführt und noch mehr untaugliche davon zurückgehalten werden würden; denn es würden sich zunächst hauptsächlich solche der Sache unterziehen, die Lust haben, sich noch ein Jahr mit Naturwissen¬ schaften zu beschäftigen, und neben diesen die Realgymnasiasten; das wäre aber sicher mehr wert, als daß sich die Nealgymnasiasten noch ein Jahr mit Latein und Griechisch beschäftigen müssen, und die Gymnasiasten sofort Medizin studiren dürfen. Vorher aber müßten in dem Studium selbst einschneidende Veränderungen eintreten, wenn man einen Erfolg sehen will. Zunächst ist die Festsetzung der gesamten Studienzeit auf sechs Jahre dringend anzuraten. Diese Einrichtung bewährt sich heute in Österreich schon vortrefflich. Dort fallen auf das eigent¬ liche Studium fünf Jahre, auf eine praktische Thätigkeit ein Jahr. Bei uns schwankt gegenwärtig die Studienzeit zwischen neun und zehn Semestern. Von dem Anfangstermin, ob Ostern oder Michaelis, hängt es meist ab, wie viel Zeit der Student braucht. Solchen Zufälligkeiten, die immer Ungerechtigkeiten wie sich bringen, muß vorgebeugt werden. Würde die Studienzeit für alle auf fünf Jahre festgesetzt, so wäre damit eine feste Grundlage geschaffen. Ähnlich verhält es sich mit der Ablegung des Physiknms. Den Ge¬ rüchten zufolge beabsichtigt man, das Physiknm ein Semester später zu legen, als ans Ende des fünften Halbjahres. Das wäre der unbesonnenste Schritt, den man thun könnte. Viele behaupte» ja, das Physikum schon nach drei Semestern ablegen zu können. Außerdem muß man doch bedenken, daß das Physikum eine Entlastung des Mediziners sein soll. Durch diese Prüfung soll das rein naturwissenschaftliche Wissen abgetrennt werden; ferner soll durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/423>, abgerufen am 26.06.2024.