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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

mich niemals an die Stelle des Schöpfungsakts die Uhrmacherkunst setzen lassen
und die tyrannische Gewalt des schöpferischen Gedankens über den eignen Er¬
zeuger ruhig geduldet, währeud Ludwig mit all seiner Erkenntnis, seinem
ewigen Belauschen, ja Überwachen und Dirigiren des poetischen Spinners
zuletzt fast zur Selbstzerstörung gelangte. Die Shakcspearestudien Ludwigs
sind ein phänomenales Werk, aber wehe dem Dichter, der ihrer bedarf! Hebbel
war in seiner Weise auch ein reflektirender Dichter, er hat den sogenannten
naiven Dichter unter dem Bilde von Vileams Esel verspottet, aber den eigentlichen
Schöpfnngsprozeß hat er sich niemals selbst zerstört, hat dem glücklichen Augen¬
blick, der Fülle und Ganzheit der Stimmung mehr vertraut als allen ästhe¬
tischen Theorien und so gerade in seinen beiden letzten Werken das Vollendetste
hingestellt, was er geschaffen hat, in "Gyges und sein Ring," wo Idee,
Charakteristik, tiefe Symbolik und reinste Stimmung in wunderbarer Form zu¬
sammenfließen, und in den "Nibelungen," die den dramatischen Schatz des
deutschen Liedes in der That heben, wie viel auch die Schulästhetiker und die
Wagnerianer an ihnen aussetzen mögen. Was Ludwig zu Lewinsky sagte, daß
aus dem Nibelungeustoffe ein wahres Drama nie entstehen könne, weil ein
ganzes Volk Held sei, könnte man mit demselben Recht von den Makkabäern
sagen, und Charaktere wie Hagen und Brunhild, Siegfried und Kriemhild
gegenüber erscheint es ziemlich anfechtbar; jedenfalls haben die Nibelungen
Szenen von einer dramatischen Großartigkeit, wie man sie in Ludwigs Meister¬
werk nicht anders findet, und zum Schluß der Tragödie erhebt sich Kriemhild
wohl noch über die Lea Ludwigs hinaus, wenn auch der Vorgang des tra¬
gischen Erstarrens bei beiden Weibern derselbe ist. Nicht unserm künstlerischen,
aber unserm menschlichen Interesse steht die gewaltige deutsche Nibelnngen-
tragödie näher als die jüdische Ludwigs.

Endlich sei noch über die Prosaschriften der beiden Dichter einiges gesagt.
Sie gehören mit Ausnahme einiger Reisebriefe Hebbels dem ästhetischen und
kritischen Gebiete an. Ludwigs Shakespeare- und Nomcmstudien würden, wenn
sie abgeschlossene Form gefunden Hütten, Werke sein, die bei allen Kultur¬
völkern ihresgleichen suchten; in der tagebuchartigen Form, in der sie vorliegen,
bilden sie nur ein unendlich reiches Material für eine künftige Poetik, die
diesen Namen wahrhaft verdiente, eine wirkliche Ästhetik der Dichtkunst. Hebbels
Tagebücher können mit ihnen recht gut verglichen werden, uur daß sie
eben nicht bloß ästhetische Dinge berühren und durch die reichen biographischen
Aufzeichnungen einen starken persönlichen Reiz gewinnen, der zwar auch Lud¬
wigs Studien nicht ganz fehlt, aber doch viel geringer ist. Hebbels geschlossene
Aufsätze dann sind teilweise außerordentlich wertvoll, zwar meist nicht das,
was mau streng wissenschaftlich nennt, aber aus einem tiefen Verständnis aller
Kunst heraus geschaffen und oft zu wirklich vollendeter Form gediehen. Der
berühmteste ist das Vorwort zu "Maria Magdalene," das in der Geschichte


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

mich niemals an die Stelle des Schöpfungsakts die Uhrmacherkunst setzen lassen
und die tyrannische Gewalt des schöpferischen Gedankens über den eignen Er¬
zeuger ruhig geduldet, währeud Ludwig mit all seiner Erkenntnis, seinem
ewigen Belauschen, ja Überwachen und Dirigiren des poetischen Spinners
zuletzt fast zur Selbstzerstörung gelangte. Die Shakcspearestudien Ludwigs
sind ein phänomenales Werk, aber wehe dem Dichter, der ihrer bedarf! Hebbel
war in seiner Weise auch ein reflektirender Dichter, er hat den sogenannten
naiven Dichter unter dem Bilde von Vileams Esel verspottet, aber den eigentlichen
Schöpfnngsprozeß hat er sich niemals selbst zerstört, hat dem glücklichen Augen¬
blick, der Fülle und Ganzheit der Stimmung mehr vertraut als allen ästhe¬
tischen Theorien und so gerade in seinen beiden letzten Werken das Vollendetste
hingestellt, was er geschaffen hat, in „Gyges und sein Ring," wo Idee,
Charakteristik, tiefe Symbolik und reinste Stimmung in wunderbarer Form zu¬
sammenfließen, und in den „Nibelungen," die den dramatischen Schatz des
deutschen Liedes in der That heben, wie viel auch die Schulästhetiker und die
Wagnerianer an ihnen aussetzen mögen. Was Ludwig zu Lewinsky sagte, daß
aus dem Nibelungeustoffe ein wahres Drama nie entstehen könne, weil ein
ganzes Volk Held sei, könnte man mit demselben Recht von den Makkabäern
sagen, und Charaktere wie Hagen und Brunhild, Siegfried und Kriemhild
gegenüber erscheint es ziemlich anfechtbar; jedenfalls haben die Nibelungen
Szenen von einer dramatischen Großartigkeit, wie man sie in Ludwigs Meister¬
werk nicht anders findet, und zum Schluß der Tragödie erhebt sich Kriemhild
wohl noch über die Lea Ludwigs hinaus, wenn auch der Vorgang des tra¬
gischen Erstarrens bei beiden Weibern derselbe ist. Nicht unserm künstlerischen,
aber unserm menschlichen Interesse steht die gewaltige deutsche Nibelnngen-
tragödie näher als die jüdische Ludwigs.

Endlich sei noch über die Prosaschriften der beiden Dichter einiges gesagt.
Sie gehören mit Ausnahme einiger Reisebriefe Hebbels dem ästhetischen und
kritischen Gebiete an. Ludwigs Shakespeare- und Nomcmstudien würden, wenn
sie abgeschlossene Form gefunden Hütten, Werke sein, die bei allen Kultur¬
völkern ihresgleichen suchten; in der tagebuchartigen Form, in der sie vorliegen,
bilden sie nur ein unendlich reiches Material für eine künftige Poetik, die
diesen Namen wahrhaft verdiente, eine wirkliche Ästhetik der Dichtkunst. Hebbels
Tagebücher können mit ihnen recht gut verglichen werden, uur daß sie
eben nicht bloß ästhetische Dinge berühren und durch die reichen biographischen
Aufzeichnungen einen starken persönlichen Reiz gewinnen, der zwar auch Lud¬
wigs Studien nicht ganz fehlt, aber doch viel geringer ist. Hebbels geschlossene
Aufsätze dann sind teilweise außerordentlich wertvoll, zwar meist nicht das,
was mau streng wissenschaftlich nennt, aber aus einem tiefen Verständnis aller
Kunst heraus geschaffen und oft zu wirklich vollendeter Form gediehen. Der
berühmteste ist das Vorwort zu „Maria Magdalene," das in der Geschichte


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[0391] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig mich niemals an die Stelle des Schöpfungsakts die Uhrmacherkunst setzen lassen und die tyrannische Gewalt des schöpferischen Gedankens über den eignen Er¬ zeuger ruhig geduldet, währeud Ludwig mit all seiner Erkenntnis, seinem ewigen Belauschen, ja Überwachen und Dirigiren des poetischen Spinners zuletzt fast zur Selbstzerstörung gelangte. Die Shakcspearestudien Ludwigs sind ein phänomenales Werk, aber wehe dem Dichter, der ihrer bedarf! Hebbel war in seiner Weise auch ein reflektirender Dichter, er hat den sogenannten naiven Dichter unter dem Bilde von Vileams Esel verspottet, aber den eigentlichen Schöpfnngsprozeß hat er sich niemals selbst zerstört, hat dem glücklichen Augen¬ blick, der Fülle und Ganzheit der Stimmung mehr vertraut als allen ästhe¬ tischen Theorien und so gerade in seinen beiden letzten Werken das Vollendetste hingestellt, was er geschaffen hat, in „Gyges und sein Ring," wo Idee, Charakteristik, tiefe Symbolik und reinste Stimmung in wunderbarer Form zu¬ sammenfließen, und in den „Nibelungen," die den dramatischen Schatz des deutschen Liedes in der That heben, wie viel auch die Schulästhetiker und die Wagnerianer an ihnen aussetzen mögen. Was Ludwig zu Lewinsky sagte, daß aus dem Nibelungeustoffe ein wahres Drama nie entstehen könne, weil ein ganzes Volk Held sei, könnte man mit demselben Recht von den Makkabäern sagen, und Charaktere wie Hagen und Brunhild, Siegfried und Kriemhild gegenüber erscheint es ziemlich anfechtbar; jedenfalls haben die Nibelungen Szenen von einer dramatischen Großartigkeit, wie man sie in Ludwigs Meister¬ werk nicht anders findet, und zum Schluß der Tragödie erhebt sich Kriemhild wohl noch über die Lea Ludwigs hinaus, wenn auch der Vorgang des tra¬ gischen Erstarrens bei beiden Weibern derselbe ist. Nicht unserm künstlerischen, aber unserm menschlichen Interesse steht die gewaltige deutsche Nibelnngen- tragödie näher als die jüdische Ludwigs. Endlich sei noch über die Prosaschriften der beiden Dichter einiges gesagt. Sie gehören mit Ausnahme einiger Reisebriefe Hebbels dem ästhetischen und kritischen Gebiete an. Ludwigs Shakespeare- und Nomcmstudien würden, wenn sie abgeschlossene Form gefunden Hütten, Werke sein, die bei allen Kultur¬ völkern ihresgleichen suchten; in der tagebuchartigen Form, in der sie vorliegen, bilden sie nur ein unendlich reiches Material für eine künftige Poetik, die diesen Namen wahrhaft verdiente, eine wirkliche Ästhetik der Dichtkunst. Hebbels Tagebücher können mit ihnen recht gut verglichen werden, uur daß sie eben nicht bloß ästhetische Dinge berühren und durch die reichen biographischen Aufzeichnungen einen starken persönlichen Reiz gewinnen, der zwar auch Lud¬ wigs Studien nicht ganz fehlt, aber doch viel geringer ist. Hebbels geschlossene Aufsätze dann sind teilweise außerordentlich wertvoll, zwar meist nicht das, was mau streng wissenschaftlich nennt, aber aus einem tiefen Verständnis aller Kunst heraus geschaffen und oft zu wirklich vollendeter Form gediehen. Der berühmteste ist das Vorwort zu „Maria Magdalene," das in der Geschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/391>, abgerufen am 01.09.2024.