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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

des Mangels einer einheitlichen Idee, des Wechsels mit den Helden, der weniger
bedeutenden geschichtlichen Perspektive, der Abhängigkeit von Shakespeare, in
mancher Beziehung höher. Die Situationen sind meist schlichter und reiner
und daher schlechtweg poetischer, das Heldentum Judas ist fast von aller Über¬
hitztheit frei, Lea wächst zu gewaltiger Größe auf, wenn sie auch keine sym¬
pathische Gestalt ist. In den "Makkabäern" weht heroische, in "Herodes und
Marianne" Deecidenceluft, und wenn das auch für keinen der beiden Dichter
Lob oder Tadel bedeutet, so bestimmt es doch wenigstens den Wert der beiden
Dramen für die Bühne. Hebbels Werk ist unbedingt selbständiger, vielleicht
auch genialer als das Ludwigs, den philosophischen und geschichtlichen Sinn
Hebbels hat Ludwig in geringerm Grade (wie denn z. B. die Römerszene
Ludwigs gegen das letzte Gespräch Mariamnes mit dem Römer Titus nicht
viel bedeutet), auch geht Hebbel stets energischer auf sein Ziel los; daß sich
ihm der Schwerpunkt eines Stücks im Laufe der Arbeit verrückt, wie es bei
Ludwig wohl geschieht, ist fast undenkbar. Dennoch, wenn man ein bestimmtes
Maß dichterischer Vollkommenheit, harmonischer Größe und Schönheit verlangt,
so wird man das eher in Ludwigs Drama finden, als in dem Hebbels, dem
der trüb-leidenschaftliche, subjektive Untergrund nicht fehlt. "Die mächtigste
und innerlich lebensvollste historische Tragödie, die seit 1830 gedichtet worden
ist," nennt Adolf Stern die "Makkabäer"; man thut Hebbel doch vielleicht Un¬
recht, wenn man das so geradezu ausspricht, aber die Tragödie, die sich in der
Wirkung denen Shakespeares am meisten annähert, nenne ich Ludwigs Werk
getrost, wobei ich nur nicht zu vergessen bitte, daß Hebbel mit Bewußtsein
von vornherein über Shakespeare hinausgestrebt und in der That ein Drama
geschaffen hat, das zwar nicht vollendet ist, aber die Vollendung durch einen
Spätern, Großer" vielleicht hoffen läßt.

Die "Agnes Bernauer" hat Ludwig Hebbels schwächstes Stück genannt
und behauptet, daß es kalt lasse. Ihn selbst hat es wohl wirklich kalt ge¬
lassen; denn er hat sich mit dem Stoffe so viel befaßt, daß er von einem ihn
behandelnden Stücke eine unmittelbare Wirkung schwerlich mehr empfangen
konnte. Überhaupt möchte man ihm manchmal das Hebbelsche Epigramm
entgegenrufen:


Wünsche dir nicht zu scharf das Auge; denn wenn du die Toten
Unter der Erde erst siehst, siehst du die Blumen nicht mehr.

Doch mußte ihn, die weichere Natur, auch die starre Betonung des Rechts
der Staatsgewalt durch Hebbel verletzen. "Ist es die Aufgabe der Tragödie,
fragte er, unserm Verstände zu erklären, was unserm Verstände wehe thut,
was unsrer Sinnlichkeit gleichgiltig bleibt?" Nun, ich denke, wir fühlen doch
mit der Agnes, die Hebbel so schlicht und innig hingestellt hat, wir fühlen
auch mit dem Herzog Ernst, "der das Schrecklichste thun zu müssen glaubt."


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

des Mangels einer einheitlichen Idee, des Wechsels mit den Helden, der weniger
bedeutenden geschichtlichen Perspektive, der Abhängigkeit von Shakespeare, in
mancher Beziehung höher. Die Situationen sind meist schlichter und reiner
und daher schlechtweg poetischer, das Heldentum Judas ist fast von aller Über¬
hitztheit frei, Lea wächst zu gewaltiger Größe auf, wenn sie auch keine sym¬
pathische Gestalt ist. In den „Makkabäern" weht heroische, in „Herodes und
Marianne" Deecidenceluft, und wenn das auch für keinen der beiden Dichter
Lob oder Tadel bedeutet, so bestimmt es doch wenigstens den Wert der beiden
Dramen für die Bühne. Hebbels Werk ist unbedingt selbständiger, vielleicht
auch genialer als das Ludwigs, den philosophischen und geschichtlichen Sinn
Hebbels hat Ludwig in geringerm Grade (wie denn z. B. die Römerszene
Ludwigs gegen das letzte Gespräch Mariamnes mit dem Römer Titus nicht
viel bedeutet), auch geht Hebbel stets energischer auf sein Ziel los; daß sich
ihm der Schwerpunkt eines Stücks im Laufe der Arbeit verrückt, wie es bei
Ludwig wohl geschieht, ist fast undenkbar. Dennoch, wenn man ein bestimmtes
Maß dichterischer Vollkommenheit, harmonischer Größe und Schönheit verlangt,
so wird man das eher in Ludwigs Drama finden, als in dem Hebbels, dem
der trüb-leidenschaftliche, subjektive Untergrund nicht fehlt. „Die mächtigste
und innerlich lebensvollste historische Tragödie, die seit 1830 gedichtet worden
ist," nennt Adolf Stern die „Makkabäer"; man thut Hebbel doch vielleicht Un¬
recht, wenn man das so geradezu ausspricht, aber die Tragödie, die sich in der
Wirkung denen Shakespeares am meisten annähert, nenne ich Ludwigs Werk
getrost, wobei ich nur nicht zu vergessen bitte, daß Hebbel mit Bewußtsein
von vornherein über Shakespeare hinausgestrebt und in der That ein Drama
geschaffen hat, das zwar nicht vollendet ist, aber die Vollendung durch einen
Spätern, Großer» vielleicht hoffen läßt.

Die „Agnes Bernauer" hat Ludwig Hebbels schwächstes Stück genannt
und behauptet, daß es kalt lasse. Ihn selbst hat es wohl wirklich kalt ge¬
lassen; denn er hat sich mit dem Stoffe so viel befaßt, daß er von einem ihn
behandelnden Stücke eine unmittelbare Wirkung schwerlich mehr empfangen
konnte. Überhaupt möchte man ihm manchmal das Hebbelsche Epigramm
entgegenrufen:


Wünsche dir nicht zu scharf das Auge; denn wenn du die Toten
Unter der Erde erst siehst, siehst du die Blumen nicht mehr.

Doch mußte ihn, die weichere Natur, auch die starre Betonung des Rechts
der Staatsgewalt durch Hebbel verletzen. „Ist es die Aufgabe der Tragödie,
fragte er, unserm Verstände zu erklären, was unserm Verstände wehe thut,
was unsrer Sinnlichkeit gleichgiltig bleibt?" Nun, ich denke, wir fühlen doch
mit der Agnes, die Hebbel so schlicht und innig hingestellt hat, wir fühlen
auch mit dem Herzog Ernst, „der das Schrecklichste thun zu müssen glaubt."


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[0389] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig des Mangels einer einheitlichen Idee, des Wechsels mit den Helden, der weniger bedeutenden geschichtlichen Perspektive, der Abhängigkeit von Shakespeare, in mancher Beziehung höher. Die Situationen sind meist schlichter und reiner und daher schlechtweg poetischer, das Heldentum Judas ist fast von aller Über¬ hitztheit frei, Lea wächst zu gewaltiger Größe auf, wenn sie auch keine sym¬ pathische Gestalt ist. In den „Makkabäern" weht heroische, in „Herodes und Marianne" Deecidenceluft, und wenn das auch für keinen der beiden Dichter Lob oder Tadel bedeutet, so bestimmt es doch wenigstens den Wert der beiden Dramen für die Bühne. Hebbels Werk ist unbedingt selbständiger, vielleicht auch genialer als das Ludwigs, den philosophischen und geschichtlichen Sinn Hebbels hat Ludwig in geringerm Grade (wie denn z. B. die Römerszene Ludwigs gegen das letzte Gespräch Mariamnes mit dem Römer Titus nicht viel bedeutet), auch geht Hebbel stets energischer auf sein Ziel los; daß sich ihm der Schwerpunkt eines Stücks im Laufe der Arbeit verrückt, wie es bei Ludwig wohl geschieht, ist fast undenkbar. Dennoch, wenn man ein bestimmtes Maß dichterischer Vollkommenheit, harmonischer Größe und Schönheit verlangt, so wird man das eher in Ludwigs Drama finden, als in dem Hebbels, dem der trüb-leidenschaftliche, subjektive Untergrund nicht fehlt. „Die mächtigste und innerlich lebensvollste historische Tragödie, die seit 1830 gedichtet worden ist," nennt Adolf Stern die „Makkabäer"; man thut Hebbel doch vielleicht Un¬ recht, wenn man das so geradezu ausspricht, aber die Tragödie, die sich in der Wirkung denen Shakespeares am meisten annähert, nenne ich Ludwigs Werk getrost, wobei ich nur nicht zu vergessen bitte, daß Hebbel mit Bewußtsein von vornherein über Shakespeare hinausgestrebt und in der That ein Drama geschaffen hat, das zwar nicht vollendet ist, aber die Vollendung durch einen Spätern, Großer» vielleicht hoffen läßt. Die „Agnes Bernauer" hat Ludwig Hebbels schwächstes Stück genannt und behauptet, daß es kalt lasse. Ihn selbst hat es wohl wirklich kalt ge¬ lassen; denn er hat sich mit dem Stoffe so viel befaßt, daß er von einem ihn behandelnden Stücke eine unmittelbare Wirkung schwerlich mehr empfangen konnte. Überhaupt möchte man ihm manchmal das Hebbelsche Epigramm entgegenrufen: Wünsche dir nicht zu scharf das Auge; denn wenn du die Toten Unter der Erde erst siehst, siehst du die Blumen nicht mehr. Doch mußte ihn, die weichere Natur, auch die starre Betonung des Rechts der Staatsgewalt durch Hebbel verletzen. „Ist es die Aufgabe der Tragödie, fragte er, unserm Verstände zu erklären, was unserm Verstände wehe thut, was unsrer Sinnlichkeit gleichgiltig bleibt?" Nun, ich denke, wir fühlen doch mit der Agnes, die Hebbel so schlicht und innig hingestellt hat, wir fühlen auch mit dem Herzog Ernst, „der das Schrecklichste thun zu müssen glaubt."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/389>, abgerufen am 28.07.2024.