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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller

Staateninteresses das Übergewicht gelegt hatte. Und mit dem Sturze dieses
Reichs war Europens Schicksal entschieden, waren die eisernen Lose über die
Selbständigkeit aller Staaten, über die Freiheit der deutschen Völker ge¬
worfen."

In gedrungner Schilderung bespricht nun Feuerbach die Zeit der Kon¬
tinentalsperre, der Knechtung der Geister, der tiefsten Erniedrigung des deutschen
Namens. Dahin, sagt er, mußte es kommen, wenn uns Rettung werden sollte.
"Was gesunkene Völker aufrichten, entzweite Nationen vereinigen und für einen
Zweck zu großen Opfern und großen Thaten ermannen soll, kann nur irgend
ein Gemeinschaftliches sein, was nicht den Kopf, sondern die Brust erfüllt,
nicht kalt zum Verstände, sondern eindringend zum Gemüte spricht. Dieses
gemeinschaftliche Eine ward in Europa die gemeinschaftliche eine Not, das
allen Völkern und Stünden gemeinsame, mit keiner andern Lebensfreude ver¬
goltene, durch keine Hoffnung gemilderte Gefühl der gemeinsamen Schande,
der gemeinsamen Unterdrückung, des gemeinsamen grenzenlosen Elends." Gerade
das Übermaß der Tyrannei beschleunigte den Sturz; selbst die unaufhörlichen
Unterjochungskriege dienten dazu, die erschlaffte Armee für den künftigen Frei¬
heitskampf zu stählen.

Die Flammen von Moskau lösten endlich den Zauber, der bis dahin den
Welteroberer umgeben hatte. "Unter den Leichen von Hunderttausenden, die
auf den nordischen Eisfeldern erstarrten, war dieser Gott wieder zum Menschen
geworden, und das Geheimnis wurde offenbar, daß er überwunden und wie
er überwunden werden konnte. Es wurde klar, daß er bis dahin gesiegt hatte
nicht sowohl durch eigne Kraft, als durch die Schwäche der überwundnen
Völker, durch ihre Lauheit und Unentschlossenheit, durch ihren Unglauben an
die eigne Kraft, durch den Mangel an jenem Mut, welcher alles wagt, um
alles zu retten." Jetzt vereinigte sich alles, was bisher mit ihm und für ihn
gekämpft hatte, zum Kampfe gegen ihn. Die Volksbewegung drängte die Re¬
gierungen vorwärts.

"Und so wurde denn den europäischen Staaten die Epoche schwächlicher
Erniedrigung zur Vorbereitung künftiger Größe, die Unterdrückung zur Übungs¬
schule der Kraft, die Schande zur Mahnerin an Ehre und Ruhm, die Knecht¬
schaft zur Seele eines neuen, kräftigen Lebens, die Brandfackel der Verwüstung
zu einer erwärmenden Sonne, die den großen Auferstehungstag der Freiheit
beleuchtet. Ausgelöscht in dem gemeinsamen Haß gegen den Unterdrücker der
Welt ist jede besondre Zwietracht, welche sonst Europens Brudervölker teilte;
von einem Gefühle erwärmt, von einem Gedanken begeistert, von einem Willen
beseelt, stehen alle Völker der europäischen Welt unter der Fahne des Rechts
in dem heiligen Kriege für Ehre und Vaterland, für Freiheit und Ge¬
rechtigkeit."

"Ein größeres, herrlicheres Schauspiel hat noch nie die Weltgeschichte


Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller

Staateninteresses das Übergewicht gelegt hatte. Und mit dem Sturze dieses
Reichs war Europens Schicksal entschieden, waren die eisernen Lose über die
Selbständigkeit aller Staaten, über die Freiheit der deutschen Völker ge¬
worfen."

In gedrungner Schilderung bespricht nun Feuerbach die Zeit der Kon¬
tinentalsperre, der Knechtung der Geister, der tiefsten Erniedrigung des deutschen
Namens. Dahin, sagt er, mußte es kommen, wenn uns Rettung werden sollte.
„Was gesunkene Völker aufrichten, entzweite Nationen vereinigen und für einen
Zweck zu großen Opfern und großen Thaten ermannen soll, kann nur irgend
ein Gemeinschaftliches sein, was nicht den Kopf, sondern die Brust erfüllt,
nicht kalt zum Verstände, sondern eindringend zum Gemüte spricht. Dieses
gemeinschaftliche Eine ward in Europa die gemeinschaftliche eine Not, das
allen Völkern und Stünden gemeinsame, mit keiner andern Lebensfreude ver¬
goltene, durch keine Hoffnung gemilderte Gefühl der gemeinsamen Schande,
der gemeinsamen Unterdrückung, des gemeinsamen grenzenlosen Elends." Gerade
das Übermaß der Tyrannei beschleunigte den Sturz; selbst die unaufhörlichen
Unterjochungskriege dienten dazu, die erschlaffte Armee für den künftigen Frei¬
heitskampf zu stählen.

Die Flammen von Moskau lösten endlich den Zauber, der bis dahin den
Welteroberer umgeben hatte. „Unter den Leichen von Hunderttausenden, die
auf den nordischen Eisfeldern erstarrten, war dieser Gott wieder zum Menschen
geworden, und das Geheimnis wurde offenbar, daß er überwunden und wie
er überwunden werden konnte. Es wurde klar, daß er bis dahin gesiegt hatte
nicht sowohl durch eigne Kraft, als durch die Schwäche der überwundnen
Völker, durch ihre Lauheit und Unentschlossenheit, durch ihren Unglauben an
die eigne Kraft, durch den Mangel an jenem Mut, welcher alles wagt, um
alles zu retten." Jetzt vereinigte sich alles, was bisher mit ihm und für ihn
gekämpft hatte, zum Kampfe gegen ihn. Die Volksbewegung drängte die Re¬
gierungen vorwärts.

„Und so wurde denn den europäischen Staaten die Epoche schwächlicher
Erniedrigung zur Vorbereitung künftiger Größe, die Unterdrückung zur Übungs¬
schule der Kraft, die Schande zur Mahnerin an Ehre und Ruhm, die Knecht¬
schaft zur Seele eines neuen, kräftigen Lebens, die Brandfackel der Verwüstung
zu einer erwärmenden Sonne, die den großen Auferstehungstag der Freiheit
beleuchtet. Ausgelöscht in dem gemeinsamen Haß gegen den Unterdrücker der
Welt ist jede besondre Zwietracht, welche sonst Europens Brudervölker teilte;
von einem Gefühle erwärmt, von einem Gedanken begeistert, von einem Willen
beseelt, stehen alle Völker der europäischen Welt unter der Fahne des Rechts
in dem heiligen Kriege für Ehre und Vaterland, für Freiheit und Ge¬
rechtigkeit."

„Ein größeres, herrlicheres Schauspiel hat noch nie die Weltgeschichte


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[0371] Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller Staateninteresses das Übergewicht gelegt hatte. Und mit dem Sturze dieses Reichs war Europens Schicksal entschieden, waren die eisernen Lose über die Selbständigkeit aller Staaten, über die Freiheit der deutschen Völker ge¬ worfen." In gedrungner Schilderung bespricht nun Feuerbach die Zeit der Kon¬ tinentalsperre, der Knechtung der Geister, der tiefsten Erniedrigung des deutschen Namens. Dahin, sagt er, mußte es kommen, wenn uns Rettung werden sollte. „Was gesunkene Völker aufrichten, entzweite Nationen vereinigen und für einen Zweck zu großen Opfern und großen Thaten ermannen soll, kann nur irgend ein Gemeinschaftliches sein, was nicht den Kopf, sondern die Brust erfüllt, nicht kalt zum Verstände, sondern eindringend zum Gemüte spricht. Dieses gemeinschaftliche Eine ward in Europa die gemeinschaftliche eine Not, das allen Völkern und Stünden gemeinsame, mit keiner andern Lebensfreude ver¬ goltene, durch keine Hoffnung gemilderte Gefühl der gemeinsamen Schande, der gemeinsamen Unterdrückung, des gemeinsamen grenzenlosen Elends." Gerade das Übermaß der Tyrannei beschleunigte den Sturz; selbst die unaufhörlichen Unterjochungskriege dienten dazu, die erschlaffte Armee für den künftigen Frei¬ heitskampf zu stählen. Die Flammen von Moskau lösten endlich den Zauber, der bis dahin den Welteroberer umgeben hatte. „Unter den Leichen von Hunderttausenden, die auf den nordischen Eisfeldern erstarrten, war dieser Gott wieder zum Menschen geworden, und das Geheimnis wurde offenbar, daß er überwunden und wie er überwunden werden konnte. Es wurde klar, daß er bis dahin gesiegt hatte nicht sowohl durch eigne Kraft, als durch die Schwäche der überwundnen Völker, durch ihre Lauheit und Unentschlossenheit, durch ihren Unglauben an die eigne Kraft, durch den Mangel an jenem Mut, welcher alles wagt, um alles zu retten." Jetzt vereinigte sich alles, was bisher mit ihm und für ihn gekämpft hatte, zum Kampfe gegen ihn. Die Volksbewegung drängte die Re¬ gierungen vorwärts. „Und so wurde denn den europäischen Staaten die Epoche schwächlicher Erniedrigung zur Vorbereitung künftiger Größe, die Unterdrückung zur Übungs¬ schule der Kraft, die Schande zur Mahnerin an Ehre und Ruhm, die Knecht¬ schaft zur Seele eines neuen, kräftigen Lebens, die Brandfackel der Verwüstung zu einer erwärmenden Sonne, die den großen Auferstehungstag der Freiheit beleuchtet. Ausgelöscht in dem gemeinsamen Haß gegen den Unterdrücker der Welt ist jede besondre Zwietracht, welche sonst Europens Brudervölker teilte; von einem Gefühle erwärmt, von einem Gedanken begeistert, von einem Willen beseelt, stehen alle Völker der europäischen Welt unter der Fahne des Rechts in dem heiligen Kriege für Ehre und Vaterland, für Freiheit und Ge¬ rechtigkeit." „Ein größeres, herrlicheres Schauspiel hat noch nie die Weltgeschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/371>, abgerufen am 28.07.2024.