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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Konrad Fiedler

Wenigstens einen Teil der Schuld abtragen für alles das, was sie Don dem
Lebenden empfangen haben."

Nun ist er selbst in das unbekannte Land gegangen. Am 3. Juni, am
zweiten Pfingstfeiertage dieses Jahres, stürzte er, als er sich beim Herablassen
oder Heraufziehen einer Jalousie über die niedrige Fensterbrüstung hinaus¬
beugte, so unglücklich aus die unter dem Fenster befindlichen Steinstufen, daß
er einen Schädelbruch erlitt, der sofortige Bewußtlosigkeit und nach etwa einer
Viertelstunde den Tod zur Folge hatte. Nach menschlichem Ermessen ist dem
so jus aus dem Leben berufnen alle Qual und Angst des Sterbens erspart
geblieben. Das Furchtbare liegt hier in dem Plötzlichen und in dem Tode selbst,
in dem Erlöschen dieses Lebens.

Freilich sind die Wirkungen eines solchen Lebens unberechenbar, weit über
die Grenzen seiner irdischen Dauer hinaus, immer wachsend, immer weiter Licht
und Segen verbreitend, je geistiger sie aufgefaßt, je mehr sie allen Einzel¬
interessen enthoben und zur Sache der Menschheit gemacht werden. Und doch
in der tiefen Trauer, in allen den Fragen und Zweifeln, in all dem Jammer,
der sich in den einen unfaßbarer Gedanken drangt: Er ist nicht mehr! wer
tröstet uns darin?

Da taucht sie wieder auf, wie aus weiter Ferne, die Gestalt des seltsamen
Denkers, der einst in jungen Tagen das Band festigte, das uns zu dauernder
Freundschaft, zu gemeinsamer Lebensarbeit verbinden sollte -- die Gestalt Arthur
Schopenhauers. Und siehe, sein finstres Antlitz hat sich erhellt, es sind nicht
mehr die zum bittern, sarkastischen Lächeln verzerrten Züge, nein, tröstlich, mild
blickt er uns an; er fühlt unser Weh mit, aber er weiß, daß es auch für diese
Wunde einen Balsam giebt.

Wir hatten ihn beide längst vergessen, oder wenigstens den geistigen Ver¬
kehr mit ihm abgebrochen. Das thätige Leben des Mannes, die Freude, die
ihm das Schaffen gewährt, die Illusion, die er dazu braucht, vertragen sich
nicht mit dem Pessimismus. Das Leben ist so schön -- und das eben ist das
Entsetzliche des Todes, daß er uns alles das raubt, was uns das Leben ge¬
währt hat und noch gewähren könnte. Das ist das, um was wir den Toten
so beklagen, was Wir so schwer verwinden können. Noch nach langen Jahren:

Jawohl, hast du ein Recht, so zu klagen, großer Dichter! Aber auch er, dein
gewaltiger Widersacher, der Philosoph, hat Recht: die schönen Stunden auch
des Glücklichsten sind gezählt. Der achtzigjährige Bismarck hat es uns jetzt
wieder bestätigt. Ja, das Leben, seinem Hauptinhalt nach, ist Leiden, und
als ein solches wird es uns auch immer erscheinen, wenn wir es nicht mehr


Konrad Fiedler

Wenigstens einen Teil der Schuld abtragen für alles das, was sie Don dem
Lebenden empfangen haben."

Nun ist er selbst in das unbekannte Land gegangen. Am 3. Juni, am
zweiten Pfingstfeiertage dieses Jahres, stürzte er, als er sich beim Herablassen
oder Heraufziehen einer Jalousie über die niedrige Fensterbrüstung hinaus¬
beugte, so unglücklich aus die unter dem Fenster befindlichen Steinstufen, daß
er einen Schädelbruch erlitt, der sofortige Bewußtlosigkeit und nach etwa einer
Viertelstunde den Tod zur Folge hatte. Nach menschlichem Ermessen ist dem
so jus aus dem Leben berufnen alle Qual und Angst des Sterbens erspart
geblieben. Das Furchtbare liegt hier in dem Plötzlichen und in dem Tode selbst,
in dem Erlöschen dieses Lebens.

Freilich sind die Wirkungen eines solchen Lebens unberechenbar, weit über
die Grenzen seiner irdischen Dauer hinaus, immer wachsend, immer weiter Licht
und Segen verbreitend, je geistiger sie aufgefaßt, je mehr sie allen Einzel¬
interessen enthoben und zur Sache der Menschheit gemacht werden. Und doch
in der tiefen Trauer, in allen den Fragen und Zweifeln, in all dem Jammer,
der sich in den einen unfaßbarer Gedanken drangt: Er ist nicht mehr! wer
tröstet uns darin?

Da taucht sie wieder auf, wie aus weiter Ferne, die Gestalt des seltsamen
Denkers, der einst in jungen Tagen das Band festigte, das uns zu dauernder
Freundschaft, zu gemeinsamer Lebensarbeit verbinden sollte — die Gestalt Arthur
Schopenhauers. Und siehe, sein finstres Antlitz hat sich erhellt, es sind nicht
mehr die zum bittern, sarkastischen Lächeln verzerrten Züge, nein, tröstlich, mild
blickt er uns an; er fühlt unser Weh mit, aber er weiß, daß es auch für diese
Wunde einen Balsam giebt.

Wir hatten ihn beide längst vergessen, oder wenigstens den geistigen Ver¬
kehr mit ihm abgebrochen. Das thätige Leben des Mannes, die Freude, die
ihm das Schaffen gewährt, die Illusion, die er dazu braucht, vertragen sich
nicht mit dem Pessimismus. Das Leben ist so schön — und das eben ist das
Entsetzliche des Todes, daß er uns alles das raubt, was uns das Leben ge¬
währt hat und noch gewähren könnte. Das ist das, um was wir den Toten
so beklagen, was Wir so schwer verwinden können. Noch nach langen Jahren:

Jawohl, hast du ein Recht, so zu klagen, großer Dichter! Aber auch er, dein
gewaltiger Widersacher, der Philosoph, hat Recht: die schönen Stunden auch
des Glücklichsten sind gezählt. Der achtzigjährige Bismarck hat es uns jetzt
wieder bestätigt. Ja, das Leben, seinem Hauptinhalt nach, ist Leiden, und
als ein solches wird es uns auch immer erscheinen, wenn wir es nicht mehr


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[0333] Konrad Fiedler Wenigstens einen Teil der Schuld abtragen für alles das, was sie Don dem Lebenden empfangen haben." Nun ist er selbst in das unbekannte Land gegangen. Am 3. Juni, am zweiten Pfingstfeiertage dieses Jahres, stürzte er, als er sich beim Herablassen oder Heraufziehen einer Jalousie über die niedrige Fensterbrüstung hinaus¬ beugte, so unglücklich aus die unter dem Fenster befindlichen Steinstufen, daß er einen Schädelbruch erlitt, der sofortige Bewußtlosigkeit und nach etwa einer Viertelstunde den Tod zur Folge hatte. Nach menschlichem Ermessen ist dem so jus aus dem Leben berufnen alle Qual und Angst des Sterbens erspart geblieben. Das Furchtbare liegt hier in dem Plötzlichen und in dem Tode selbst, in dem Erlöschen dieses Lebens. Freilich sind die Wirkungen eines solchen Lebens unberechenbar, weit über die Grenzen seiner irdischen Dauer hinaus, immer wachsend, immer weiter Licht und Segen verbreitend, je geistiger sie aufgefaßt, je mehr sie allen Einzel¬ interessen enthoben und zur Sache der Menschheit gemacht werden. Und doch in der tiefen Trauer, in allen den Fragen und Zweifeln, in all dem Jammer, der sich in den einen unfaßbarer Gedanken drangt: Er ist nicht mehr! wer tröstet uns darin? Da taucht sie wieder auf, wie aus weiter Ferne, die Gestalt des seltsamen Denkers, der einst in jungen Tagen das Band festigte, das uns zu dauernder Freundschaft, zu gemeinsamer Lebensarbeit verbinden sollte — die Gestalt Arthur Schopenhauers. Und siehe, sein finstres Antlitz hat sich erhellt, es sind nicht mehr die zum bittern, sarkastischen Lächeln verzerrten Züge, nein, tröstlich, mild blickt er uns an; er fühlt unser Weh mit, aber er weiß, daß es auch für diese Wunde einen Balsam giebt. Wir hatten ihn beide längst vergessen, oder wenigstens den geistigen Ver¬ kehr mit ihm abgebrochen. Das thätige Leben des Mannes, die Freude, die ihm das Schaffen gewährt, die Illusion, die er dazu braucht, vertragen sich nicht mit dem Pessimismus. Das Leben ist so schön — und das eben ist das Entsetzliche des Todes, daß er uns alles das raubt, was uns das Leben ge¬ währt hat und noch gewähren könnte. Das ist das, um was wir den Toten so beklagen, was Wir so schwer verwinden können. Noch nach langen Jahren: Jawohl, hast du ein Recht, so zu klagen, großer Dichter! Aber auch er, dein gewaltiger Widersacher, der Philosoph, hat Recht: die schönen Stunden auch des Glücklichsten sind gezählt. Der achtzigjährige Bismarck hat es uns jetzt wieder bestätigt. Ja, das Leben, seinem Hauptinhalt nach, ist Leiden, und als ein solches wird es uns auch immer erscheinen, wenn wir es nicht mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/333>, abgerufen am 23.06.2024.