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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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wird, wo unter günstigen Bedingungen das germanische Element mit Beibehal¬
tung seiner Eigenart einen Kolonialstaat gründen kann.

Bei keinem andern westeuropäischen Lande ist dieses Bedürfnis so dringend.
England hat mit rücksichtsloser Energie in dieser Richtung die besten Erfolge
erzielt; Frankreich, das der Übervölkerung durch Mittel abzuhelfen weiß, zu
denen nur eine Gesellschaft greift, die sich überlebt hat, findet bei seiner
expansiven Kolonialpolitik Raum genug für die, die außerhalb des Heimat¬
landes ihr Glück versuchen wollen. Italien hat sich die Levante zum Sitz
seiner Handelsthätigkeit erkoren, in Tripolis, um Roten Meere festen Fuß gefaßt
und überschwemmt die Nachbarländer mit seinen fleißigen Arbeitern, deren
Bedürfnislosigkeit jeden Wettbewerb ausschließt. Auch ist in Italien der Zu¬
wachs der Bevölkerung geringer als in Deutschland.

Als Carlyle vor Jahrzehnten in seinem lapidaren Stil die verhängnis¬
volle Demokratisirung Englands, den Niedergang in den politischen, sozialen und
sittlichen Zuständen geißelte und die aus der Übervölkerung und der irischen
Einwanderung entstehenden Übelstände hervorhob, fand er die Mittel zur Ab¬
hilfe nur in Erziehung und Auswanderung. Die Erde biete noch genug
Stätten, die der Kultur zu gewinnen seien und lohnende Arbeit versprachen;
sei es nicht würdiger, in dieser Richtung im Kampf ums Dasein nicht nur,
sondern im Dienste der Menschheit seine ganze Persönlichkeit einzusetzen, statt
im übervölkerten Vaterlande mit allen Mitteln und doch oft vergeblich um
eine Existenz zu ringen, die sich selten befriedigend gestalte und so viele ver¬
kümmern lasse? Dieser Mahnruf hat auch für Deutschland seine Geltung. Die
leidige "Magenfrnge" wirkt entsittlichend in weiten Kreisen, erzeugt das
Strebertum mit dem unvermeidlichen Servilismus, wird zur Handhabe der
Sozialdemokratie.

"Erziehung und Auswanderung" sollten nach Carlyle in England die Ab¬
hilfe gewähren. Nun, in Deutschland fehlt es nicht an Erziehung. In wie
weit sie die richtigen Ziele verfolgt, soll hier nicht erörtert werden. Umso-
mehr wird die Auswanderung, in richtige Bahnen geleitet, eine wesentliche
Macht sein bei den Bestrebungen, frische Luft und freien Ausblick zu schaffen
in einer Zeit, die durch eine dumpfe Atmosphäre, ein allgemeines Unbehagen,
eine öde Ratlosigkeit dringenden politischen und sozialen Fragen gegenüber ge¬
zeichnet ist.

Und wiederum, wie vor tausend Jahren, richtet sich der Blick nach Osten.
Lx orionte lux! konnte man wohl sagen, als Europa in dem Dunkel vorgeschicht¬
licher Zeit noch des Lichtes harrte, das ihm die orientalischen Kulturvölker¬
und Griechenland bringen sollten. Dieses helle Licht erlosch, als der Halbmond
die Herrschaft antrat. Auch das Christentum wurde verdrängt aus den Stätten
seiner Entstehung. Aber die Zeiten des Aufschwungs der Anhänger des Islams
waren von kurzer Dauer, und der "kranke Mann" fristet ein kümmerliches Da-


wird, wo unter günstigen Bedingungen das germanische Element mit Beibehal¬
tung seiner Eigenart einen Kolonialstaat gründen kann.

Bei keinem andern westeuropäischen Lande ist dieses Bedürfnis so dringend.
England hat mit rücksichtsloser Energie in dieser Richtung die besten Erfolge
erzielt; Frankreich, das der Übervölkerung durch Mittel abzuhelfen weiß, zu
denen nur eine Gesellschaft greift, die sich überlebt hat, findet bei seiner
expansiven Kolonialpolitik Raum genug für die, die außerhalb des Heimat¬
landes ihr Glück versuchen wollen. Italien hat sich die Levante zum Sitz
seiner Handelsthätigkeit erkoren, in Tripolis, um Roten Meere festen Fuß gefaßt
und überschwemmt die Nachbarländer mit seinen fleißigen Arbeitern, deren
Bedürfnislosigkeit jeden Wettbewerb ausschließt. Auch ist in Italien der Zu¬
wachs der Bevölkerung geringer als in Deutschland.

Als Carlyle vor Jahrzehnten in seinem lapidaren Stil die verhängnis¬
volle Demokratisirung Englands, den Niedergang in den politischen, sozialen und
sittlichen Zuständen geißelte und die aus der Übervölkerung und der irischen
Einwanderung entstehenden Übelstände hervorhob, fand er die Mittel zur Ab¬
hilfe nur in Erziehung und Auswanderung. Die Erde biete noch genug
Stätten, die der Kultur zu gewinnen seien und lohnende Arbeit versprachen;
sei es nicht würdiger, in dieser Richtung im Kampf ums Dasein nicht nur,
sondern im Dienste der Menschheit seine ganze Persönlichkeit einzusetzen, statt
im übervölkerten Vaterlande mit allen Mitteln und doch oft vergeblich um
eine Existenz zu ringen, die sich selten befriedigend gestalte und so viele ver¬
kümmern lasse? Dieser Mahnruf hat auch für Deutschland seine Geltung. Die
leidige „Magenfrnge" wirkt entsittlichend in weiten Kreisen, erzeugt das
Strebertum mit dem unvermeidlichen Servilismus, wird zur Handhabe der
Sozialdemokratie.

„Erziehung und Auswanderung" sollten nach Carlyle in England die Ab¬
hilfe gewähren. Nun, in Deutschland fehlt es nicht an Erziehung. In wie
weit sie die richtigen Ziele verfolgt, soll hier nicht erörtert werden. Umso-
mehr wird die Auswanderung, in richtige Bahnen geleitet, eine wesentliche
Macht sein bei den Bestrebungen, frische Luft und freien Ausblick zu schaffen
in einer Zeit, die durch eine dumpfe Atmosphäre, ein allgemeines Unbehagen,
eine öde Ratlosigkeit dringenden politischen und sozialen Fragen gegenüber ge¬
zeichnet ist.

Und wiederum, wie vor tausend Jahren, richtet sich der Blick nach Osten.
Lx orionte lux! konnte man wohl sagen, als Europa in dem Dunkel vorgeschicht¬
licher Zeit noch des Lichtes harrte, das ihm die orientalischen Kulturvölker¬
und Griechenland bringen sollten. Dieses helle Licht erlosch, als der Halbmond
die Herrschaft antrat. Auch das Christentum wurde verdrängt aus den Stätten
seiner Entstehung. Aber die Zeiten des Aufschwungs der Anhänger des Islams
waren von kurzer Dauer, und der „kranke Mann" fristet ein kümmerliches Da-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/306>, abgerufen am 01.09.2024.