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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Das Kapital von Karl Marx

Das Gewebe des modernen Produktions-, Güteraustausches- und Vertei¬
lungsprozesses für die Betrachtung bloßzulegen, ist dem scharfsinnigen Manne,
wie schon aus dieser dürftigen Skizze erkannt werden kann, in der That ge¬
lungen. Seine Ansicht von dem uns bevorstehenden Umschwunge teilen wir
jedoch nicht, und sein Zukunftsideal lehnen wir, wie gesagt, ab. Für un¬
möglich halten wir es nicht, daß mit dem Kommunismus Versuche im größten
Stile gemacht werden, aber der Zustand, der sich daraus ergeben würde, würde
nicht weniger unerfreulich, wahrscheinlich sogar noch schlimmer sein als der
heutige. Zugleich aber halten wir einen solchen "Umsturz" nicht für not¬
wendig und unvermeidlich. Sehr viel fehlt noch, daß das kapitalistische
System überall folgerichtig durchgeführt wäre. Bei uns namentlich ist der
Bauernstand, den Marx selbst als das Haupthindernis für die reine Durch¬
bildung der kapitalistischen Ordnung betrachtet, dem Untergange noch lauge
nicht so nahe, wie der Bund der Landwirte behauptet und die Sozialdemo¬
kratie sich einbildet. Wir halten daher eine Entwicklung für möglich, bei der
der Privatgrundbesitz in einer Form erhalten bleibt, die nicht abgeschmackt
erscheint, und die Früchte der errungnen Produktivität der Arbeit allen zu
gute kommeu. Durch welche Maßregeln die Entwicklung in diese Bahn zu
lenken wäre, haben wir oft genug gesagt. Ergriffen werden sie freilich nur
dann werden, wenn Regierung und Volk die Lage, und dazu gehört vor
allem auch der Produktionsprozeß, deutlich und vollständig erkennen. Diese
Erkenntnis zu fördern, wäre die gewaltsame Unterdrückung der Sozialdemo¬
kratie das allerungeeignetste Mittel, denn eben von dieser wird der Teil der
Erkenntnis, den wir im vorstehenden behandelt haben, verbreitet. Zwar be¬
darf dieser kritische Teil der Erkenntnis der Lage der Ergänzung durch manche
von andern Richtungen der Wissenschaft betonte Wahrheiten, aber entbehrt
werden kann er nicht.

Die meisten der im vorstehenden erörterten Wahrheiten hat übrigens auch
Rodbertus, und zwar unabhängig von Marx, gefunden und in seiner eigen¬
tümlichen Weise dargestellt (besonders im dritten Briefe an Kirchmann und
in dem "Resunuz" seiner Rententheorie, die im vierten, unter dem Titel "Das
Kapital" von Ad. Wagner und Kozcck herausgegebnen Briefe zu Anfang steht);
aber Rodbertus hat keine Schule, noch weniger eine mächtige Partei als
Verbreiterin seiner Lehren, sondern nur einzelne Anhänger, von denen noch
dazu manche die Ansichten des Meisters nur schüchtern und verblümt vortragen.




Das Kapital von Karl Marx

Das Gewebe des modernen Produktions-, Güteraustausches- und Vertei¬
lungsprozesses für die Betrachtung bloßzulegen, ist dem scharfsinnigen Manne,
wie schon aus dieser dürftigen Skizze erkannt werden kann, in der That ge¬
lungen. Seine Ansicht von dem uns bevorstehenden Umschwunge teilen wir
jedoch nicht, und sein Zukunftsideal lehnen wir, wie gesagt, ab. Für un¬
möglich halten wir es nicht, daß mit dem Kommunismus Versuche im größten
Stile gemacht werden, aber der Zustand, der sich daraus ergeben würde, würde
nicht weniger unerfreulich, wahrscheinlich sogar noch schlimmer sein als der
heutige. Zugleich aber halten wir einen solchen „Umsturz" nicht für not¬
wendig und unvermeidlich. Sehr viel fehlt noch, daß das kapitalistische
System überall folgerichtig durchgeführt wäre. Bei uns namentlich ist der
Bauernstand, den Marx selbst als das Haupthindernis für die reine Durch¬
bildung der kapitalistischen Ordnung betrachtet, dem Untergange noch lauge
nicht so nahe, wie der Bund der Landwirte behauptet und die Sozialdemo¬
kratie sich einbildet. Wir halten daher eine Entwicklung für möglich, bei der
der Privatgrundbesitz in einer Form erhalten bleibt, die nicht abgeschmackt
erscheint, und die Früchte der errungnen Produktivität der Arbeit allen zu
gute kommeu. Durch welche Maßregeln die Entwicklung in diese Bahn zu
lenken wäre, haben wir oft genug gesagt. Ergriffen werden sie freilich nur
dann werden, wenn Regierung und Volk die Lage, und dazu gehört vor
allem auch der Produktionsprozeß, deutlich und vollständig erkennen. Diese
Erkenntnis zu fördern, wäre die gewaltsame Unterdrückung der Sozialdemo¬
kratie das allerungeeignetste Mittel, denn eben von dieser wird der Teil der
Erkenntnis, den wir im vorstehenden behandelt haben, verbreitet. Zwar be¬
darf dieser kritische Teil der Erkenntnis der Lage der Ergänzung durch manche
von andern Richtungen der Wissenschaft betonte Wahrheiten, aber entbehrt
werden kann er nicht.

Die meisten der im vorstehenden erörterten Wahrheiten hat übrigens auch
Rodbertus, und zwar unabhängig von Marx, gefunden und in seiner eigen¬
tümlichen Weise dargestellt (besonders im dritten Briefe an Kirchmann und
in dem „Resunuz" seiner Rententheorie, die im vierten, unter dem Titel „Das
Kapital" von Ad. Wagner und Kozcck herausgegebnen Briefe zu Anfang steht);
aber Rodbertus hat keine Schule, noch weniger eine mächtige Partei als
Verbreiterin seiner Lehren, sondern nur einzelne Anhänger, von denen noch
dazu manche die Ansichten des Meisters nur schüchtern und verblümt vortragen.




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[0143] Das Kapital von Karl Marx Das Gewebe des modernen Produktions-, Güteraustausches- und Vertei¬ lungsprozesses für die Betrachtung bloßzulegen, ist dem scharfsinnigen Manne, wie schon aus dieser dürftigen Skizze erkannt werden kann, in der That ge¬ lungen. Seine Ansicht von dem uns bevorstehenden Umschwunge teilen wir jedoch nicht, und sein Zukunftsideal lehnen wir, wie gesagt, ab. Für un¬ möglich halten wir es nicht, daß mit dem Kommunismus Versuche im größten Stile gemacht werden, aber der Zustand, der sich daraus ergeben würde, würde nicht weniger unerfreulich, wahrscheinlich sogar noch schlimmer sein als der heutige. Zugleich aber halten wir einen solchen „Umsturz" nicht für not¬ wendig und unvermeidlich. Sehr viel fehlt noch, daß das kapitalistische System überall folgerichtig durchgeführt wäre. Bei uns namentlich ist der Bauernstand, den Marx selbst als das Haupthindernis für die reine Durch¬ bildung der kapitalistischen Ordnung betrachtet, dem Untergange noch lauge nicht so nahe, wie der Bund der Landwirte behauptet und die Sozialdemo¬ kratie sich einbildet. Wir halten daher eine Entwicklung für möglich, bei der der Privatgrundbesitz in einer Form erhalten bleibt, die nicht abgeschmackt erscheint, und die Früchte der errungnen Produktivität der Arbeit allen zu gute kommeu. Durch welche Maßregeln die Entwicklung in diese Bahn zu lenken wäre, haben wir oft genug gesagt. Ergriffen werden sie freilich nur dann werden, wenn Regierung und Volk die Lage, und dazu gehört vor allem auch der Produktionsprozeß, deutlich und vollständig erkennen. Diese Erkenntnis zu fördern, wäre die gewaltsame Unterdrückung der Sozialdemo¬ kratie das allerungeeignetste Mittel, denn eben von dieser wird der Teil der Erkenntnis, den wir im vorstehenden behandelt haben, verbreitet. Zwar be¬ darf dieser kritische Teil der Erkenntnis der Lage der Ergänzung durch manche von andern Richtungen der Wissenschaft betonte Wahrheiten, aber entbehrt werden kann er nicht. Die meisten der im vorstehenden erörterten Wahrheiten hat übrigens auch Rodbertus, und zwar unabhängig von Marx, gefunden und in seiner eigen¬ tümlichen Weise dargestellt (besonders im dritten Briefe an Kirchmann und in dem „Resunuz" seiner Rententheorie, die im vierten, unter dem Titel „Das Kapital" von Ad. Wagner und Kozcck herausgegebnen Briefe zu Anfang steht); aber Rodbertus hat keine Schule, noch weniger eine mächtige Partei als Verbreiterin seiner Lehren, sondern nur einzelne Anhänger, von denen noch dazu manche die Ansichten des Meisters nur schüchtern und verblümt vortragen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/143>, abgerufen am 27.07.2024.