Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gserue Brücken

als das Geringste gefordert werden müsse, und was auch für die schwersten Loko¬
motiven der Neuzeit ausgereicht hätte. Dagegen wurde wieder eingewendet,
daß durch eine derartige übermäßige Belastung leicht der Keim zu einem Zu¬
sammenbruch der Brücke gelegt werden könne, und der Erbauer wohl aus
diesem Grunde eine solche Belastung absichtlich vermieden habe. (Einer zu
starken Probebelastung wird z. B. -- und vielleicht nicht mit Unrecht -- der
Zusammensturz der Morawabrücke bei Subiczewo in Serbien, der sich im
September 1892 ereignete, zugeschrieben. Auch die fünfzig Meter lange Stahl¬
brücke über den Thirso bei Taulago in Friaul brach am 22. Juli 1894 durch
übermäßige Probebelastung zusammen, wobei der Erbauer, der Ingenieur
Venier, seinen Tod fand.) Endlich fehlte es auch nicht an Fachleuten, die sich
den Unfall bei Mönchenstein nur dadurch erklären konnten, daß infolge zu
großer Fahrgeschwindigkeit eine Zugentgleisung auf der Brücke stattgefunden
habe, der auch das beste Material und die stärkste Konstruktion nicht wider¬
standen haben würde. Daher wurde dem Erbauer wieder vorgeworfen, daß
er es unterlassen habe, eine Schutzvorrichtung in der Form seitlicher Leit¬
schienen anzubringen, sogenannter Zwangs- oder Prellschienen, durch die eine
Entgleisung unmöglich gemacht würde.

Auch die Ursachen des Zusammenbruchs der Taybrücke in Schottland am
20. Dezember 1879(?), bei dem zweihundert Menschen umkamen, der Bromley-
brücke in England am 24. November 1882 (mit fünf Toten), der Aberdeenshere-
brücke in Schottland am 27. November desselben Jahres (mit sieben Toten),
der Brücke zwischen Durdas und Ontario im Januar dieses Jahres (mit drei
Toten und vielen Verwundeten) und andrer verhältnismäßig noch neuer Brücken
in Nordamerika haben sich trotz aller Untersuchungen nicht mit Bestimmtheit
ermitteln lassen. Auch die Kommission, die mit der Untersuchung der 1891
eingestürzten Brücke bei Tiflis beauftragt war (bei diesem Unglück ertranken
gegen hundert Menschen, und fast ebenso viele wurden verstümmelt), war wohl
von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen, die wirkliche Ursache des Un¬
glücks feststellen zu können, im voraus überzeugt; denn ihr lakonischer Bericht
soll ungefähr darauf hinaufgelaufen sein, daß die Brücke zweifellos vorhanden
gewesen und zweifellos eingestürzt sei, daß alles in bester Ordnung gewesen
sei, und daß die Brücke ihrer Bestimmung entsprochen habe. Hierzu wurde
später etwas spöttisch bemerkt, daß nur noch ein ähnlicher Beschluß gefehlt
hätte, wie ihn die Rechtsvertreter Deutschlands in demselben Jahre in Köln
bei der Beratung über ein Trunksuchtsgesetz gefaßt hatten, der dahin lautete,
daß besondre strafgesetzliche Bestimmungen gegen Trunksucht und Trunkenheit
nicht geboten seien; man hätte diesen Beschluß inne^dis niutÄnäis ebenso gut
in dem Bericht über die eingestürzte Brücke anbringen können.

Aber die Sache ist doch zu ernst, um Scherz damit zu treiben; wir wollen
daher einmal an der Hand der Wissenschaft und der wenigen bisher gefällt-


Gserue Brücken

als das Geringste gefordert werden müsse, und was auch für die schwersten Loko¬
motiven der Neuzeit ausgereicht hätte. Dagegen wurde wieder eingewendet,
daß durch eine derartige übermäßige Belastung leicht der Keim zu einem Zu¬
sammenbruch der Brücke gelegt werden könne, und der Erbauer wohl aus
diesem Grunde eine solche Belastung absichtlich vermieden habe. (Einer zu
starken Probebelastung wird z. B. — und vielleicht nicht mit Unrecht — der
Zusammensturz der Morawabrücke bei Subiczewo in Serbien, der sich im
September 1892 ereignete, zugeschrieben. Auch die fünfzig Meter lange Stahl¬
brücke über den Thirso bei Taulago in Friaul brach am 22. Juli 1894 durch
übermäßige Probebelastung zusammen, wobei der Erbauer, der Ingenieur
Venier, seinen Tod fand.) Endlich fehlte es auch nicht an Fachleuten, die sich
den Unfall bei Mönchenstein nur dadurch erklären konnten, daß infolge zu
großer Fahrgeschwindigkeit eine Zugentgleisung auf der Brücke stattgefunden
habe, der auch das beste Material und die stärkste Konstruktion nicht wider¬
standen haben würde. Daher wurde dem Erbauer wieder vorgeworfen, daß
er es unterlassen habe, eine Schutzvorrichtung in der Form seitlicher Leit¬
schienen anzubringen, sogenannter Zwangs- oder Prellschienen, durch die eine
Entgleisung unmöglich gemacht würde.

Auch die Ursachen des Zusammenbruchs der Taybrücke in Schottland am
20. Dezember 1879(?), bei dem zweihundert Menschen umkamen, der Bromley-
brücke in England am 24. November 1882 (mit fünf Toten), der Aberdeenshere-
brücke in Schottland am 27. November desselben Jahres (mit sieben Toten),
der Brücke zwischen Durdas und Ontario im Januar dieses Jahres (mit drei
Toten und vielen Verwundeten) und andrer verhältnismäßig noch neuer Brücken
in Nordamerika haben sich trotz aller Untersuchungen nicht mit Bestimmtheit
ermitteln lassen. Auch die Kommission, die mit der Untersuchung der 1891
eingestürzten Brücke bei Tiflis beauftragt war (bei diesem Unglück ertranken
gegen hundert Menschen, und fast ebenso viele wurden verstümmelt), war wohl
von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen, die wirkliche Ursache des Un¬
glücks feststellen zu können, im voraus überzeugt; denn ihr lakonischer Bericht
soll ungefähr darauf hinaufgelaufen sein, daß die Brücke zweifellos vorhanden
gewesen und zweifellos eingestürzt sei, daß alles in bester Ordnung gewesen
sei, und daß die Brücke ihrer Bestimmung entsprochen habe. Hierzu wurde
später etwas spöttisch bemerkt, daß nur noch ein ähnlicher Beschluß gefehlt
hätte, wie ihn die Rechtsvertreter Deutschlands in demselben Jahre in Köln
bei der Beratung über ein Trunksuchtsgesetz gefaßt hatten, der dahin lautete,
daß besondre strafgesetzliche Bestimmungen gegen Trunksucht und Trunkenheit
nicht geboten seien; man hätte diesen Beschluß inne^dis niutÄnäis ebenso gut
in dem Bericht über die eingestürzte Brücke anbringen können.

Aber die Sache ist doch zu ernst, um Scherz damit zu treiben; wir wollen
daher einmal an der Hand der Wissenschaft und der wenigen bisher gefällt-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0119" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220445"/>
          <fw type="header" place="top"> Gserue Brücken</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_460" prev="#ID_459"> als das Geringste gefordert werden müsse, und was auch für die schwersten Loko¬<lb/>
motiven der Neuzeit ausgereicht hätte. Dagegen wurde wieder eingewendet,<lb/>
daß durch eine derartige übermäßige Belastung leicht der Keim zu einem Zu¬<lb/>
sammenbruch der Brücke gelegt werden könne, und der Erbauer wohl aus<lb/>
diesem Grunde eine solche Belastung absichtlich vermieden habe. (Einer zu<lb/>
starken Probebelastung wird z. B. &#x2014; und vielleicht nicht mit Unrecht &#x2014; der<lb/>
Zusammensturz der Morawabrücke bei Subiczewo in Serbien, der sich im<lb/>
September 1892 ereignete, zugeschrieben. Auch die fünfzig Meter lange Stahl¬<lb/>
brücke über den Thirso bei Taulago in Friaul brach am 22. Juli 1894 durch<lb/>
übermäßige Probebelastung zusammen, wobei der Erbauer, der Ingenieur<lb/>
Venier, seinen Tod fand.) Endlich fehlte es auch nicht an Fachleuten, die sich<lb/>
den Unfall bei Mönchenstein nur dadurch erklären konnten, daß infolge zu<lb/>
großer Fahrgeschwindigkeit eine Zugentgleisung auf der Brücke stattgefunden<lb/>
habe, der auch das beste Material und die stärkste Konstruktion nicht wider¬<lb/>
standen haben würde. Daher wurde dem Erbauer wieder vorgeworfen, daß<lb/>
er es unterlassen habe, eine Schutzvorrichtung in der Form seitlicher Leit¬<lb/>
schienen anzubringen, sogenannter Zwangs- oder Prellschienen, durch die eine<lb/>
Entgleisung unmöglich gemacht würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_461"> Auch die Ursachen des Zusammenbruchs der Taybrücke in Schottland am<lb/>
20. Dezember 1879(?), bei dem zweihundert Menschen umkamen, der Bromley-<lb/>
brücke in England am 24. November 1882 (mit fünf Toten), der Aberdeenshere-<lb/>
brücke in Schottland am 27. November desselben Jahres (mit sieben Toten),<lb/>
der Brücke zwischen Durdas und Ontario im Januar dieses Jahres (mit drei<lb/>
Toten und vielen Verwundeten) und andrer verhältnismäßig noch neuer Brücken<lb/>
in Nordamerika haben sich trotz aller Untersuchungen nicht mit Bestimmtheit<lb/>
ermitteln lassen. Auch die Kommission, die mit der Untersuchung der 1891<lb/>
eingestürzten Brücke bei Tiflis beauftragt war (bei diesem Unglück ertranken<lb/>
gegen hundert Menschen, und fast ebenso viele wurden verstümmelt), war wohl<lb/>
von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen, die wirkliche Ursache des Un¬<lb/>
glücks feststellen zu können, im voraus überzeugt; denn ihr lakonischer Bericht<lb/>
soll ungefähr darauf hinaufgelaufen sein, daß die Brücke zweifellos vorhanden<lb/>
gewesen und zweifellos eingestürzt sei, daß alles in bester Ordnung gewesen<lb/>
sei, und daß die Brücke ihrer Bestimmung entsprochen habe. Hierzu wurde<lb/>
später etwas spöttisch bemerkt, daß nur noch ein ähnlicher Beschluß gefehlt<lb/>
hätte, wie ihn die Rechtsvertreter Deutschlands in demselben Jahre in Köln<lb/>
bei der Beratung über ein Trunksuchtsgesetz gefaßt hatten, der dahin lautete,<lb/>
daß besondre strafgesetzliche Bestimmungen gegen Trunksucht und Trunkenheit<lb/>
nicht geboten seien; man hätte diesen Beschluß inne^dis niutÄnäis ebenso gut<lb/>
in dem Bericht über die eingestürzte Brücke anbringen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_462" next="#ID_463"> Aber die Sache ist doch zu ernst, um Scherz damit zu treiben; wir wollen<lb/>
daher einmal an der Hand der Wissenschaft und der wenigen bisher gefällt-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0119] Gserue Brücken als das Geringste gefordert werden müsse, und was auch für die schwersten Loko¬ motiven der Neuzeit ausgereicht hätte. Dagegen wurde wieder eingewendet, daß durch eine derartige übermäßige Belastung leicht der Keim zu einem Zu¬ sammenbruch der Brücke gelegt werden könne, und der Erbauer wohl aus diesem Grunde eine solche Belastung absichtlich vermieden habe. (Einer zu starken Probebelastung wird z. B. — und vielleicht nicht mit Unrecht — der Zusammensturz der Morawabrücke bei Subiczewo in Serbien, der sich im September 1892 ereignete, zugeschrieben. Auch die fünfzig Meter lange Stahl¬ brücke über den Thirso bei Taulago in Friaul brach am 22. Juli 1894 durch übermäßige Probebelastung zusammen, wobei der Erbauer, der Ingenieur Venier, seinen Tod fand.) Endlich fehlte es auch nicht an Fachleuten, die sich den Unfall bei Mönchenstein nur dadurch erklären konnten, daß infolge zu großer Fahrgeschwindigkeit eine Zugentgleisung auf der Brücke stattgefunden habe, der auch das beste Material und die stärkste Konstruktion nicht wider¬ standen haben würde. Daher wurde dem Erbauer wieder vorgeworfen, daß er es unterlassen habe, eine Schutzvorrichtung in der Form seitlicher Leit¬ schienen anzubringen, sogenannter Zwangs- oder Prellschienen, durch die eine Entgleisung unmöglich gemacht würde. Auch die Ursachen des Zusammenbruchs der Taybrücke in Schottland am 20. Dezember 1879(?), bei dem zweihundert Menschen umkamen, der Bromley- brücke in England am 24. November 1882 (mit fünf Toten), der Aberdeenshere- brücke in Schottland am 27. November desselben Jahres (mit sieben Toten), der Brücke zwischen Durdas und Ontario im Januar dieses Jahres (mit drei Toten und vielen Verwundeten) und andrer verhältnismäßig noch neuer Brücken in Nordamerika haben sich trotz aller Untersuchungen nicht mit Bestimmtheit ermitteln lassen. Auch die Kommission, die mit der Untersuchung der 1891 eingestürzten Brücke bei Tiflis beauftragt war (bei diesem Unglück ertranken gegen hundert Menschen, und fast ebenso viele wurden verstümmelt), war wohl von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen, die wirkliche Ursache des Un¬ glücks feststellen zu können, im voraus überzeugt; denn ihr lakonischer Bericht soll ungefähr darauf hinaufgelaufen sein, daß die Brücke zweifellos vorhanden gewesen und zweifellos eingestürzt sei, daß alles in bester Ordnung gewesen sei, und daß die Brücke ihrer Bestimmung entsprochen habe. Hierzu wurde später etwas spöttisch bemerkt, daß nur noch ein ähnlicher Beschluß gefehlt hätte, wie ihn die Rechtsvertreter Deutschlands in demselben Jahre in Köln bei der Beratung über ein Trunksuchtsgesetz gefaßt hatten, der dahin lautete, daß besondre strafgesetzliche Bestimmungen gegen Trunksucht und Trunkenheit nicht geboten seien; man hätte diesen Beschluß inne^dis niutÄnäis ebenso gut in dem Bericht über die eingestürzte Brücke anbringen können. Aber die Sache ist doch zu ernst, um Scherz damit zu treiben; wir wollen daher einmal an der Hand der Wissenschaft und der wenigen bisher gefällt-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/119
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/119>, abgerufen am 28.07.2024.