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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Knabenerziehung und Knabenunterricht
im alten Hellas
von Gustav Benseler

in Aufsatz, der zeigt, welche Schulen die athenischen und dann
überhaupt die griechischen Knaben besuchten, wer ihre Lehrer
waren, worin sie unterrichtet wurden und was sie lernten, darf
gegenwärtig wohl um so eher auf Leser rechnen, je mehr gerade
jetzt Fragen, die Unterricht und Erziehung betreffen, das Inter¬
esse weiterer und nicht bloß fachmännischer Kreise erregen. Dann gilt aber
auch auf diesem Gebiete, wie auf so vielen andern, die nicht immer genug
beachtete Erfahrung, daß die Kenntnis des Vergangnen und der geschichtlichen
Entwicklung das beste Mittel ist, Gegenwärtiges besonnen und sachgemäß zu
beurteilen und bei Reformversuchen in dem Gebiete des Erreichbaren und, weil
einst Gewesenen, so auch Möglichen zu bleiben. Wer wie der spartanische
König Agesilaos auf die Frage: was nach seiner Ansicht Knaben lernen sollten,
antwortet, was sie als Männer brauchen können, der muß auch für unsre
deutsche Jugend einen Unterricht nach dem Grundsatze wünschen, daß unsre
Jugend fürs Leben lerne, nicht für die Schule, d. h. einen Unterricht nach
ähnlichen Grundsätzen erhalte, wie sie die hellenische Erziehung geleitet haben.
Und wem^ wie so vielen der Besten unsrer Zeit, eine gedeihliche und befrie¬
digende Ausgestaltung des Schulwesens Herzenssache ist, der folgt auch darin
nur dem Vorbilde der beiden größten Denker des griechischen Altertums; denn
Plato wie Aristoteles stellt eine angemessene richtige Erziehung der Jugend
als die unentbehrliche Grundlage hin, auf der allein ein vollkommnes Staats¬
wesen aufgebaut werden könne. "Die Erziehung der Jugend bildet den An¬
fang jedes Staates," hatten schon die Pythagoreer gelehrt.

Begleiten wir zunächst einmal einen athenischen Knaben dnrch sein sehnl¬
icher bis zu seiner Aufnahme in die Bürgerschaft. Ausgewachsen ist er unter
den Augen des Vaters, unter der Zucht der Mutter. Eine Amme und eine
Pflegerin haben seine Phantasie vielleicht mehr, als ihm zuträglich war, mit
Mythen und Märchen, äsopischen und andern Fabeln, aber auch mit Spuk-
und Gespenstergeschichten erregt. Umgeben von einer Sklavendienerschaft, deren




Knabenerziehung und Knabenunterricht
im alten Hellas
von Gustav Benseler

in Aufsatz, der zeigt, welche Schulen die athenischen und dann
überhaupt die griechischen Knaben besuchten, wer ihre Lehrer
waren, worin sie unterrichtet wurden und was sie lernten, darf
gegenwärtig wohl um so eher auf Leser rechnen, je mehr gerade
jetzt Fragen, die Unterricht und Erziehung betreffen, das Inter¬
esse weiterer und nicht bloß fachmännischer Kreise erregen. Dann gilt aber
auch auf diesem Gebiete, wie auf so vielen andern, die nicht immer genug
beachtete Erfahrung, daß die Kenntnis des Vergangnen und der geschichtlichen
Entwicklung das beste Mittel ist, Gegenwärtiges besonnen und sachgemäß zu
beurteilen und bei Reformversuchen in dem Gebiete des Erreichbaren und, weil
einst Gewesenen, so auch Möglichen zu bleiben. Wer wie der spartanische
König Agesilaos auf die Frage: was nach seiner Ansicht Knaben lernen sollten,
antwortet, was sie als Männer brauchen können, der muß auch für unsre
deutsche Jugend einen Unterricht nach dem Grundsatze wünschen, daß unsre
Jugend fürs Leben lerne, nicht für die Schule, d. h. einen Unterricht nach
ähnlichen Grundsätzen erhalte, wie sie die hellenische Erziehung geleitet haben.
Und wem^ wie so vielen der Besten unsrer Zeit, eine gedeihliche und befrie¬
digende Ausgestaltung des Schulwesens Herzenssache ist, der folgt auch darin
nur dem Vorbilde der beiden größten Denker des griechischen Altertums; denn
Plato wie Aristoteles stellt eine angemessene richtige Erziehung der Jugend
als die unentbehrliche Grundlage hin, auf der allein ein vollkommnes Staats¬
wesen aufgebaut werden könne. „Die Erziehung der Jugend bildet den An¬
fang jedes Staates," hatten schon die Pythagoreer gelehrt.

Begleiten wir zunächst einmal einen athenischen Knaben dnrch sein sehnl¬
icher bis zu seiner Aufnahme in die Bürgerschaft. Ausgewachsen ist er unter
den Augen des Vaters, unter der Zucht der Mutter. Eine Amme und eine
Pflegerin haben seine Phantasie vielleicht mehr, als ihm zuträglich war, mit
Mythen und Märchen, äsopischen und andern Fabeln, aber auch mit Spuk-
und Gespenstergeschichten erregt. Umgeben von einer Sklavendienerschaft, deren


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[0080] [Abbildung] Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas von Gustav Benseler in Aufsatz, der zeigt, welche Schulen die athenischen und dann überhaupt die griechischen Knaben besuchten, wer ihre Lehrer waren, worin sie unterrichtet wurden und was sie lernten, darf gegenwärtig wohl um so eher auf Leser rechnen, je mehr gerade jetzt Fragen, die Unterricht und Erziehung betreffen, das Inter¬ esse weiterer und nicht bloß fachmännischer Kreise erregen. Dann gilt aber auch auf diesem Gebiete, wie auf so vielen andern, die nicht immer genug beachtete Erfahrung, daß die Kenntnis des Vergangnen und der geschichtlichen Entwicklung das beste Mittel ist, Gegenwärtiges besonnen und sachgemäß zu beurteilen und bei Reformversuchen in dem Gebiete des Erreichbaren und, weil einst Gewesenen, so auch Möglichen zu bleiben. Wer wie der spartanische König Agesilaos auf die Frage: was nach seiner Ansicht Knaben lernen sollten, antwortet, was sie als Männer brauchen können, der muß auch für unsre deutsche Jugend einen Unterricht nach dem Grundsatze wünschen, daß unsre Jugend fürs Leben lerne, nicht für die Schule, d. h. einen Unterricht nach ähnlichen Grundsätzen erhalte, wie sie die hellenische Erziehung geleitet haben. Und wem^ wie so vielen der Besten unsrer Zeit, eine gedeihliche und befrie¬ digende Ausgestaltung des Schulwesens Herzenssache ist, der folgt auch darin nur dem Vorbilde der beiden größten Denker des griechischen Altertums; denn Plato wie Aristoteles stellt eine angemessene richtige Erziehung der Jugend als die unentbehrliche Grundlage hin, auf der allein ein vollkommnes Staats¬ wesen aufgebaut werden könne. „Die Erziehung der Jugend bildet den An¬ fang jedes Staates," hatten schon die Pythagoreer gelehrt. Begleiten wir zunächst einmal einen athenischen Knaben dnrch sein sehnl¬ icher bis zu seiner Aufnahme in die Bürgerschaft. Ausgewachsen ist er unter den Augen des Vaters, unter der Zucht der Mutter. Eine Amme und eine Pflegerin haben seine Phantasie vielleicht mehr, als ihm zuträglich war, mit Mythen und Märchen, äsopischen und andern Fabeln, aber auch mit Spuk- und Gespenstergeschichten erregt. Umgeben von einer Sklavendienerschaft, deren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/80>, abgerufen am 25.08.2024.