Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Das soziale Problem Vorgehen die Rede sein kann? Ist nicht in den höhern Berufen das Streber¬ Wer könnte das bestreiten wollen, ohne sich lächerlich zu machen! Wie Der Neid ist so alt wie die Menschheit. Schon Kains Sünde hatte den Nicht minder schuldig sind aber die, denen der Genuß über alles geht, In der Versammlung, an die sich unsre Betrachtung anschloß, sprachen Ein Teil der Arbeitgeber in der Industrie häuft zwar durch günstige Das soziale Problem Vorgehen die Rede sein kann? Ist nicht in den höhern Berufen das Streber¬ Wer könnte das bestreiten wollen, ohne sich lächerlich zu machen! Wie Der Neid ist so alt wie die Menschheit. Schon Kains Sünde hatte den Nicht minder schuldig sind aber die, denen der Genuß über alles geht, In der Versammlung, an die sich unsre Betrachtung anschloß, sprachen Ein Teil der Arbeitgeber in der Industrie häuft zwar durch günstige <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219743"/> <fw type="header" place="top"> Das soziale Problem</fw><lb/> <p xml:id="ID_185" prev="#ID_184"> Vorgehen die Rede sein kann? Ist nicht in den höhern Berufen das Streber¬<lb/> tum, das Cliquenwesen, die Kriecherei, die Heuchelei, das Protektionswesen<lb/> und die gegenseitige Versorgung und Lobhudelei auch unlauterer Wettbewerb?<lb/> Auch hier spricht die große Konkurrenz auf allen Gebieten ein gewichtiges<lb/> Wort. Ist es denn aber bei all dieser großen Konkureuz wirklich so viel<lb/> schlechter geworden als früher, wo weder die Verkehrswege so vielseitig, noch<lb/> der Verkehr so erleichtert war wie heute? War es, als die Berufswahl<lb/> und die Berufsübung noch in Fesseln aller Art schmachtete, wirklich besser als<lb/> jetzt? Haben wir nicht unendliche Fortschritte in der Kultur, im Wohlstand<lb/> und in der Lebenshaltung aller, gerade in der Periode der vermehrten Frei¬<lb/> heit und des verbesserten Verkehrs gemacht?</p><lb/> <p xml:id="ID_186"> Wer könnte das bestreiten wollen, ohne sich lächerlich zu machen! Wie<lb/> kann man denn aber klagen, wenn es doch sichtlich im allgemeinen weit besser<lb/> geworden ist als früher! Nun, gerade die Besserung ist es ja, die viele<lb/> Klagen hervorgerufen hat, und zwar deshalb, weil durch die Besserung auch<lb/> der Neid gewachsen ist!</p><lb/> <p xml:id="ID_187"> Der Neid ist so alt wie die Menschheit. Schon Kains Sünde hatte den<lb/> Neid zum Vater. Nicht alle haben den gleichen Anteil an der Verbesserung<lb/> erhalten, und doch möchte jeder den größten haben. Gar mancher trägt aber<lb/> die Schuld in sich, daß ihm statt einer Verbesserung eine Verschlechterung zu<lb/> teil geworden ist, er wollte alles oder nichts, wollte mehr, als billig war,<lb/> und verlor dadurch, anstatt zu gewinnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_188"> Nicht minder schuldig sind aber die, denen der Genuß über alles geht,<lb/> die weder den Satz: „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister" noch<lb/> den: „Die Götter verleihen keine Güter ohne Arbeit" beherzigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_189"> In der Versammlung, an die sich unsre Betrachtung anschloß, sprachen<lb/> sich nur klagende Landwirte, Handwerker und Kaufleute aus. Arbeiter und<lb/> Fabrikanten waren nicht vertreten oder nicht zum Worte gekommen. Und<lb/> doch wird in der Regel gerade die Arbeiterfrage als die soziale Frage an¬<lb/> gesehen, weil eine längere Zeit hindurch die soziale Frage allein durch die<lb/> Arbeiter in Fluß gebracht worden war. Denn die Forderungen der Arbeiter<lb/> nach Verkürzung der Arbeitszeit, nach höherm Lohn, kurz nach vermehrtem<lb/> Anteil an physischen und geistigen Lebensgenüssen sind die Quintessenz der<lb/> Bewegung, die sich als die sozialistische in allen Kulturstaaten vollzieht, und<lb/> den Arbeitern stehen Arbeitgeber gegenüber, die thatsächlich nicht wissen, wie<lb/> sie auch nur den kleinsten Teil der Forderungen erfüllen sollten. Wie die<lb/> Arbeiter durch die gegenseitige Konkurrenz zum Ausharren in teilweise recht<lb/> schlechter Lage gezwungen sind, so vermag auch ein großer Teil der Industriellen<lb/> dem Arbeiter keinen höhern Lohn zu bieten, weil er sich nnr mit Mühe und<lb/> Not vor dem Unterliegen im Konkurrenzkampf zu schützen vermag.</p><lb/> <p xml:id="ID_190" next="#ID_191"> Ein Teil der Arbeitgeber in der Industrie häuft zwar durch günstige</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
Das soziale Problem
Vorgehen die Rede sein kann? Ist nicht in den höhern Berufen das Streber¬
tum, das Cliquenwesen, die Kriecherei, die Heuchelei, das Protektionswesen
und die gegenseitige Versorgung und Lobhudelei auch unlauterer Wettbewerb?
Auch hier spricht die große Konkurrenz auf allen Gebieten ein gewichtiges
Wort. Ist es denn aber bei all dieser großen Konkureuz wirklich so viel
schlechter geworden als früher, wo weder die Verkehrswege so vielseitig, noch
der Verkehr so erleichtert war wie heute? War es, als die Berufswahl
und die Berufsübung noch in Fesseln aller Art schmachtete, wirklich besser als
jetzt? Haben wir nicht unendliche Fortschritte in der Kultur, im Wohlstand
und in der Lebenshaltung aller, gerade in der Periode der vermehrten Frei¬
heit und des verbesserten Verkehrs gemacht?
Wer könnte das bestreiten wollen, ohne sich lächerlich zu machen! Wie
kann man denn aber klagen, wenn es doch sichtlich im allgemeinen weit besser
geworden ist als früher! Nun, gerade die Besserung ist es ja, die viele
Klagen hervorgerufen hat, und zwar deshalb, weil durch die Besserung auch
der Neid gewachsen ist!
Der Neid ist so alt wie die Menschheit. Schon Kains Sünde hatte den
Neid zum Vater. Nicht alle haben den gleichen Anteil an der Verbesserung
erhalten, und doch möchte jeder den größten haben. Gar mancher trägt aber
die Schuld in sich, daß ihm statt einer Verbesserung eine Verschlechterung zu
teil geworden ist, er wollte alles oder nichts, wollte mehr, als billig war,
und verlor dadurch, anstatt zu gewinnen.
Nicht minder schuldig sind aber die, denen der Genuß über alles geht,
die weder den Satz: „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister" noch
den: „Die Götter verleihen keine Güter ohne Arbeit" beherzigen.
In der Versammlung, an die sich unsre Betrachtung anschloß, sprachen
sich nur klagende Landwirte, Handwerker und Kaufleute aus. Arbeiter und
Fabrikanten waren nicht vertreten oder nicht zum Worte gekommen. Und
doch wird in der Regel gerade die Arbeiterfrage als die soziale Frage an¬
gesehen, weil eine längere Zeit hindurch die soziale Frage allein durch die
Arbeiter in Fluß gebracht worden war. Denn die Forderungen der Arbeiter
nach Verkürzung der Arbeitszeit, nach höherm Lohn, kurz nach vermehrtem
Anteil an physischen und geistigen Lebensgenüssen sind die Quintessenz der
Bewegung, die sich als die sozialistische in allen Kulturstaaten vollzieht, und
den Arbeitern stehen Arbeitgeber gegenüber, die thatsächlich nicht wissen, wie
sie auch nur den kleinsten Teil der Forderungen erfüllen sollten. Wie die
Arbeiter durch die gegenseitige Konkurrenz zum Ausharren in teilweise recht
schlechter Lage gezwungen sind, so vermag auch ein großer Teil der Industriellen
dem Arbeiter keinen höhern Lohn zu bieten, weil er sich nnr mit Mühe und
Not vor dem Unterliegen im Konkurrenzkampf zu schützen vermag.
Ein Teil der Arbeitgeber in der Industrie häuft zwar durch günstige
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