Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Setzung der für die körperliche Brauchbarkeit der Rekruten zu stellenden Anforde¬ Die kommunistische Idee ist das Manometer der Spannung der Besitzverhältnisse. Grenzboten II 189S 7
Maßgebliches und Unmaßgebliches Setzung der für die körperliche Brauchbarkeit der Rekruten zu stellenden Anforde¬ Die kommunistische Idee ist das Manometer der Spannung der Besitzverhältnisse. Grenzboten II 189S 7
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0057" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219733"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_147" prev="#ID_146"> Setzung der für die körperliche Brauchbarkeit der Rekruten zu stellenden Anforde¬<lb/> rungen seien beim letzten Musterungsgeschäft viele angenommen worden, die dann<lb/> im Dienst ganz untauglich befunden worden wären und wieder hätten entlassen<lb/> werden müssen? Und ist es etwa nicht wahr, daß es im deutschen Reiche, u. ni.<lb/> auch im Königreich Sachsen, Dörfer giebt, wo unter vierzig bis fünfzig Stellungs¬<lb/> pflichtigen auch nicht ein brauchbarer gefunden wird? Wie wird da nach zehn, zwanzig<lb/> Jahren unser Heer aussehen? Und von welcher Lage der untern Klassen giebt diese<lb/> leibliche Verkümmerung Kunde? Der Generalanzeiger für Schleswig-Holstein, ein<lb/> farbloses Blatt, schrieb in Ur. 6ö: Um sich von dem Elend der untern Klassen zu<lb/> überzeugen, braucht mau gar nicht in den Hütten der Armut herumzukriechen, man<lb/> bemühe sich bloß, in Kiel die Werftarbeiter anzusehen, wenn sie zur Mittagszeit<lb/> durch die Stadt eilen, um ihr Essen einzunehmen. Haben sie wenigstens satt zu<lb/> essen? fragt der Verfasser. „Ganz gewiß nicht! So sehen gut genährte und ge¬<lb/> sunde Menschen nicht aus! Jeder Gutsbesitzer würde sich schämen, so schlecht<lb/> genährtes Zugvieh zu haben." Und das sind nnn weder Ochsen noch Sklaven,<lb/> sondern wahlberechtigte Reichsbürger! Ist von denen Begeisterung sür unsre Staats-<lb/> einrichtungen zu erwarten? Und klagt nicht unsre Industrie über die ewige De¬<lb/> pression? Und der kleine Rentner über den niedrigen Zinsfuß? Und der Gro߬<lb/> kapitalist, daß er sein Geld nirgends nutzbar anbringe? Und der Beamte, daß er<lb/> mit seinem Gehalt nicht auskomme? Und ist es den Herren Professorenfresscrn<lb/> unbekannt, daß die Kartellpnrteien im Reichstage die Minderheit bilden und beim<lb/> allgemeinen Wahlrecht — solange die beschriebnen Verhältnisse fortdauern — nie¬<lb/> mals Mehrheit werden können? Und daß diese Minderheit, selbst wenn sie Mehr¬<lb/> heit würde, keinen Schritt vorwärts zu thun vermöchte, weil ihre beiden Hälften,<lb/> die industrielle und die agrarische, durch einen unversöhnlichen Interessenkonflikt<lb/> auseinandergehalten werden? Und das soll ein Zustand sein, der aufrecht erhalten<lb/> zu werden verdiente, und uicht vielmehr ein Zustand, um dessen Überwindung alle<lb/> vernünftigen Leute und guten Patrioten arbeiten müssen? Diese Pflicht erfüllen<lb/> nun gerade die angegriffnen Geheimräte, Pastoren und Professoren. Über die<lb/> Heilmittel, die sie vorschlagen (unter denen übrigens kein einziges in dem Grade<lb/> kommunistisch ist wie der Antrag Kanitz), mag man denken, wie man will, jeden¬<lb/> falls sind sie nicht so dumm und so roh wie der Vorschlag, auf den jener Zeitungs-<lb/> artikel hinausläuft, die reformfreundlichen Akademiker abzusetzen oder einzusperren<lb/> und von Zeit zu Zeit ein paar tausend widerspenstige Arbeiter totzuschießen, ein<lb/> Vorschlag, dessen Ausführung an der oben beschriebnen Lage gnr nichts ändern<lb/> würde. Dagegen würde die von den angesehensten Rechtslehrern geforderte Reform<lb/> des Eigentumsrechts sehr viel ändern; denn unser Eigentumsrecht verwandelt sich<lb/> mehr und mehr in ein Recht der wenigen, den vielen den Zugang zum Eigentum<lb/> zu sperren; nicht von den Sozialdemokraten, sondern vom Großkapital in seinen<lb/> drei Gestalten wird das Eigentum des größten Teils der Besitzenden bedroht.</p><lb/> <p xml:id="ID_148" next="#ID_149"> Die kommunistische Idee ist das Manometer der Spannung der Besitzverhältnisse.<lb/> »M allen Zeiten thätig, steigt und sinkt sie mit jener Spannung. Je unvernünftiger<lb/> und unhaltbarer die Besitzverteilnng wird, desto höher steigt sie natürlicherweise;<lb/> um sie zum Sinken zu bringen, braucht man bloß die Besitzverteilung zu ändern.<lb/> Nichts leichter, als die kommunistische Armee durch Desertion aufzulösen! Man<lb/> braucht bloß ihren Mannschaften zu Besitz zu verhelfen; die Offiziere haben ja<lb/> Wohl schon etwas. Daß es aber unsre Besitzlosen unter den schwierigsten Ver¬<lb/> hältnissen zu einer mächtigen Parteiorganisation gebracht haben, darin liegt eine<lb/> erfreuliche Bürgschaft für die Zukunft unsers Volkes. Unsre Proletarier sind nnter</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 189S 7</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0057]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Setzung der für die körperliche Brauchbarkeit der Rekruten zu stellenden Anforde¬
rungen seien beim letzten Musterungsgeschäft viele angenommen worden, die dann
im Dienst ganz untauglich befunden worden wären und wieder hätten entlassen
werden müssen? Und ist es etwa nicht wahr, daß es im deutschen Reiche, u. ni.
auch im Königreich Sachsen, Dörfer giebt, wo unter vierzig bis fünfzig Stellungs¬
pflichtigen auch nicht ein brauchbarer gefunden wird? Wie wird da nach zehn, zwanzig
Jahren unser Heer aussehen? Und von welcher Lage der untern Klassen giebt diese
leibliche Verkümmerung Kunde? Der Generalanzeiger für Schleswig-Holstein, ein
farbloses Blatt, schrieb in Ur. 6ö: Um sich von dem Elend der untern Klassen zu
überzeugen, braucht mau gar nicht in den Hütten der Armut herumzukriechen, man
bemühe sich bloß, in Kiel die Werftarbeiter anzusehen, wenn sie zur Mittagszeit
durch die Stadt eilen, um ihr Essen einzunehmen. Haben sie wenigstens satt zu
essen? fragt der Verfasser. „Ganz gewiß nicht! So sehen gut genährte und ge¬
sunde Menschen nicht aus! Jeder Gutsbesitzer würde sich schämen, so schlecht
genährtes Zugvieh zu haben." Und das sind nnn weder Ochsen noch Sklaven,
sondern wahlberechtigte Reichsbürger! Ist von denen Begeisterung sür unsre Staats-
einrichtungen zu erwarten? Und klagt nicht unsre Industrie über die ewige De¬
pression? Und der kleine Rentner über den niedrigen Zinsfuß? Und der Gro߬
kapitalist, daß er sein Geld nirgends nutzbar anbringe? Und der Beamte, daß er
mit seinem Gehalt nicht auskomme? Und ist es den Herren Professorenfresscrn
unbekannt, daß die Kartellpnrteien im Reichstage die Minderheit bilden und beim
allgemeinen Wahlrecht — solange die beschriebnen Verhältnisse fortdauern — nie¬
mals Mehrheit werden können? Und daß diese Minderheit, selbst wenn sie Mehr¬
heit würde, keinen Schritt vorwärts zu thun vermöchte, weil ihre beiden Hälften,
die industrielle und die agrarische, durch einen unversöhnlichen Interessenkonflikt
auseinandergehalten werden? Und das soll ein Zustand sein, der aufrecht erhalten
zu werden verdiente, und uicht vielmehr ein Zustand, um dessen Überwindung alle
vernünftigen Leute und guten Patrioten arbeiten müssen? Diese Pflicht erfüllen
nun gerade die angegriffnen Geheimräte, Pastoren und Professoren. Über die
Heilmittel, die sie vorschlagen (unter denen übrigens kein einziges in dem Grade
kommunistisch ist wie der Antrag Kanitz), mag man denken, wie man will, jeden¬
falls sind sie nicht so dumm und so roh wie der Vorschlag, auf den jener Zeitungs-
artikel hinausläuft, die reformfreundlichen Akademiker abzusetzen oder einzusperren
und von Zeit zu Zeit ein paar tausend widerspenstige Arbeiter totzuschießen, ein
Vorschlag, dessen Ausführung an der oben beschriebnen Lage gnr nichts ändern
würde. Dagegen würde die von den angesehensten Rechtslehrern geforderte Reform
des Eigentumsrechts sehr viel ändern; denn unser Eigentumsrecht verwandelt sich
mehr und mehr in ein Recht der wenigen, den vielen den Zugang zum Eigentum
zu sperren; nicht von den Sozialdemokraten, sondern vom Großkapital in seinen
drei Gestalten wird das Eigentum des größten Teils der Besitzenden bedroht.
Die kommunistische Idee ist das Manometer der Spannung der Besitzverhältnisse.
»M allen Zeiten thätig, steigt und sinkt sie mit jener Spannung. Je unvernünftiger
und unhaltbarer die Besitzverteilnng wird, desto höher steigt sie natürlicherweise;
um sie zum Sinken zu bringen, braucht man bloß die Besitzverteilung zu ändern.
Nichts leichter, als die kommunistische Armee durch Desertion aufzulösen! Man
braucht bloß ihren Mannschaften zu Besitz zu verhelfen; die Offiziere haben ja
Wohl schon etwas. Daß es aber unsre Besitzlosen unter den schwierigsten Ver¬
hältnissen zu einer mächtigen Parteiorganisation gebracht haben, darin liegt eine
erfreuliche Bürgschaft für die Zukunft unsers Volkes. Unsre Proletarier sind nnter
Grenzboten II 189S 7
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