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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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richtiger Form entwickelt haben, daß ihr wahrer Charakter nicht ohne weiteres
erkennbar ist.

Die geistigen Gebrechen bereiten dem Untersuchenden zum Teil noch mehr
Schwierigkeiten als die eigentlichen Geisteskrankheiten. Abgegrenzte Schäden
finden sich verhältnismäßig selten rein vor, die Regel bilden die allgemeinen
Schadhaftigkeiten des Geistes. Die Gebrechen unterscheiden sich vor allem
durch ihre verschiedne Schwere; hier giebt es eine Stufenleiter von dem
Zustande der Gesundheit über ganz leichte Schäden zum deutlichen Schwach¬
sinn und weiter bis zur tiefsten Verblödung. Schwere Schäden sind meist
leichter zu erkennen als die eigentlichen Geisteskrankheiten, es kommen aber
andrerseits unter den Gebrechen auch höchst zweifelhafte Grenzfälle vor.
Zwischen der eigentlichen Geisteskrankheit und der gesunden Seelenthätigkeit
giebt es kein Mittelding. Die Krankheitszeichen mögen manchmal schwer zu
entdecken sein, aber hat man sie einmal gefunden, dann lassen sie auch keine
verschiedne Deutung zu. Bei den Gebrechen liegt die Schwierigkeit gerade
darin, daß manche Thatsachen verschieden aufgefaßt werden können. Es giebt
für sie keinen allgemein giltigen Maßstab, kann ihn gar nicht geben. Ver¬
halten sich doch körperliche Krankheiten und Gebrechen genau ebenso zu ein¬
ander. Entweder es hat jemand die Schwindsucht, oder er hat sie nicht; hier
giebt es kein drittes. Aber wenn jemand eine schwere Krankheit überstanden
hat und ihm nur noch eine allgemeine Schwäche geblieben ist, die sich nach
und nach verliert, von welchem Zeitpunkt an ist er gesund? Oder jemand
ist von Geburt an schwächlich, wo ist die Grenze zwischen Gesundheit und
Schadhaftigkeit? Auch der Sachverständige kann hier zuweilen die Nichtigkeit
seiner Autwort nicht verbürgen, aber wird man deshalb die Untersuchung des
Körpers, z.,B. wenn nach der Diensttauglichkeit gefragt wird, vertrauensvoll
dem Laien überlassen?

Die geistigen Gebrechen sind sehr verschieden je nach ihrer Ursache.
Rühren sie von einer Geisteskrankheit her oder einer schweren Körper¬
krankheit, die auf das Gehirn übergegriffen hat, wie Scharlach, Di-
phtheritis, Hirnhautentzündung, so sind sie meist so schwer, daß sie sich ohne
Mühe beurteilen lassen. Liegt aber die Ursache weiter zurück, besteht sie in
einer Entwicklungsstörung, die der Geburt vorausgegangen ist, oder gar in
einer Geisteskrankheit der Eltern, dann ist der sich ergebende Schaden zuweilen
schwer richtig zu würdigen. Er tritt nicht immer als Schwäche der Denk-
kraft auf, sondern auch als unstetes Wesen, Charakterlosigkeit u. s. w. Man
muß hier unterscheiden zwischen dem, was etwa eine mangelhafte Erziehung
verschuldet hat, und dem, was als eigentlich krankhaft anzusehen ist. Besonders
hat man hier auf alle körperlichen und geistigen Anzeichen zu achten, die,
wie die Erfahrung lehrt, für eine erbliche Belastung sprechen.

Es giebt also wirklich eine Form der Seelenstörung, über die auch der


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richtiger Form entwickelt haben, daß ihr wahrer Charakter nicht ohne weiteres
erkennbar ist.

Die geistigen Gebrechen bereiten dem Untersuchenden zum Teil noch mehr
Schwierigkeiten als die eigentlichen Geisteskrankheiten. Abgegrenzte Schäden
finden sich verhältnismäßig selten rein vor, die Regel bilden die allgemeinen
Schadhaftigkeiten des Geistes. Die Gebrechen unterscheiden sich vor allem
durch ihre verschiedne Schwere; hier giebt es eine Stufenleiter von dem
Zustande der Gesundheit über ganz leichte Schäden zum deutlichen Schwach¬
sinn und weiter bis zur tiefsten Verblödung. Schwere Schäden sind meist
leichter zu erkennen als die eigentlichen Geisteskrankheiten, es kommen aber
andrerseits unter den Gebrechen auch höchst zweifelhafte Grenzfälle vor.
Zwischen der eigentlichen Geisteskrankheit und der gesunden Seelenthätigkeit
giebt es kein Mittelding. Die Krankheitszeichen mögen manchmal schwer zu
entdecken sein, aber hat man sie einmal gefunden, dann lassen sie auch keine
verschiedne Deutung zu. Bei den Gebrechen liegt die Schwierigkeit gerade
darin, daß manche Thatsachen verschieden aufgefaßt werden können. Es giebt
für sie keinen allgemein giltigen Maßstab, kann ihn gar nicht geben. Ver¬
halten sich doch körperliche Krankheiten und Gebrechen genau ebenso zu ein¬
ander. Entweder es hat jemand die Schwindsucht, oder er hat sie nicht; hier
giebt es kein drittes. Aber wenn jemand eine schwere Krankheit überstanden
hat und ihm nur noch eine allgemeine Schwäche geblieben ist, die sich nach
und nach verliert, von welchem Zeitpunkt an ist er gesund? Oder jemand
ist von Geburt an schwächlich, wo ist die Grenze zwischen Gesundheit und
Schadhaftigkeit? Auch der Sachverständige kann hier zuweilen die Nichtigkeit
seiner Autwort nicht verbürgen, aber wird man deshalb die Untersuchung des
Körpers, z.,B. wenn nach der Diensttauglichkeit gefragt wird, vertrauensvoll
dem Laien überlassen?

Die geistigen Gebrechen sind sehr verschieden je nach ihrer Ursache.
Rühren sie von einer Geisteskrankheit her oder einer schweren Körper¬
krankheit, die auf das Gehirn übergegriffen hat, wie Scharlach, Di-
phtheritis, Hirnhautentzündung, so sind sie meist so schwer, daß sie sich ohne
Mühe beurteilen lassen. Liegt aber die Ursache weiter zurück, besteht sie in
einer Entwicklungsstörung, die der Geburt vorausgegangen ist, oder gar in
einer Geisteskrankheit der Eltern, dann ist der sich ergebende Schaden zuweilen
schwer richtig zu würdigen. Er tritt nicht immer als Schwäche der Denk-
kraft auf, sondern auch als unstetes Wesen, Charakterlosigkeit u. s. w. Man
muß hier unterscheiden zwischen dem, was etwa eine mangelhafte Erziehung
verschuldet hat, und dem, was als eigentlich krankhaft anzusehen ist. Besonders
hat man hier auf alle körperlichen und geistigen Anzeichen zu achten, die,
wie die Erfahrung lehrt, für eine erbliche Belastung sprechen.

Es giebt also wirklich eine Form der Seelenstörung, über die auch der


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[0565] Unser Jrrenwesen richtiger Form entwickelt haben, daß ihr wahrer Charakter nicht ohne weiteres erkennbar ist. Die geistigen Gebrechen bereiten dem Untersuchenden zum Teil noch mehr Schwierigkeiten als die eigentlichen Geisteskrankheiten. Abgegrenzte Schäden finden sich verhältnismäßig selten rein vor, die Regel bilden die allgemeinen Schadhaftigkeiten des Geistes. Die Gebrechen unterscheiden sich vor allem durch ihre verschiedne Schwere; hier giebt es eine Stufenleiter von dem Zustande der Gesundheit über ganz leichte Schäden zum deutlichen Schwach¬ sinn und weiter bis zur tiefsten Verblödung. Schwere Schäden sind meist leichter zu erkennen als die eigentlichen Geisteskrankheiten, es kommen aber andrerseits unter den Gebrechen auch höchst zweifelhafte Grenzfälle vor. Zwischen der eigentlichen Geisteskrankheit und der gesunden Seelenthätigkeit giebt es kein Mittelding. Die Krankheitszeichen mögen manchmal schwer zu entdecken sein, aber hat man sie einmal gefunden, dann lassen sie auch keine verschiedne Deutung zu. Bei den Gebrechen liegt die Schwierigkeit gerade darin, daß manche Thatsachen verschieden aufgefaßt werden können. Es giebt für sie keinen allgemein giltigen Maßstab, kann ihn gar nicht geben. Ver¬ halten sich doch körperliche Krankheiten und Gebrechen genau ebenso zu ein¬ ander. Entweder es hat jemand die Schwindsucht, oder er hat sie nicht; hier giebt es kein drittes. Aber wenn jemand eine schwere Krankheit überstanden hat und ihm nur noch eine allgemeine Schwäche geblieben ist, die sich nach und nach verliert, von welchem Zeitpunkt an ist er gesund? Oder jemand ist von Geburt an schwächlich, wo ist die Grenze zwischen Gesundheit und Schadhaftigkeit? Auch der Sachverständige kann hier zuweilen die Nichtigkeit seiner Autwort nicht verbürgen, aber wird man deshalb die Untersuchung des Körpers, z.,B. wenn nach der Diensttauglichkeit gefragt wird, vertrauensvoll dem Laien überlassen? Die geistigen Gebrechen sind sehr verschieden je nach ihrer Ursache. Rühren sie von einer Geisteskrankheit her oder einer schweren Körper¬ krankheit, die auf das Gehirn übergegriffen hat, wie Scharlach, Di- phtheritis, Hirnhautentzündung, so sind sie meist so schwer, daß sie sich ohne Mühe beurteilen lassen. Liegt aber die Ursache weiter zurück, besteht sie in einer Entwicklungsstörung, die der Geburt vorausgegangen ist, oder gar in einer Geisteskrankheit der Eltern, dann ist der sich ergebende Schaden zuweilen schwer richtig zu würdigen. Er tritt nicht immer als Schwäche der Denk- kraft auf, sondern auch als unstetes Wesen, Charakterlosigkeit u. s. w. Man muß hier unterscheiden zwischen dem, was etwa eine mangelhafte Erziehung verschuldet hat, und dem, was als eigentlich krankhaft anzusehen ist. Besonders hat man hier auf alle körperlichen und geistigen Anzeichen zu achten, die, wie die Erfahrung lehrt, für eine erbliche Belastung sprechen. Es giebt also wirklich eine Form der Seelenstörung, über die auch der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/565>, abgerufen am 25.08.2024.