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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

, . Wir sind neuerdings an diesen Propheten- und Kalifengeist und Stil so
gewohnt worden, daß er uns kaum mehr auffällt. In dein Getümmel des Kampfes
aller gegen alle glaubt sich mehr als ein Rufer im Streit nur durch erhöhten
Ingrimm und schärfern Hohn wider die Gegner noch vernehmlich zu machen.
Die warme, sichere, aber ruhige Würdigung des echten poetischen und künst¬
lerischen Verdienstes, die klqre, maßvolle, aber bestimmte Abweisung des Un¬
echten, Leblosen und Überlebten sind in Verruf gekommen, es ist ein Ton
laut geworden, der zwischen erhitzter Überschätzung und eiskalter Verachtung
Wechselt. Je stärker eine Darstellung diesen Ton anschlägt, je gewaltsamer
und augenfälliger der Bruch mit irgend einer Überlieferung erscheint, um so
gewisser erscheint die Aussicht auf Wirkuug. Giacomo Leopardi hat vor
sechzig Jahren, als hätte er die langen Reihen umwälzender und alar-
mireuder Bücher schon vor sich gesehen, mit denen uns namentlich die letzten
zehn Jahre beglückt haben, in seiner Palinvdie an Giuv Cappvni das neueste
kritische Tohuwabohu verhöhnt:


O welch ein hoher Geist, welch übermenschlich
Genialer Scharfblick unsrer Zeit! Welch sichres
Philosophiren, welche Weisheit, Giuv,
Wird in noch viel erhabner", rätselvollern
Problemen mein und dein Jahrhundert all
Den künftgen überliefern! Wie beharrlich
VerehrtS heut auf deu Knieen, was es gestern
Verhöhnt hat, stürzt es morgen schon, und liest dann
Die Trümmer wieder auf, um übermorgen
Neu aufgerichtet fromm sie zu beräuchern!

Etwas von dem Eindruck, den diese satirischen Zeilen bezeichnen, hinterläßt
auch Dührings zweibündiges Werk "Die Größen der modernen Litteratur."
Mehr als ein Leser mag sich Wohl versucht fühlen, gewisse Kapitel und Seiten
in die Darstellungsweise einer Zeit umzusetzen, wo die Wahrheit oder das,
was einer für Wahrheit hielt, eine minder gellende und herausfordernde Stimme
hatte. Aber zu verstehen ist es, wie Dühring zu dem Ton kommt, der sein
Werk durchklingt, und warum er von vornherein der Litteraturgeschichte Be¬
rechtigung und Befähigung abspricht, über die Schöpfungen der Litteratur zu
urteilen. Auch wer mit diesem schroffen Absprechen am wenigsten überein¬
stimmt, auch wer Dührings Anschauung und Kritik einseitig und übertrieben
scharf findet, wird nicht verkennen, daß unsre litterargeschichtliche Wissenschaft¬
lichkeit eine Wendung genommen hat, die je länger je mehr das sichere Urteil
gefährdet, die Empfindung verwirrt, der alexandrinischen Schätzung des Gering¬
wertigen, Charakterlosen und Äußerlichen Raum schafft. Die ausschließliche
Untersuchung der Stileigentümlichkeit bestimmter litterarischer Perioden, bei der
die persönliche Kraft, die Phantasie und der Charakter der Dichter leicht zur
Nebensache wird, die den Schutt und Wust des Gleichartigen aufwühlt und


Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

, . Wir sind neuerdings an diesen Propheten- und Kalifengeist und Stil so
gewohnt worden, daß er uns kaum mehr auffällt. In dein Getümmel des Kampfes
aller gegen alle glaubt sich mehr als ein Rufer im Streit nur durch erhöhten
Ingrimm und schärfern Hohn wider die Gegner noch vernehmlich zu machen.
Die warme, sichere, aber ruhige Würdigung des echten poetischen und künst¬
lerischen Verdienstes, die klqre, maßvolle, aber bestimmte Abweisung des Un¬
echten, Leblosen und Überlebten sind in Verruf gekommen, es ist ein Ton
laut geworden, der zwischen erhitzter Überschätzung und eiskalter Verachtung
Wechselt. Je stärker eine Darstellung diesen Ton anschlägt, je gewaltsamer
und augenfälliger der Bruch mit irgend einer Überlieferung erscheint, um so
gewisser erscheint die Aussicht auf Wirkuug. Giacomo Leopardi hat vor
sechzig Jahren, als hätte er die langen Reihen umwälzender und alar-
mireuder Bücher schon vor sich gesehen, mit denen uns namentlich die letzten
zehn Jahre beglückt haben, in seiner Palinvdie an Giuv Cappvni das neueste
kritische Tohuwabohu verhöhnt:


O welch ein hoher Geist, welch übermenschlich
Genialer Scharfblick unsrer Zeit! Welch sichres
Philosophiren, welche Weisheit, Giuv,
Wird in noch viel erhabner», rätselvollern
Problemen mein und dein Jahrhundert all
Den künftgen überliefern! Wie beharrlich
VerehrtS heut auf deu Knieen, was es gestern
Verhöhnt hat, stürzt es morgen schon, und liest dann
Die Trümmer wieder auf, um übermorgen
Neu aufgerichtet fromm sie zu beräuchern!

Etwas von dem Eindruck, den diese satirischen Zeilen bezeichnen, hinterläßt
auch Dührings zweibündiges Werk „Die Größen der modernen Litteratur."
Mehr als ein Leser mag sich Wohl versucht fühlen, gewisse Kapitel und Seiten
in die Darstellungsweise einer Zeit umzusetzen, wo die Wahrheit oder das,
was einer für Wahrheit hielt, eine minder gellende und herausfordernde Stimme
hatte. Aber zu verstehen ist es, wie Dühring zu dem Ton kommt, der sein
Werk durchklingt, und warum er von vornherein der Litteraturgeschichte Be¬
rechtigung und Befähigung abspricht, über die Schöpfungen der Litteratur zu
urteilen. Auch wer mit diesem schroffen Absprechen am wenigsten überein¬
stimmt, auch wer Dührings Anschauung und Kritik einseitig und übertrieben
scharf findet, wird nicht verkennen, daß unsre litterargeschichtliche Wissenschaft¬
lichkeit eine Wendung genommen hat, die je länger je mehr das sichere Urteil
gefährdet, die Empfindung verwirrt, der alexandrinischen Schätzung des Gering¬
wertigen, Charakterlosen und Äußerlichen Raum schafft. Die ausschließliche
Untersuchung der Stileigentümlichkeit bestimmter litterarischer Perioden, bei der
die persönliche Kraft, die Phantasie und der Charakter der Dichter leicht zur
Nebensache wird, die den Schutt und Wust des Gleichartigen aufwühlt und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/44>, abgerufen am 25.08.2024.