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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

an der Südseite der Kirche, etwa sechs Schritt geradeaus von der dort
befindlichen kleinen Seitenthür als die Stätte, wo einst Bach begraben
worden sei.

Ich unterzog mich sofort der Aufgabe, zunächst einmal archivalische Nach¬
forschungen über Bachs Begräbnis anzustellen, um für etwaige Nachgrabungen
Anhaltepunkte zu gewinnen. Das Ergebnis habe ich in diesen Blättern in
der Nummer vom 18. Oktober veröffentlicht in einem Aufsatze: "Bachs Grab,"
der mit den Sätzen schloß: "Unter diesen Umständen darf wohl der Versuch,
bei dem Neubau der Johanniskirche nach Bachs Gebeinen zu forschen, als
aussichtslos bezeichnet werden. Will man ihn dennoch unternehmen, um so
besser: der Erfolg wird nur bestätigen, was ich hier dargelegt habe."

Vier Tage darauf wurden Bachs Gebeine gefunden.

Denn so darf, ja muß man jetzt wohl sagen nach dem fesselnden Bericht,
den soeben Professor His im Auftrage einer mit der Angelegenheit betraut ge¬
wesenen Kommission veröffentlicht hat, und der nicht bloß in Leipzig, sondern
in ganz Deutschland und weit darüber hinaus Aufsehen erregen wird.^) Ja,
es kann wohl kaum mehr ein Zweifel darüber sein: Bachs Grab, das für
verloren galt, ist gefunden, seine Gebeine find gefunden, und was noch mehr
ist: es ist mit ihrer Hilfe gelungen, von der äußern Erscheinung, von dem
Antlitz des großen Leipziger Thomaskantors ein Abbild zu schaffen, das alle,
die es sehen werden, aufs freudigste überraschen wird. Doch ich will dem
Gange der Ereignisse folgen und berichten, wie alles gekommen ist.

Das wenige Sichere, was sich über Bachs Begräbnis und Grabstätte
hatte ermitteln lassen, war das, daß er in einem eichenen Sarg in freier Erde
bestattet worden war, und zwar nicht in einem tiefen (d. h. für zwei Leichen
berechneten), sondern in einem gewöhnlichen flachen Grabe. Da nun die Be¬
stattung in einem eichenen Sarg eine verhältnismäßig seltne Ausnahme war
-- von den in Bachs Todesjahr, 1750, in Leipzig beerdigten 1400 Personen
sind nur 12 in eichenen Särgen in freier Erde begraben worden; in den aus¬
gemauerten Grüften der reichen Leute mag es wohl öfter vorgekommen
sein --, so ergriff der Kirchenvorstand, an seiner Spitze Herr Pastor Tranzschel,
mit Eifer diesen einzigen sichern Anhaltepunkt und beauftragte die Bauleitung,
beim Grundgraben auf der Südseite der alten Kirche sorgfältig darauf zu
achten, ob etwa eichene Särge zum Vorschein kommen würden, und in jedem
einzelnen Falle sofort Herrn Professor His, dem Anatomen der Leipziger Uni¬
versität, davon Mitteilung zu machen.

Am Vormittag des 22. Oktober stieß man zum erstenmale auf Sargteile



") Johann Sebastian Bach. Forschungen über dessen Grabstätte, Ge¬
beine und Antlitz. Bericht an den Rat der Stadt Leipzig im Auftrage einer Kommission
erstattet von Professor Wilhelm His. Nebst Schluszurteil der Kommission. Mit 1 Si-
tuationsplan und 9 Tafeln in Kupferätzung. Leipzig, Verlag von F, C. W. Vogel, 189S,
Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

an der Südseite der Kirche, etwa sechs Schritt geradeaus von der dort
befindlichen kleinen Seitenthür als die Stätte, wo einst Bach begraben
worden sei.

Ich unterzog mich sofort der Aufgabe, zunächst einmal archivalische Nach¬
forschungen über Bachs Begräbnis anzustellen, um für etwaige Nachgrabungen
Anhaltepunkte zu gewinnen. Das Ergebnis habe ich in diesen Blättern in
der Nummer vom 18. Oktober veröffentlicht in einem Aufsatze: „Bachs Grab,"
der mit den Sätzen schloß: „Unter diesen Umständen darf wohl der Versuch,
bei dem Neubau der Johanniskirche nach Bachs Gebeinen zu forschen, als
aussichtslos bezeichnet werden. Will man ihn dennoch unternehmen, um so
besser: der Erfolg wird nur bestätigen, was ich hier dargelegt habe."

Vier Tage darauf wurden Bachs Gebeine gefunden.

Denn so darf, ja muß man jetzt wohl sagen nach dem fesselnden Bericht,
den soeben Professor His im Auftrage einer mit der Angelegenheit betraut ge¬
wesenen Kommission veröffentlicht hat, und der nicht bloß in Leipzig, sondern
in ganz Deutschland und weit darüber hinaus Aufsehen erregen wird.^) Ja,
es kann wohl kaum mehr ein Zweifel darüber sein: Bachs Grab, das für
verloren galt, ist gefunden, seine Gebeine find gefunden, und was noch mehr
ist: es ist mit ihrer Hilfe gelungen, von der äußern Erscheinung, von dem
Antlitz des großen Leipziger Thomaskantors ein Abbild zu schaffen, das alle,
die es sehen werden, aufs freudigste überraschen wird. Doch ich will dem
Gange der Ereignisse folgen und berichten, wie alles gekommen ist.

Das wenige Sichere, was sich über Bachs Begräbnis und Grabstätte
hatte ermitteln lassen, war das, daß er in einem eichenen Sarg in freier Erde
bestattet worden war, und zwar nicht in einem tiefen (d. h. für zwei Leichen
berechneten), sondern in einem gewöhnlichen flachen Grabe. Da nun die Be¬
stattung in einem eichenen Sarg eine verhältnismäßig seltne Ausnahme war
— von den in Bachs Todesjahr, 1750, in Leipzig beerdigten 1400 Personen
sind nur 12 in eichenen Särgen in freier Erde begraben worden; in den aus¬
gemauerten Grüften der reichen Leute mag es wohl öfter vorgekommen
sein —, so ergriff der Kirchenvorstand, an seiner Spitze Herr Pastor Tranzschel,
mit Eifer diesen einzigen sichern Anhaltepunkt und beauftragte die Bauleitung,
beim Grundgraben auf der Südseite der alten Kirche sorgfältig darauf zu
achten, ob etwa eichene Särge zum Vorschein kommen würden, und in jedem
einzelnen Falle sofort Herrn Professor His, dem Anatomen der Leipziger Uni¬
versität, davon Mitteilung zu machen.

Am Vormittag des 22. Oktober stieß man zum erstenmale auf Sargteile



") Johann Sebastian Bach. Forschungen über dessen Grabstätte, Ge¬
beine und Antlitz. Bericht an den Rat der Stadt Leipzig im Auftrage einer Kommission
erstattet von Professor Wilhelm His. Nebst Schluszurteil der Kommission. Mit 1 Si-
tuationsplan und 9 Tafeln in Kupferätzung. Leipzig, Verlag von F, C. W. Vogel, 189S,
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[0424] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs an der Südseite der Kirche, etwa sechs Schritt geradeaus von der dort befindlichen kleinen Seitenthür als die Stätte, wo einst Bach begraben worden sei. Ich unterzog mich sofort der Aufgabe, zunächst einmal archivalische Nach¬ forschungen über Bachs Begräbnis anzustellen, um für etwaige Nachgrabungen Anhaltepunkte zu gewinnen. Das Ergebnis habe ich in diesen Blättern in der Nummer vom 18. Oktober veröffentlicht in einem Aufsatze: „Bachs Grab," der mit den Sätzen schloß: „Unter diesen Umständen darf wohl der Versuch, bei dem Neubau der Johanniskirche nach Bachs Gebeinen zu forschen, als aussichtslos bezeichnet werden. Will man ihn dennoch unternehmen, um so besser: der Erfolg wird nur bestätigen, was ich hier dargelegt habe." Vier Tage darauf wurden Bachs Gebeine gefunden. Denn so darf, ja muß man jetzt wohl sagen nach dem fesselnden Bericht, den soeben Professor His im Auftrage einer mit der Angelegenheit betraut ge¬ wesenen Kommission veröffentlicht hat, und der nicht bloß in Leipzig, sondern in ganz Deutschland und weit darüber hinaus Aufsehen erregen wird.^) Ja, es kann wohl kaum mehr ein Zweifel darüber sein: Bachs Grab, das für verloren galt, ist gefunden, seine Gebeine find gefunden, und was noch mehr ist: es ist mit ihrer Hilfe gelungen, von der äußern Erscheinung, von dem Antlitz des großen Leipziger Thomaskantors ein Abbild zu schaffen, das alle, die es sehen werden, aufs freudigste überraschen wird. Doch ich will dem Gange der Ereignisse folgen und berichten, wie alles gekommen ist. Das wenige Sichere, was sich über Bachs Begräbnis und Grabstätte hatte ermitteln lassen, war das, daß er in einem eichenen Sarg in freier Erde bestattet worden war, und zwar nicht in einem tiefen (d. h. für zwei Leichen berechneten), sondern in einem gewöhnlichen flachen Grabe. Da nun die Be¬ stattung in einem eichenen Sarg eine verhältnismäßig seltne Ausnahme war — von den in Bachs Todesjahr, 1750, in Leipzig beerdigten 1400 Personen sind nur 12 in eichenen Särgen in freier Erde begraben worden; in den aus¬ gemauerten Grüften der reichen Leute mag es wohl öfter vorgekommen sein —, so ergriff der Kirchenvorstand, an seiner Spitze Herr Pastor Tranzschel, mit Eifer diesen einzigen sichern Anhaltepunkt und beauftragte die Bauleitung, beim Grundgraben auf der Südseite der alten Kirche sorgfältig darauf zu achten, ob etwa eichene Särge zum Vorschein kommen würden, und in jedem einzelnen Falle sofort Herrn Professor His, dem Anatomen der Leipziger Uni¬ versität, davon Mitteilung zu machen. Am Vormittag des 22. Oktober stieß man zum erstenmale auf Sargteile ") Johann Sebastian Bach. Forschungen über dessen Grabstätte, Ge¬ beine und Antlitz. Bericht an den Rat der Stadt Leipzig im Auftrage einer Kommission erstattet von Professor Wilhelm His. Nebst Schluszurteil der Kommission. Mit 1 Si- tuationsplan und 9 Tafeln in Kupferätzung. Leipzig, Verlag von F, C. W. Vogel, 189S,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/424>, abgerufen am 25.08.2024.