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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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der einem wenigstens einen anständigen Rock und ein paar ganze Stiefel borgt,
dann kann man lange nach Arbeit laufen. Und nun erst die Schuldigen, die
halb und ganz Vcrkommnen! Selbstverständlich find sie für den Staat und
die Gesellschaft eine Plage, und eine Gefahr für Eigentum und Leben; es wird
dem Staate nicht verdacht werden können, wenn er sich ihrer ohne viel Senti¬
mentalität nach Kräften erwehrt. Aber die Strafe ist diesen Leuten gegenüber
nur eine stumpfe Waffe, mau ist eben außer stände, ihnen ein größeres Leiden,
eine größere Demütigung aufzuerlegen, als sie gewohnt sind. Man müßte sie
denn im wunderschönen Monat Mai, wo sie sichs gerade einmal im warmen
Sonnenschein wohl sein lassen wollen, einsperren und bei Anbruch des Winters
vor die Thür setzen: da friere, dn Hund! Nicht anders liegt die Sache bei
vielen, die wegen kleiner Eigentumsvergehen zu Strafen kommen. Natürlich
stehlen viele auch ohne Not, nur dem eignen Triebe gehorchend, weil sich
gerade Gelegenheit zum Stehlen bietet, oder weil stehlen nun einmal ihr
Handwerk ist. Aber es ist doch Thatsache, daß starke Kälte, ein langer
Winter, teure Lebensmittel die Gefängnisse füllen, und daß wieder weniger
gestohlen wird, sobald sich die Verhüttnisse bessern. Wenn man in die Woh¬
nung vieler Armen kommt und ihr Elend sieht, dann begreift man, daß bei
ihnen jede Strafe versagen muß. In ihrem ewigen Kummer, unter dem
ständigen Druck der Not erstirbt ihr Ehrgefühl, die Scheu vor Schande und
das feine Gewissen erfriert und verhungert gleichsam. Viel Sinn hat es anch
nicht, von ihnen zu verlangen, daß sie nach Verbüßung ihrer Strafe sittlicher
handeln solle" als vorher, während ihre häusliche Not wahrscheinlich in¬
zwischen noch viel größer geworden ist. Jedenfalls werden sie in der Anstalt
nicht gerade verdorben, denn sie sind auch draußen nicht an bessere Gesell¬
schaft gewöhnt, als sie sie im Gefängnis vorfinden.

(Schluß sollte)




(Lügen Dühring und die Größen der modernen
Litteratur

er schöngeistigen Litteratur, wenigstens der der eignen Nation,
entzieht sich kein Gebildeter. Sie wirkt schon von den Schulen
her auf ihn, und die Autorität, die ihren Größen beigemessen
wird, erstreckt sich auf das Fühlen und Denken in wichtigen
Beziehungen und Lebensangelegenheiten. Diese nicht bloß ästhe¬
tischen, sondern auch moralischen Einwirkungen sind aber in beiderlei Ge-


der einem wenigstens einen anständigen Rock und ein paar ganze Stiefel borgt,
dann kann man lange nach Arbeit laufen. Und nun erst die Schuldigen, die
halb und ganz Vcrkommnen! Selbstverständlich find sie für den Staat und
die Gesellschaft eine Plage, und eine Gefahr für Eigentum und Leben; es wird
dem Staate nicht verdacht werden können, wenn er sich ihrer ohne viel Senti¬
mentalität nach Kräften erwehrt. Aber die Strafe ist diesen Leuten gegenüber
nur eine stumpfe Waffe, mau ist eben außer stände, ihnen ein größeres Leiden,
eine größere Demütigung aufzuerlegen, als sie gewohnt sind. Man müßte sie
denn im wunderschönen Monat Mai, wo sie sichs gerade einmal im warmen
Sonnenschein wohl sein lassen wollen, einsperren und bei Anbruch des Winters
vor die Thür setzen: da friere, dn Hund! Nicht anders liegt die Sache bei
vielen, die wegen kleiner Eigentumsvergehen zu Strafen kommen. Natürlich
stehlen viele auch ohne Not, nur dem eignen Triebe gehorchend, weil sich
gerade Gelegenheit zum Stehlen bietet, oder weil stehlen nun einmal ihr
Handwerk ist. Aber es ist doch Thatsache, daß starke Kälte, ein langer
Winter, teure Lebensmittel die Gefängnisse füllen, und daß wieder weniger
gestohlen wird, sobald sich die Verhüttnisse bessern. Wenn man in die Woh¬
nung vieler Armen kommt und ihr Elend sieht, dann begreift man, daß bei
ihnen jede Strafe versagen muß. In ihrem ewigen Kummer, unter dem
ständigen Druck der Not erstirbt ihr Ehrgefühl, die Scheu vor Schande und
das feine Gewissen erfriert und verhungert gleichsam. Viel Sinn hat es anch
nicht, von ihnen zu verlangen, daß sie nach Verbüßung ihrer Strafe sittlicher
handeln solle» als vorher, während ihre häusliche Not wahrscheinlich in¬
zwischen noch viel größer geworden ist. Jedenfalls werden sie in der Anstalt
nicht gerade verdorben, denn sie sind auch draußen nicht an bessere Gesell¬
schaft gewöhnt, als sie sie im Gefängnis vorfinden.

(Schluß sollte)




(Lügen Dühring und die Größen der modernen
Litteratur

er schöngeistigen Litteratur, wenigstens der der eignen Nation,
entzieht sich kein Gebildeter. Sie wirkt schon von den Schulen
her auf ihn, und die Autorität, die ihren Größen beigemessen
wird, erstreckt sich auf das Fühlen und Denken in wichtigen
Beziehungen und Lebensangelegenheiten. Diese nicht bloß ästhe¬
tischen, sondern auch moralischen Einwirkungen sind aber in beiderlei Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/42>, abgerufen am 25.08.2024.