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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

Schulkinder den Lehrer." Ist es da ein Wunder, wenn in pessimistischen
Schilderungen des menschlichen Elends der Eintritt des Knaben in die Schule
als eine neue Stufe auf der Bahn des Jammers geschildert wird, die den
armen kleinen Erdenbürger zahllosen Lehrern als ebenso viel Tyrannen über¬
antworte? Erst den praktischen Römern war es vorbehalten, diesen Eintritt
in die Schule durch die Erfindung der Zuckerdüten zu versüßen. Aber die
Schulstrafeu wurden wohl auch nach römischem Vorbilde später immer grau¬
samer und zuletzt geradezu barbarisch. Bei Themistios. der im vierten Jahr¬
hundert n. Chr. lebte, bindet ein Lehrer, dem ein Knabe das Schulgeld nicht
richtig eingehändigt hat, diesen über dem Boden an einen Pfahl fest und schlagt
ihn mit Lederriemen. Ein solches Durchprügeln eines allerdings sehr schlechten
Früchtchens von etwa zwölf bis vierzehn Jahren hat Herondas in einem seiner
vor kurzem aufgefundnen Mimiamben sicherlich zur Augenweide seiner cilexan-
drinischen Zuhörerschaft dramatisch dargestellt.

Hatten die Knaben das Didastaleion und die Palästra bis zum Eintritt
ins Jünglingsalter besucht, so hörte für die Kinder der Unbemittelten der
wissenschaftliche Unterricht auf, da sie sich etwa mit dem fünfzehnten Jahre für
irgend einen praktischen Beruf entschieden. Bevorzugt wurde dabei womöglich
ein Gewerbe, das, wie die Bildhauerei, ein nicht gar zu handwerksmäßiges,
auf griechisch: banausisches Gepräge hatte. So machte es Sokrntes, der, wie
er selbst sagt, nur den gewöhnlichen Schulunterricht für monatlich eine Drachme
genossen hatte; so machte es später auch Lukian. der in seinem "Traum" die
Gründe dieser Wahl und die vorausgehende Beratung seines Vaters mit Ver¬
wandten und Freunden schildert. Auch das Orakel wurde wohl zu Rate ge¬
zogen. Dagegen setzten die Söhne der Bemittelten den Unterricht länger fort.
Wie dabei gute ätherische Väter Sorge trugen, daß ihre Söhne durch solchen
Unterricht nicht etwa sittlich Schaden erlitten, sehen wir aus Platos
Theagenes. wo Sokrates von dem besorgten Vater des Theagenes "in dieser
wichtigsten und göttlichsten aller Fragen" um Rat angegangen wird. Da¬
bei wählten die jungen Leute selbst die Lehrer, deren Unterricht sie zu ge¬
nießen wünschten, oft gegen den Wunsch des Vaters, der ihnen aber freie
Hand ließ. Zu Platos Zeit waren diese Lehrer meist jene Wanderlehrer, die
unter dein Namen Sophisten bekannt sind. Die großen Verdienste dieser
Männer um die Erweiterung und Ausbreitung wissenschaftlichen Strebens
und wissenschaftlicher Kenntnisse im Hellenenvolke dürften kaum mehr bestritten
werden, seit der englische Geschichtschreiber Grote in seiner griechischen Ge¬
schichte die eigentümliche Wirksamkeit dieser Männer vom heutigen Gesichts¬
punkt aus' einer unbefangnen Prüfung unterzogen hat. Läßt ihnen doch ihr
erbitterter Gegner Jsvkrates in dieser Hinsicht volle Gerechtigkeit widerfahren,
und hat doch Sokrates selbst wiederholt jungen Leuten alles Ernstes geraten,
bei dem einen oder andern Sophisten in dem oder jenem Gegenstände Unterricht zu
Grenb


zoten II 1895 52
Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

Schulkinder den Lehrer." Ist es da ein Wunder, wenn in pessimistischen
Schilderungen des menschlichen Elends der Eintritt des Knaben in die Schule
als eine neue Stufe auf der Bahn des Jammers geschildert wird, die den
armen kleinen Erdenbürger zahllosen Lehrern als ebenso viel Tyrannen über¬
antworte? Erst den praktischen Römern war es vorbehalten, diesen Eintritt
in die Schule durch die Erfindung der Zuckerdüten zu versüßen. Aber die
Schulstrafeu wurden wohl auch nach römischem Vorbilde später immer grau¬
samer und zuletzt geradezu barbarisch. Bei Themistios. der im vierten Jahr¬
hundert n. Chr. lebte, bindet ein Lehrer, dem ein Knabe das Schulgeld nicht
richtig eingehändigt hat, diesen über dem Boden an einen Pfahl fest und schlagt
ihn mit Lederriemen. Ein solches Durchprügeln eines allerdings sehr schlechten
Früchtchens von etwa zwölf bis vierzehn Jahren hat Herondas in einem seiner
vor kurzem aufgefundnen Mimiamben sicherlich zur Augenweide seiner cilexan-
drinischen Zuhörerschaft dramatisch dargestellt.

Hatten die Knaben das Didastaleion und die Palästra bis zum Eintritt
ins Jünglingsalter besucht, so hörte für die Kinder der Unbemittelten der
wissenschaftliche Unterricht auf, da sie sich etwa mit dem fünfzehnten Jahre für
irgend einen praktischen Beruf entschieden. Bevorzugt wurde dabei womöglich
ein Gewerbe, das, wie die Bildhauerei, ein nicht gar zu handwerksmäßiges,
auf griechisch: banausisches Gepräge hatte. So machte es Sokrntes, der, wie
er selbst sagt, nur den gewöhnlichen Schulunterricht für monatlich eine Drachme
genossen hatte; so machte es später auch Lukian. der in seinem „Traum" die
Gründe dieser Wahl und die vorausgehende Beratung seines Vaters mit Ver¬
wandten und Freunden schildert. Auch das Orakel wurde wohl zu Rate ge¬
zogen. Dagegen setzten die Söhne der Bemittelten den Unterricht länger fort.
Wie dabei gute ätherische Väter Sorge trugen, daß ihre Söhne durch solchen
Unterricht nicht etwa sittlich Schaden erlitten, sehen wir aus Platos
Theagenes. wo Sokrates von dem besorgten Vater des Theagenes „in dieser
wichtigsten und göttlichsten aller Fragen" um Rat angegangen wird. Da¬
bei wählten die jungen Leute selbst die Lehrer, deren Unterricht sie zu ge¬
nießen wünschten, oft gegen den Wunsch des Vaters, der ihnen aber freie
Hand ließ. Zu Platos Zeit waren diese Lehrer meist jene Wanderlehrer, die
unter dein Namen Sophisten bekannt sind. Die großen Verdienste dieser
Männer um die Erweiterung und Ausbreitung wissenschaftlichen Strebens
und wissenschaftlicher Kenntnisse im Hellenenvolke dürften kaum mehr bestritten
werden, seit der englische Geschichtschreiber Grote in seiner griechischen Ge¬
schichte die eigentümliche Wirksamkeit dieser Männer vom heutigen Gesichts¬
punkt aus' einer unbefangnen Prüfung unterzogen hat. Läßt ihnen doch ihr
erbitterter Gegner Jsvkrates in dieser Hinsicht volle Gerechtigkeit widerfahren,
und hat doch Sokrates selbst wiederholt jungen Leuten alles Ernstes geraten,
bei dem einen oder andern Sophisten in dem oder jenem Gegenstände Unterricht zu
Grenb


zoten II 1895 52
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[0417] Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas Schulkinder den Lehrer." Ist es da ein Wunder, wenn in pessimistischen Schilderungen des menschlichen Elends der Eintritt des Knaben in die Schule als eine neue Stufe auf der Bahn des Jammers geschildert wird, die den armen kleinen Erdenbürger zahllosen Lehrern als ebenso viel Tyrannen über¬ antworte? Erst den praktischen Römern war es vorbehalten, diesen Eintritt in die Schule durch die Erfindung der Zuckerdüten zu versüßen. Aber die Schulstrafeu wurden wohl auch nach römischem Vorbilde später immer grau¬ samer und zuletzt geradezu barbarisch. Bei Themistios. der im vierten Jahr¬ hundert n. Chr. lebte, bindet ein Lehrer, dem ein Knabe das Schulgeld nicht richtig eingehändigt hat, diesen über dem Boden an einen Pfahl fest und schlagt ihn mit Lederriemen. Ein solches Durchprügeln eines allerdings sehr schlechten Früchtchens von etwa zwölf bis vierzehn Jahren hat Herondas in einem seiner vor kurzem aufgefundnen Mimiamben sicherlich zur Augenweide seiner cilexan- drinischen Zuhörerschaft dramatisch dargestellt. Hatten die Knaben das Didastaleion und die Palästra bis zum Eintritt ins Jünglingsalter besucht, so hörte für die Kinder der Unbemittelten der wissenschaftliche Unterricht auf, da sie sich etwa mit dem fünfzehnten Jahre für irgend einen praktischen Beruf entschieden. Bevorzugt wurde dabei womöglich ein Gewerbe, das, wie die Bildhauerei, ein nicht gar zu handwerksmäßiges, auf griechisch: banausisches Gepräge hatte. So machte es Sokrntes, der, wie er selbst sagt, nur den gewöhnlichen Schulunterricht für monatlich eine Drachme genossen hatte; so machte es später auch Lukian. der in seinem „Traum" die Gründe dieser Wahl und die vorausgehende Beratung seines Vaters mit Ver¬ wandten und Freunden schildert. Auch das Orakel wurde wohl zu Rate ge¬ zogen. Dagegen setzten die Söhne der Bemittelten den Unterricht länger fort. Wie dabei gute ätherische Väter Sorge trugen, daß ihre Söhne durch solchen Unterricht nicht etwa sittlich Schaden erlitten, sehen wir aus Platos Theagenes. wo Sokrates von dem besorgten Vater des Theagenes „in dieser wichtigsten und göttlichsten aller Fragen" um Rat angegangen wird. Da¬ bei wählten die jungen Leute selbst die Lehrer, deren Unterricht sie zu ge¬ nießen wünschten, oft gegen den Wunsch des Vaters, der ihnen aber freie Hand ließ. Zu Platos Zeit waren diese Lehrer meist jene Wanderlehrer, die unter dein Namen Sophisten bekannt sind. Die großen Verdienste dieser Männer um die Erweiterung und Ausbreitung wissenschaftlichen Strebens und wissenschaftlicher Kenntnisse im Hellenenvolke dürften kaum mehr bestritten werden, seit der englische Geschichtschreiber Grote in seiner griechischen Ge¬ schichte die eigentümliche Wirksamkeit dieser Männer vom heutigen Gesichts¬ punkt aus' einer unbefangnen Prüfung unterzogen hat. Läßt ihnen doch ihr erbitterter Gegner Jsvkrates in dieser Hinsicht volle Gerechtigkeit widerfahren, und hat doch Sokrates selbst wiederholt jungen Leuten alles Ernstes geraten, bei dem einen oder andern Sophisten in dem oder jenem Gegenstände Unterricht zu Grenb zoten II 1895 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/417>, abgerufen am 25.08.2024.