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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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erkennen, als das wichtigste, großartigste und erhabenste Buch, das in der
Welt existirt, geehrt." Solche Beispiele ließen sich zu Hunderten sammeln.
Wenn solches nun in geschulten und scharfsinnigen Köpfen möglich ist, was
muß erst in den Köpfen der Masse alles vorgehen! Das Strafgesetzbuch setzt
eine Willensfreiheit voraus. Diesen hochstaplcrischen, unlegitimirten Begriff
sollte man besser durch "Gedankenfreiheit" oder "Elastizität des rundum prü¬
fenden Denkens" ersetzen. Die Gefahren für dieses Denken haben wir eben
dargethan. Ist es da nicht schon Pflicht der Schule, ihnen entgegenzuarbeiten?
Die deutschen Aufsätze unsrer Jungen wimmeln von Übertreibungen. Die Auf¬
merksamkeit dafür läßt sich leicht eindrillen, wenn sich die Lehrer erst selbst in
eine gleiche Zucht genommen haben. Am besten ließe sich das erreichen, wenn
den Kandidaten im Staatsexamen eine stattliche Anzahl klassischer Beispiele im
Galopp aufzuzählen zur Bedingung gemacht würde. Nicht schaden könnte es,
wenn die Excuniuauden außerdem noch etwa zwanzig Beispiele angeben müßten,
wo in der Geschichte der Wissenschaften und Entdeckungen über wichtige Neue¬
rungen anfänglich gelacht und gespottet wurde. Finden solche Beispiele Ver¬
breitung in den Massen, so ist für die Zurückhaltung und Besonnenheit des
Denkens ganz sicherlich etwas gewonnen. Die Phrase der Zeitungsleute oder
Parteiagitatoren wird leichter durchschaut werden, und mit gereifterem Urteil
wird sich das Volk eine tingere Vertretung wählen als die, mit der wir jetzt
Vorlieb zu nehmen genötigt sind.



Dienstreisen

nennten des vielen Traurigen und Besorglichen, das die neuere
politische und soziale Entwicklung Deutschlands hervorgebracht
hat, ist die durchschnittliche Tüchtigkeit unsers Beamtentums
unzweifelhaft ein lichter Punkt. Zwar läuft natürlich in dem
ungeheuern Heer des deutschen Beamtentums auch manche Un-
vollkommenheit und Minderwertigkeit mit unter; aber noch sind Pflichttreue
und Redlichkeit Tugenden, die in ihm lebendig geblieben sind, und die den
Stand -- als Ganzes angesehen -- auf einer höhern sittlichen Stufe erhalten
haben als das Beamtentum irgend eines andern Landes.

Dennoch ist nicht zu verkennen, daß die Fortdauer dieser Tüchtigkeit für
die Zukunft keineswegs gesichert erscheint, daß die ganze Richtung unsrer
Zeit auch sie in hohem Maße gefährdet. Während der allergrößte Teil der


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erkennen, als das wichtigste, großartigste und erhabenste Buch, das in der
Welt existirt, geehrt." Solche Beispiele ließen sich zu Hunderten sammeln.
Wenn solches nun in geschulten und scharfsinnigen Köpfen möglich ist, was
muß erst in den Köpfen der Masse alles vorgehen! Das Strafgesetzbuch setzt
eine Willensfreiheit voraus. Diesen hochstaplcrischen, unlegitimirten Begriff
sollte man besser durch „Gedankenfreiheit" oder „Elastizität des rundum prü¬
fenden Denkens" ersetzen. Die Gefahren für dieses Denken haben wir eben
dargethan. Ist es da nicht schon Pflicht der Schule, ihnen entgegenzuarbeiten?
Die deutschen Aufsätze unsrer Jungen wimmeln von Übertreibungen. Die Auf¬
merksamkeit dafür läßt sich leicht eindrillen, wenn sich die Lehrer erst selbst in
eine gleiche Zucht genommen haben. Am besten ließe sich das erreichen, wenn
den Kandidaten im Staatsexamen eine stattliche Anzahl klassischer Beispiele im
Galopp aufzuzählen zur Bedingung gemacht würde. Nicht schaden könnte es,
wenn die Excuniuauden außerdem noch etwa zwanzig Beispiele angeben müßten,
wo in der Geschichte der Wissenschaften und Entdeckungen über wichtige Neue¬
rungen anfänglich gelacht und gespottet wurde. Finden solche Beispiele Ver¬
breitung in den Massen, so ist für die Zurückhaltung und Besonnenheit des
Denkens ganz sicherlich etwas gewonnen. Die Phrase der Zeitungsleute oder
Parteiagitatoren wird leichter durchschaut werden, und mit gereifterem Urteil
wird sich das Volk eine tingere Vertretung wählen als die, mit der wir jetzt
Vorlieb zu nehmen genötigt sind.



Dienstreisen

nennten des vielen Traurigen und Besorglichen, das die neuere
politische und soziale Entwicklung Deutschlands hervorgebracht
hat, ist die durchschnittliche Tüchtigkeit unsers Beamtentums
unzweifelhaft ein lichter Punkt. Zwar läuft natürlich in dem
ungeheuern Heer des deutschen Beamtentums auch manche Un-
vollkommenheit und Minderwertigkeit mit unter; aber noch sind Pflichttreue
und Redlichkeit Tugenden, die in ihm lebendig geblieben sind, und die den
Stand — als Ganzes angesehen — auf einer höhern sittlichen Stufe erhalten
haben als das Beamtentum irgend eines andern Landes.

Dennoch ist nicht zu verkennen, daß die Fortdauer dieser Tüchtigkeit für
die Zukunft keineswegs gesichert erscheint, daß die ganze Richtung unsrer
Zeit auch sie in hohem Maße gefährdet. Während der allergrößte Teil der


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[0407] Dienstreisen erkennen, als das wichtigste, großartigste und erhabenste Buch, das in der Welt existirt, geehrt." Solche Beispiele ließen sich zu Hunderten sammeln. Wenn solches nun in geschulten und scharfsinnigen Köpfen möglich ist, was muß erst in den Köpfen der Masse alles vorgehen! Das Strafgesetzbuch setzt eine Willensfreiheit voraus. Diesen hochstaplcrischen, unlegitimirten Begriff sollte man besser durch „Gedankenfreiheit" oder „Elastizität des rundum prü¬ fenden Denkens" ersetzen. Die Gefahren für dieses Denken haben wir eben dargethan. Ist es da nicht schon Pflicht der Schule, ihnen entgegenzuarbeiten? Die deutschen Aufsätze unsrer Jungen wimmeln von Übertreibungen. Die Auf¬ merksamkeit dafür läßt sich leicht eindrillen, wenn sich die Lehrer erst selbst in eine gleiche Zucht genommen haben. Am besten ließe sich das erreichen, wenn den Kandidaten im Staatsexamen eine stattliche Anzahl klassischer Beispiele im Galopp aufzuzählen zur Bedingung gemacht würde. Nicht schaden könnte es, wenn die Excuniuauden außerdem noch etwa zwanzig Beispiele angeben müßten, wo in der Geschichte der Wissenschaften und Entdeckungen über wichtige Neue¬ rungen anfänglich gelacht und gespottet wurde. Finden solche Beispiele Ver¬ breitung in den Massen, so ist für die Zurückhaltung und Besonnenheit des Denkens ganz sicherlich etwas gewonnen. Die Phrase der Zeitungsleute oder Parteiagitatoren wird leichter durchschaut werden, und mit gereifterem Urteil wird sich das Volk eine tingere Vertretung wählen als die, mit der wir jetzt Vorlieb zu nehmen genötigt sind. [Abbildung] Dienstreisen nennten des vielen Traurigen und Besorglichen, das die neuere politische und soziale Entwicklung Deutschlands hervorgebracht hat, ist die durchschnittliche Tüchtigkeit unsers Beamtentums unzweifelhaft ein lichter Punkt. Zwar läuft natürlich in dem ungeheuern Heer des deutschen Beamtentums auch manche Un- vollkommenheit und Minderwertigkeit mit unter; aber noch sind Pflichttreue und Redlichkeit Tugenden, die in ihm lebendig geblieben sind, und die den Stand — als Ganzes angesehen — auf einer höhern sittlichen Stufe erhalten haben als das Beamtentum irgend eines andern Landes. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß die Fortdauer dieser Tüchtigkeit für die Zukunft keineswegs gesichert erscheint, daß die ganze Richtung unsrer Zeit auch sie in hohem Maße gefährdet. Während der allergrößte Teil der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/407>, abgerufen am 24.08.2024.