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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

sehr lebhaft bestritten wurde, ihr Sonderleben zu mißgönnen, seit anch sie willig
dem Reiche geben, was des Reiches ist.

Es wäre deshalb ungemein kurzsichtig, anch nur einem einzigen der deutschen
Bundesfürsten die Geneigtheit zuzutrauen, zu einer gewaltsamen Unterbrechung
dieser sür sie selbst so segensreichen Entwicklung die Hand zu bieten. Mag
sein, daß sie im Augenblicke des Staatsstreichs ihren nächsten, unmittelbarsten
Schutz von der Reichsgewalt zu erwarten haben, in deren Händen die mili¬
tärische Macht der Nation konzentrirt ist. Ist doch dieselbe Reichsgewalt für
den ersten Augenblick wenigstens auch stark genug, den etwaigen Widerstand
der Bundesfürsten selbst gegen gewaltsame Neuerungen zu überwinden. Man
könnte sich daher vielleicht denken, daß die Fürsten einem von der Reichs¬
gewalt auf sie ausgeübten Drucke nicht zu widerstehen wagten und sich des¬
halb unter Protest einer Neuordnung der staatsrechtliche" Verhältnisse zu
fügen gezwungen sähen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob sich der
Staatsstreich mit einer Gewaltmaßregel nicht bloß gegen die Völker, sondern
auch gegen die Fürsten einführen müßte, oder ob die Fürsten selbst auch frei¬
willig dazu die Hand böten und damit nichts geringeres als ihre eigne Existenz
aufs Spiel setzten. Zwar wäre die schließliche Heilung eines solchen Nechts-
brnchs ebenso gut denkbar, wie die unzweifelhaften Rechtsbrüche des Jahres
1866 heute als geheilt oder doch nahezu geheilt gelten dürfen, wenn sich die
neue Ordnung der Dinge Generationen hindurch zu behaupten verstünde. Wenn
das aber, wie wir noch begründen werden, sicher nicht gelingen wird, so würden
die ersten Opfer der Restauration wahrscheinlich die Einzeldvuastien sein, wenn
auf ihnen der Vorwurf lastete, freiwillig an jenem Rechtsbruch teilgenommen
zu haben. Auch sie gelten, heute noch mit Fug und Rechts dem deutschen
Volke als Träger und Grundpfeiler der Reichsinstitntioncn. Hätten sie diese
Zuversicht einmal getäuscht, so würden nach Wiederherstellung der Verfassung
die jetzt eingeschlummerten Theorien vom deutscheu Einheitsstaate zu eiuer
unwiderstehlichen Stärke erwachen.

Nehmen wir aber weiter an, der Reichsgewalt sei es gelungen, die freiwillige
oder unfreiwillige Zustimmung sämtlicher deutscheu Bundesfürsten und freien
Städte zur Ottroyirung einer neuen Verfassung oder anch nur zur Beseitigung
des allgemeinen Wahlrechts zu erlangen, so wäre doch, wenn man die Fiktion
eines nengeschlossenen Bundesvertrags nicht ganz und gar preisgeben wollte,
hierzu überall die Zustimmung der sämtlichen deutschen Landesvertretuugen
ganz ebenso unentbehrlich, wie sie seinerzeit bei der Gründung des Reichs für
unentbehrlich gehalten worden ist. Die Frage, ob eine solche Zustimmung
wahrscheinlich sei, anch nur auswerfen, heißt zugleich sie verneinen. Es ist
schlechterdings undenkbar, daß die Volksvertretungen der fünfundzwanzig kon¬
stitutionell regierten deutscheu Bundesstaaten übereinstimmende Beschlüsse dieses
Inhalts fassen und sie wie seinerzeit die Reichsverfassung in ihren Gebieten


Diktatur und Verfassung

sehr lebhaft bestritten wurde, ihr Sonderleben zu mißgönnen, seit anch sie willig
dem Reiche geben, was des Reiches ist.

Es wäre deshalb ungemein kurzsichtig, anch nur einem einzigen der deutschen
Bundesfürsten die Geneigtheit zuzutrauen, zu einer gewaltsamen Unterbrechung
dieser sür sie selbst so segensreichen Entwicklung die Hand zu bieten. Mag
sein, daß sie im Augenblicke des Staatsstreichs ihren nächsten, unmittelbarsten
Schutz von der Reichsgewalt zu erwarten haben, in deren Händen die mili¬
tärische Macht der Nation konzentrirt ist. Ist doch dieselbe Reichsgewalt für
den ersten Augenblick wenigstens auch stark genug, den etwaigen Widerstand
der Bundesfürsten selbst gegen gewaltsame Neuerungen zu überwinden. Man
könnte sich daher vielleicht denken, daß die Fürsten einem von der Reichs¬
gewalt auf sie ausgeübten Drucke nicht zu widerstehen wagten und sich des¬
halb unter Protest einer Neuordnung der staatsrechtliche« Verhältnisse zu
fügen gezwungen sähen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob sich der
Staatsstreich mit einer Gewaltmaßregel nicht bloß gegen die Völker, sondern
auch gegen die Fürsten einführen müßte, oder ob die Fürsten selbst auch frei¬
willig dazu die Hand böten und damit nichts geringeres als ihre eigne Existenz
aufs Spiel setzten. Zwar wäre die schließliche Heilung eines solchen Nechts-
brnchs ebenso gut denkbar, wie die unzweifelhaften Rechtsbrüche des Jahres
1866 heute als geheilt oder doch nahezu geheilt gelten dürfen, wenn sich die
neue Ordnung der Dinge Generationen hindurch zu behaupten verstünde. Wenn
das aber, wie wir noch begründen werden, sicher nicht gelingen wird, so würden
die ersten Opfer der Restauration wahrscheinlich die Einzeldvuastien sein, wenn
auf ihnen der Vorwurf lastete, freiwillig an jenem Rechtsbruch teilgenommen
zu haben. Auch sie gelten, heute noch mit Fug und Rechts dem deutschen
Volke als Träger und Grundpfeiler der Reichsinstitntioncn. Hätten sie diese
Zuversicht einmal getäuscht, so würden nach Wiederherstellung der Verfassung
die jetzt eingeschlummerten Theorien vom deutscheu Einheitsstaate zu eiuer
unwiderstehlichen Stärke erwachen.

Nehmen wir aber weiter an, der Reichsgewalt sei es gelungen, die freiwillige
oder unfreiwillige Zustimmung sämtlicher deutscheu Bundesfürsten und freien
Städte zur Ottroyirung einer neuen Verfassung oder anch nur zur Beseitigung
des allgemeinen Wahlrechts zu erlangen, so wäre doch, wenn man die Fiktion
eines nengeschlossenen Bundesvertrags nicht ganz und gar preisgeben wollte,
hierzu überall die Zustimmung der sämtlichen deutschen Landesvertretuugen
ganz ebenso unentbehrlich, wie sie seinerzeit bei der Gründung des Reichs für
unentbehrlich gehalten worden ist. Die Frage, ob eine solche Zustimmung
wahrscheinlich sei, anch nur auswerfen, heißt zugleich sie verneinen. Es ist
schlechterdings undenkbar, daß die Volksvertretungen der fünfundzwanzig kon¬
stitutionell regierten deutscheu Bundesstaaten übereinstimmende Beschlüsse dieses
Inhalts fassen und sie wie seinerzeit die Reichsverfassung in ihren Gebieten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/357>, abgerufen am 22.12.2024.