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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

Übelthat entsprechenden Übels. Unsre heutige Strafrechtspflege kümmert sich
für gewöhnlich um die erste, wichtigere Art, Gerechtigkeit zu üben, gar nicht
und entledigt sich der zweiten in der denkbar kläglichsten Weise. Ferner: Für
den Schutz der Gesellschaft sorgt unsre Strafjustiz so gut wie gar nicht.
Ferner: Daß die Absicht, durch Strafen vom Verbrechen abzuhalten, über¬
haupt nicht erreichbar ist, sollte doch eine dreitausendjährige Erfahrung endlich
gelehrt haben. Ferner: Von der Besserung des Verbrechers wollen wir nicht
erst reden. Korruptionshüuser werden von Kennern nicht allein die gewöhn¬
lichen Gefängnisse, sondern auch die Korrektionshäuser genannt. Und zwar
wirken gemeinsame Haft und Einzelhaft in gleichem Grade, wenn auch in ver-
schiedner Weise verderblich, die eine ist die hohe Schule des Verbrechers, die
andre führt zu völliger Zerrüttung des Seelenlebens. Endlich: Die Reform¬
freunde werden mit Ellis sagen: Was nützt die Besserung oder Heilung des
Verbrechers, wenn der Gesellschaftszustand täglich neue Verbrecher macht?
Nimmt doch jeder als tüchtig entlassene Sträfling einem weniger tüchtigen,
bisher ehrlich gebliebner Menschen das Brot weg.

Wenn alle diese Pfeile ins Schwarze träfen, dann müßte man zugeben,
daß es in dieser unvollkommnen Welt nicht nur nichts unvollkonnnneres,
sondern auch nichts schädlicheres gebe, als die moderne Strafvollziehung, von
der man doch wenigstens eine Zeit lang hoffte, sie helfe an ihrem Teil mit,
die dem Staate und der Gesellschaft drohenden Feinde zu bekämpfen und wo¬
möglich wiederzugewinnen. Ich will die Prüfung noch einmal aufnehmen und
hoffe zu zeigen, daß im Strafwesen zwar vieles der Besserung recht bedürftig
ist, daß aber auch mancher Vorwurf, den man gegen dieses Strafwesen richtet,
unbegründet ist, entweder geradezu falsch ist oder auf falschen Voraussetzungen
beruht und deshalb abgewiesen werden muß.

Welchen Zweck hat die Strafe? Das ist eine uralte Frage, deren Er¬
örterung schon in graue Zeiten zurückreicht und im Lauf der Jahre einen
ganzen Schwarm von Theorien erzeugt hat. In zwei große Gruppen kann
man diese Strafrechtstheorien einteilen, in absolute und relative; dazwischen
stehen dann noch etwas verschämt die gemischten, die aus den Farbentöpfchen
der beiden andern ihr Teil empfangen haben, wie der Stieglitz in der Fabel.
Die absoluten Theorien sehen in der Strafe die Wiederherstellung der ver¬
letzten Gerechtigkeit. Sie erscheinen unter verschiednen Namen, als Wieder-
vergeltnngstheorie (Kant), Theorie der (religiösen) Sühne, Gerechtigkeitstheorie
(Hegel), Restitutionstheorie u. a. in. Es kommt aber nicht auf die Namen
an, deun im Grunde genommen zeigen sie doch immer dasselbe Gesicht, es
ist das alte M tMoui8, das aus allen Verkleidungen und Vermummungen



") Die Kvrrektionshäuser stehen durchaus nicht höher als die gewöhnlichen Gefängnisse,
sie stehen aber viel tieser als die gröszern Gefängnisse und die Zuchthäuser.
Grenzboten II 1395 4
Die Behandlung des Verbrechers

Übelthat entsprechenden Übels. Unsre heutige Strafrechtspflege kümmert sich
für gewöhnlich um die erste, wichtigere Art, Gerechtigkeit zu üben, gar nicht
und entledigt sich der zweiten in der denkbar kläglichsten Weise. Ferner: Für
den Schutz der Gesellschaft sorgt unsre Strafjustiz so gut wie gar nicht.
Ferner: Daß die Absicht, durch Strafen vom Verbrechen abzuhalten, über¬
haupt nicht erreichbar ist, sollte doch eine dreitausendjährige Erfahrung endlich
gelehrt haben. Ferner: Von der Besserung des Verbrechers wollen wir nicht
erst reden. Korruptionshüuser werden von Kennern nicht allein die gewöhn¬
lichen Gefängnisse, sondern auch die Korrektionshäuser genannt. Und zwar
wirken gemeinsame Haft und Einzelhaft in gleichem Grade, wenn auch in ver-
schiedner Weise verderblich, die eine ist die hohe Schule des Verbrechers, die
andre führt zu völliger Zerrüttung des Seelenlebens. Endlich: Die Reform¬
freunde werden mit Ellis sagen: Was nützt die Besserung oder Heilung des
Verbrechers, wenn der Gesellschaftszustand täglich neue Verbrecher macht?
Nimmt doch jeder als tüchtig entlassene Sträfling einem weniger tüchtigen,
bisher ehrlich gebliebner Menschen das Brot weg.

Wenn alle diese Pfeile ins Schwarze träfen, dann müßte man zugeben,
daß es in dieser unvollkommnen Welt nicht nur nichts unvollkonnnneres,
sondern auch nichts schädlicheres gebe, als die moderne Strafvollziehung, von
der man doch wenigstens eine Zeit lang hoffte, sie helfe an ihrem Teil mit,
die dem Staate und der Gesellschaft drohenden Feinde zu bekämpfen und wo¬
möglich wiederzugewinnen. Ich will die Prüfung noch einmal aufnehmen und
hoffe zu zeigen, daß im Strafwesen zwar vieles der Besserung recht bedürftig
ist, daß aber auch mancher Vorwurf, den man gegen dieses Strafwesen richtet,
unbegründet ist, entweder geradezu falsch ist oder auf falschen Voraussetzungen
beruht und deshalb abgewiesen werden muß.

Welchen Zweck hat die Strafe? Das ist eine uralte Frage, deren Er¬
örterung schon in graue Zeiten zurückreicht und im Lauf der Jahre einen
ganzen Schwarm von Theorien erzeugt hat. In zwei große Gruppen kann
man diese Strafrechtstheorien einteilen, in absolute und relative; dazwischen
stehen dann noch etwas verschämt die gemischten, die aus den Farbentöpfchen
der beiden andern ihr Teil empfangen haben, wie der Stieglitz in der Fabel.
Die absoluten Theorien sehen in der Strafe die Wiederherstellung der ver¬
letzten Gerechtigkeit. Sie erscheinen unter verschiednen Namen, als Wieder-
vergeltnngstheorie (Kant), Theorie der (religiösen) Sühne, Gerechtigkeitstheorie
(Hegel), Restitutionstheorie u. a. in. Es kommt aber nicht auf die Namen
an, deun im Grunde genommen zeigen sie doch immer dasselbe Gesicht, es
ist das alte M tMoui8, das aus allen Verkleidungen und Vermummungen



") Die Kvrrektionshäuser stehen durchaus nicht höher als die gewöhnlichen Gefängnisse,
sie stehen aber viel tieser als die gröszern Gefängnisse und die Zuchthäuser.
Grenzboten II 1395 4
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[0033] Die Behandlung des Verbrechers Übelthat entsprechenden Übels. Unsre heutige Strafrechtspflege kümmert sich für gewöhnlich um die erste, wichtigere Art, Gerechtigkeit zu üben, gar nicht und entledigt sich der zweiten in der denkbar kläglichsten Weise. Ferner: Für den Schutz der Gesellschaft sorgt unsre Strafjustiz so gut wie gar nicht. Ferner: Daß die Absicht, durch Strafen vom Verbrechen abzuhalten, über¬ haupt nicht erreichbar ist, sollte doch eine dreitausendjährige Erfahrung endlich gelehrt haben. Ferner: Von der Besserung des Verbrechers wollen wir nicht erst reden. Korruptionshüuser werden von Kennern nicht allein die gewöhn¬ lichen Gefängnisse, sondern auch die Korrektionshäuser genannt. Und zwar wirken gemeinsame Haft und Einzelhaft in gleichem Grade, wenn auch in ver- schiedner Weise verderblich, die eine ist die hohe Schule des Verbrechers, die andre führt zu völliger Zerrüttung des Seelenlebens. Endlich: Die Reform¬ freunde werden mit Ellis sagen: Was nützt die Besserung oder Heilung des Verbrechers, wenn der Gesellschaftszustand täglich neue Verbrecher macht? Nimmt doch jeder als tüchtig entlassene Sträfling einem weniger tüchtigen, bisher ehrlich gebliebner Menschen das Brot weg. Wenn alle diese Pfeile ins Schwarze träfen, dann müßte man zugeben, daß es in dieser unvollkommnen Welt nicht nur nichts unvollkonnnneres, sondern auch nichts schädlicheres gebe, als die moderne Strafvollziehung, von der man doch wenigstens eine Zeit lang hoffte, sie helfe an ihrem Teil mit, die dem Staate und der Gesellschaft drohenden Feinde zu bekämpfen und wo¬ möglich wiederzugewinnen. Ich will die Prüfung noch einmal aufnehmen und hoffe zu zeigen, daß im Strafwesen zwar vieles der Besserung recht bedürftig ist, daß aber auch mancher Vorwurf, den man gegen dieses Strafwesen richtet, unbegründet ist, entweder geradezu falsch ist oder auf falschen Voraussetzungen beruht und deshalb abgewiesen werden muß. Welchen Zweck hat die Strafe? Das ist eine uralte Frage, deren Er¬ örterung schon in graue Zeiten zurückreicht und im Lauf der Jahre einen ganzen Schwarm von Theorien erzeugt hat. In zwei große Gruppen kann man diese Strafrechtstheorien einteilen, in absolute und relative; dazwischen stehen dann noch etwas verschämt die gemischten, die aus den Farbentöpfchen der beiden andern ihr Teil empfangen haben, wie der Stieglitz in der Fabel. Die absoluten Theorien sehen in der Strafe die Wiederherstellung der ver¬ letzten Gerechtigkeit. Sie erscheinen unter verschiednen Namen, als Wieder- vergeltnngstheorie (Kant), Theorie der (religiösen) Sühne, Gerechtigkeitstheorie (Hegel), Restitutionstheorie u. a. in. Es kommt aber nicht auf die Namen an, deun im Grunde genommen zeigen sie doch immer dasselbe Gesicht, es ist das alte M tMoui8, das aus allen Verkleidungen und Vermummungen ") Die Kvrrektionshäuser stehen durchaus nicht höher als die gewöhnlichen Gefängnisse, sie stehen aber viel tieser als die gröszern Gefängnisse und die Zuchthäuser. Grenzboten II 1395 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/33>, abgerufen am 26.08.2024.