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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Kurzschrift und Sprache

Zeichen ist, hauptsächlich dagegen dadurch, daß alle Merkmale Gruppen von
Einzelgliedern bilden, deren jedes als Grundform angesehen werden kann,
während die andern gleichartigen als Abwandlungen erscheinen. Eine Größe
wird so in die andre, eine Richtung in die andre übergeführt, es giebt eine
Umformung, Verstärkung, Verstellung n. s. w. Ein Teil dieser Wandlungen
hat nur handliche Übergänge von Zeichen zu Zeichen herbeizuführen und be¬
wirkt keinen Zuwachs der Bedeutung, die übrigen aber dienen der Darstellung
eines Lautes am Zeichen eines andern, der Kürzung. Das aus der Wand¬
lung hervorgehende Zeichen ist in diesem Falle anzusehen als das ursprüng¬
liche, vermehrt um ein Merkmal. Die Einsetzung eines Merkmals für ein
selbständiges Zeichen vermindert die Zahl der Schriftzüge und heißt deshalb
Kürzung.

An sich ist es ja nun möglich, neben veränderlichen Zeichen auch starre
zu verwenden, aber es ist nicht gut. Der stärkere Verbrauch von Schriftmitteln
für die Verbindung kann nur wieder eingebracht werden durch möglichste Steige¬
rung der Zeicheuwandlung. Von der Wandlungsfähigkeit der Zeichen hängt
die Fruchtbarkeit der Kürzungen, ihre Anpassungsfähigkeit an die Sprache ab.
Sie zu erhöhen, dafür giebt es drei Gruudfütze von mathematischer Gewißheit.
Sie bilden den Angelpunkt der ganzen stenographischen Theorie.

Der erste Grundsatz gebietet, nur die unbedingt erforderliche Zahl selb¬
ständiger Zeichen zu bilden, die gerade hinreicht, die einfachen Laute der
Sprache darzustellen. Denn je geringer die Zahl, desto größer die Wandel¬
barkeit. Die gewählten Zeichen müssen unter Benutzung eines möglichst kleinen
Teils ihrer Wandlungen alle unter einander vcrbindungsfähig sein und so jede
Lnutgrnppirung bewältigen können, ohne wegen UnHandlichkeit durch andre
Schriftbestimmungen ersetzt werden zu müssen. Die Hauptmasse der Merkmale
aber muß für die Kürzungen frei bleiben.

Der zweite Grundsatz fordert, die Zeichen so zu wühlen, daß womöglich
alle in gleicher Weise wandelbar sind. Es ist uns nicht damit gedient, die
Wandlungen der einzelnen Zeichen in besondern Bestimmungen auszunutzen.
Nur dadurch, daß sie alle die gleichen Merkmale aufnehmen können, erlangen
die Kürzungen den gewünschten großen Anwendungsbereich. Alle Zeichen
oder wenigstens die Angehörigen einer der beiden großen Zeichenklassen, Grund¬
strich und Haarstrich, sollen sich also übereinstimmend in ihrer Richtung ver¬
ändern, verstärken, umformen, vergrößern oder verstellen lassen. Dann werden
nicht einzelne Lautvcrbindungen von der Kürzung betroffen, sondern ein Laut
läßt sich womöglich in allen seinen Verbindungen durch ein und dasselbe
Merkmal am Nachbarzeichen darstellen. Bringt man weiterhin die Merkmale
in eine Gruppirung, die der der Lautzeichen entspricht, so können nicht nur
einzelne Laute, sondern ganze Lautklassen an allen Zeichen oder einer Zeichen¬
klasse auf Grund einer einzigen Kürzungsregel zur Darstellung kommen.


Kurzschrift und Sprache

Zeichen ist, hauptsächlich dagegen dadurch, daß alle Merkmale Gruppen von
Einzelgliedern bilden, deren jedes als Grundform angesehen werden kann,
während die andern gleichartigen als Abwandlungen erscheinen. Eine Größe
wird so in die andre, eine Richtung in die andre übergeführt, es giebt eine
Umformung, Verstärkung, Verstellung n. s. w. Ein Teil dieser Wandlungen
hat nur handliche Übergänge von Zeichen zu Zeichen herbeizuführen und be¬
wirkt keinen Zuwachs der Bedeutung, die übrigen aber dienen der Darstellung
eines Lautes am Zeichen eines andern, der Kürzung. Das aus der Wand¬
lung hervorgehende Zeichen ist in diesem Falle anzusehen als das ursprüng¬
liche, vermehrt um ein Merkmal. Die Einsetzung eines Merkmals für ein
selbständiges Zeichen vermindert die Zahl der Schriftzüge und heißt deshalb
Kürzung.

An sich ist es ja nun möglich, neben veränderlichen Zeichen auch starre
zu verwenden, aber es ist nicht gut. Der stärkere Verbrauch von Schriftmitteln
für die Verbindung kann nur wieder eingebracht werden durch möglichste Steige¬
rung der Zeicheuwandlung. Von der Wandlungsfähigkeit der Zeichen hängt
die Fruchtbarkeit der Kürzungen, ihre Anpassungsfähigkeit an die Sprache ab.
Sie zu erhöhen, dafür giebt es drei Gruudfütze von mathematischer Gewißheit.
Sie bilden den Angelpunkt der ganzen stenographischen Theorie.

Der erste Grundsatz gebietet, nur die unbedingt erforderliche Zahl selb¬
ständiger Zeichen zu bilden, die gerade hinreicht, die einfachen Laute der
Sprache darzustellen. Denn je geringer die Zahl, desto größer die Wandel¬
barkeit. Die gewählten Zeichen müssen unter Benutzung eines möglichst kleinen
Teils ihrer Wandlungen alle unter einander vcrbindungsfähig sein und so jede
Lnutgrnppirung bewältigen können, ohne wegen UnHandlichkeit durch andre
Schriftbestimmungen ersetzt werden zu müssen. Die Hauptmasse der Merkmale
aber muß für die Kürzungen frei bleiben.

Der zweite Grundsatz fordert, die Zeichen so zu wühlen, daß womöglich
alle in gleicher Weise wandelbar sind. Es ist uns nicht damit gedient, die
Wandlungen der einzelnen Zeichen in besondern Bestimmungen auszunutzen.
Nur dadurch, daß sie alle die gleichen Merkmale aufnehmen können, erlangen
die Kürzungen den gewünschten großen Anwendungsbereich. Alle Zeichen
oder wenigstens die Angehörigen einer der beiden großen Zeichenklassen, Grund¬
strich und Haarstrich, sollen sich also übereinstimmend in ihrer Richtung ver¬
ändern, verstärken, umformen, vergrößern oder verstellen lassen. Dann werden
nicht einzelne Lautvcrbindungen von der Kürzung betroffen, sondern ein Laut
läßt sich womöglich in allen seinen Verbindungen durch ein und dasselbe
Merkmal am Nachbarzeichen darstellen. Bringt man weiterhin die Merkmale
in eine Gruppirung, die der der Lautzeichen entspricht, so können nicht nur
einzelne Laute, sondern ganze Lautklassen an allen Zeichen oder einer Zeichen¬
klasse auf Grund einer einzigen Kürzungsregel zur Darstellung kommen.


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[0325] Kurzschrift und Sprache Zeichen ist, hauptsächlich dagegen dadurch, daß alle Merkmale Gruppen von Einzelgliedern bilden, deren jedes als Grundform angesehen werden kann, während die andern gleichartigen als Abwandlungen erscheinen. Eine Größe wird so in die andre, eine Richtung in die andre übergeführt, es giebt eine Umformung, Verstärkung, Verstellung n. s. w. Ein Teil dieser Wandlungen hat nur handliche Übergänge von Zeichen zu Zeichen herbeizuführen und be¬ wirkt keinen Zuwachs der Bedeutung, die übrigen aber dienen der Darstellung eines Lautes am Zeichen eines andern, der Kürzung. Das aus der Wand¬ lung hervorgehende Zeichen ist in diesem Falle anzusehen als das ursprüng¬ liche, vermehrt um ein Merkmal. Die Einsetzung eines Merkmals für ein selbständiges Zeichen vermindert die Zahl der Schriftzüge und heißt deshalb Kürzung. An sich ist es ja nun möglich, neben veränderlichen Zeichen auch starre zu verwenden, aber es ist nicht gut. Der stärkere Verbrauch von Schriftmitteln für die Verbindung kann nur wieder eingebracht werden durch möglichste Steige¬ rung der Zeicheuwandlung. Von der Wandlungsfähigkeit der Zeichen hängt die Fruchtbarkeit der Kürzungen, ihre Anpassungsfähigkeit an die Sprache ab. Sie zu erhöhen, dafür giebt es drei Gruudfütze von mathematischer Gewißheit. Sie bilden den Angelpunkt der ganzen stenographischen Theorie. Der erste Grundsatz gebietet, nur die unbedingt erforderliche Zahl selb¬ ständiger Zeichen zu bilden, die gerade hinreicht, die einfachen Laute der Sprache darzustellen. Denn je geringer die Zahl, desto größer die Wandel¬ barkeit. Die gewählten Zeichen müssen unter Benutzung eines möglichst kleinen Teils ihrer Wandlungen alle unter einander vcrbindungsfähig sein und so jede Lnutgrnppirung bewältigen können, ohne wegen UnHandlichkeit durch andre Schriftbestimmungen ersetzt werden zu müssen. Die Hauptmasse der Merkmale aber muß für die Kürzungen frei bleiben. Der zweite Grundsatz fordert, die Zeichen so zu wühlen, daß womöglich alle in gleicher Weise wandelbar sind. Es ist uns nicht damit gedient, die Wandlungen der einzelnen Zeichen in besondern Bestimmungen auszunutzen. Nur dadurch, daß sie alle die gleichen Merkmale aufnehmen können, erlangen die Kürzungen den gewünschten großen Anwendungsbereich. Alle Zeichen oder wenigstens die Angehörigen einer der beiden großen Zeichenklassen, Grund¬ strich und Haarstrich, sollen sich also übereinstimmend in ihrer Richtung ver¬ ändern, verstärken, umformen, vergrößern oder verstellen lassen. Dann werden nicht einzelne Lautvcrbindungen von der Kürzung betroffen, sondern ein Laut läßt sich womöglich in allen seinen Verbindungen durch ein und dasselbe Merkmal am Nachbarzeichen darstellen. Bringt man weiterhin die Merkmale in eine Gruppirung, die der der Lautzeichen entspricht, so können nicht nur einzelne Laute, sondern ganze Lautklassen an allen Zeichen oder einer Zeichen¬ klasse auf Grund einer einzigen Kürzungsregel zur Darstellung kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/325>, abgerufen am 25.08.2024.