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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anrzschrift und Sprache

weicht. Gabelsbergcr und Arends glaubten die Anpassung an die Sprache
dadurch bis zu einer idealen Versinnbildlichung zu führen, daß sie tausende
von Schriftbestimmungen allen Eigentümlichkeiten der Lautgruppirung im
Worte folgen ließen. Aber diese Eigentümlichkeiten der Sprache sind nichts
als Phantasiegebilde, sie sind erst die Erzeugnisse der Schriftbestimmungen.
Ist denn ein i, dein ein in folgt, so verschieden von einem i, das einem
t vorhergeht, daß beide durchaus anders bezeichnet werden müßten? Oder
ändert ein t seine Natur dadurch, daß es statt nach s nach es steht? Was
unterscheidet endlich gar das l in Schild von dem in Bild? Diese Sy¬
steme machen die Darstellung eines Lautes von der andrer Laute in einer
Weise abhängig, daß die Schriftbestimmnngen nur einen sehr kleinen An¬
wendungsbereich haben. Unsre Zählungen aber haben offenbar nur denn
einen Sinn, wenn mau beabsichtigt, deu Schriftbestimmungen einen möglichst
großen Anwendungsbereich zu schaffen. Denn was hilft es, die Häufigkeit
eines Sprachteils zu wissen, wenn er immer wieder anders bezeichnet wird?
Gerade die Ausnutzung der verschiednen Hünfigteit soll die Kürze der Schrift
herbeiführen. Ein System wird sich also der Sprache am besten angepaßt
haben, je weniger Bestimmungen es enthält, und je häufiger es jede einzelne
zur Geltung bringt. Welche Sprachteile man nun zum Gegenstande von
Hüufigkeitsuntcrsuchuugeu zu machen hat, damit auch wirklich ein Vorteil für
die Kurzschrift aus ihnen erwächst, das steht keineswegs von vornherein fest.
Darüber kann nur eine Kenntnis der Methoden Aufschluß geben, die einer
Kurzschrift zu Gebote stehen, um irgendwelche Sprachtcile kürzer darzustellen
als andre. Die Anwendung dieser Methoden ist vielleicht an bestimmte Sprach¬
teile gebunden.

Da giebt es zunächst ein Verfahren, das mit dem Gefüge einer Kurz¬
schrift nur in ganz losem Zusammenhange steht. Es besteht in der voll¬
ständigen Auslassung von Sprachteilen nach Art der gebräuchlichen Abkür¬
zungen unsrer gewöhnlichen Schrift. Dieses Verfahren ist einfach und findet
seine Grenze nur in der Sorge um die Unverwechselbarkeit. Aber wenn solche
Abkürzungen in großer Menge aufgestellt werden, dann durchkreuzen sie gerade
unser Bestreben, durch möglichste Anpassung an die Sprache die Zahl der
Schriftbestimmnngen herabzusetzen. Also wird das beste System das sein,
das sie am meisten entbehren kann, weil seine eignen Schriftmittel die ge¬
nügende Kürze sichern. Jedenfalls müssen sich die Abkürzungen auf die häu¬
figste" Wörter und Silben beschränken, die sich unabhängig von der Wahl
des behandelten Gegenstandes in der Sprache stets wiederfinden. Um diese
etwa fünfzig Wörter und Silben, wie Geschlechtswörter, einige Binde¬
wörter, Fürwörter, Vor- und Nachsilben festzustellen, wäre es nicht nötig
gewesen, jedes einzelne Wort in allen seinen Ableitungen gesondert zu
zählen, und außerdem hätte es geuttgt, den hundertsten Teil des Stoffes


Anrzschrift und Sprache

weicht. Gabelsbergcr und Arends glaubten die Anpassung an die Sprache
dadurch bis zu einer idealen Versinnbildlichung zu führen, daß sie tausende
von Schriftbestimmungen allen Eigentümlichkeiten der Lautgruppirung im
Worte folgen ließen. Aber diese Eigentümlichkeiten der Sprache sind nichts
als Phantasiegebilde, sie sind erst die Erzeugnisse der Schriftbestimmungen.
Ist denn ein i, dein ein in folgt, so verschieden von einem i, das einem
t vorhergeht, daß beide durchaus anders bezeichnet werden müßten? Oder
ändert ein t seine Natur dadurch, daß es statt nach s nach es steht? Was
unterscheidet endlich gar das l in Schild von dem in Bild? Diese Sy¬
steme machen die Darstellung eines Lautes von der andrer Laute in einer
Weise abhängig, daß die Schriftbestimmnngen nur einen sehr kleinen An¬
wendungsbereich haben. Unsre Zählungen aber haben offenbar nur denn
einen Sinn, wenn mau beabsichtigt, deu Schriftbestimmungen einen möglichst
großen Anwendungsbereich zu schaffen. Denn was hilft es, die Häufigkeit
eines Sprachteils zu wissen, wenn er immer wieder anders bezeichnet wird?
Gerade die Ausnutzung der verschiednen Hünfigteit soll die Kürze der Schrift
herbeiführen. Ein System wird sich also der Sprache am besten angepaßt
haben, je weniger Bestimmungen es enthält, und je häufiger es jede einzelne
zur Geltung bringt. Welche Sprachteile man nun zum Gegenstande von
Hüufigkeitsuntcrsuchuugeu zu machen hat, damit auch wirklich ein Vorteil für
die Kurzschrift aus ihnen erwächst, das steht keineswegs von vornherein fest.
Darüber kann nur eine Kenntnis der Methoden Aufschluß geben, die einer
Kurzschrift zu Gebote stehen, um irgendwelche Sprachtcile kürzer darzustellen
als andre. Die Anwendung dieser Methoden ist vielleicht an bestimmte Sprach¬
teile gebunden.

Da giebt es zunächst ein Verfahren, das mit dem Gefüge einer Kurz¬
schrift nur in ganz losem Zusammenhange steht. Es besteht in der voll¬
ständigen Auslassung von Sprachteilen nach Art der gebräuchlichen Abkür¬
zungen unsrer gewöhnlichen Schrift. Dieses Verfahren ist einfach und findet
seine Grenze nur in der Sorge um die Unverwechselbarkeit. Aber wenn solche
Abkürzungen in großer Menge aufgestellt werden, dann durchkreuzen sie gerade
unser Bestreben, durch möglichste Anpassung an die Sprache die Zahl der
Schriftbestimmnngen herabzusetzen. Also wird das beste System das sein,
das sie am meisten entbehren kann, weil seine eignen Schriftmittel die ge¬
nügende Kürze sichern. Jedenfalls müssen sich die Abkürzungen auf die häu¬
figste» Wörter und Silben beschränken, die sich unabhängig von der Wahl
des behandelten Gegenstandes in der Sprache stets wiederfinden. Um diese
etwa fünfzig Wörter und Silben, wie Geschlechtswörter, einige Binde¬
wörter, Fürwörter, Vor- und Nachsilben festzustellen, wäre es nicht nötig
gewesen, jedes einzelne Wort in allen seinen Ableitungen gesondert zu
zählen, und außerdem hätte es geuttgt, den hundertsten Teil des Stoffes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/323>, abgerufen am 25.08.2024.