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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Angst der Kinder einen glänzenden, echt modernen Ausdruck gefunden habe, und
daß sich gerade hier Humperdincks Talent von seiner besten Seite zeige. Das
ist eben Geschmacksache. Für meine musikalische Empfindung fehlt dieser Szene
das wichtigste, die greifbare melodische Gestalt; ich finde sie gequält und atme
auf, wenn das Sandmännchen kommt mit seinem wundervollen Liedchen, und
mit mir freuen sich gewiß alle die, die sich noch Sinn und Verständnis für
wirkliche musikalische Schönheit bewahrt haben. Warum geht bei dem kleinen
Liede eine Bewegung durchs Haus? Warum neigen sie alle die Köpfe und
flüstern einander ins Ohr: Wie schön? Nur weil der ungezwungen diese Gehalt
dieser edeln Melodie jedes Herz gefangen nimmt. Das Gebet der Kinder hält
die gewonnene Stimmung fest, und es wäre alles schön und gut, wenn die
Lustbarkeit nur rasch ein Ende nähme. Leider werden wir aber noch zu Zeugen
einer großen Pantomime gemacht, gegen die ja an sich gewiß nichts einzuwenden
wäre, wenn nicht in der begleitenden Musik Fehler zu Tage träten, die man
gerade bei Humperdinck so gern vermieden sehen möchte, nämlich Sentimen¬
talität und -- man verzeihe das Wort -- Protzenhaftigkeit. Oder ist es
etwa nicht tadelnswert, wenn aus dem Liede des Sandmännchens das schönste
Stück herausgerissen und ich möchte fast sagen in unkeuscher Weise im ganzen
Orchester herumgeschleift wird? Ist es nicht protzenhaft, das Gebet der Kinder
Pomphaft aufzuputzen und herzurüsten wie eine Waldnymphe zu einem Hof¬
ball? Fände sich die Musik zu dieser Pantomime irgendwo bei Mascagni
oder Leoncavallv, so würde niemand Anstoß daran nehmen. Man würde zu¬
geben, daß sie sich dem Gesamtton ungezwungen einreihe, und würde sich
vielleicht sogar freuen über die Geschicklichkeit der Orchesterbehandlung und
den Reichtum der instrumentalen Arbeit. Anders bei Humperdinck. Im Hause
des deutschen Edelmanns erwartet man andre Manieren, als in dem des
italienischen Naturburschen. Was bei diesem überrascht und erfreut, kann bei
jenem immer noch aufgebauscht und unnobel erscheinen.

Das Vorspiel zum dritten Bilde zeigt Humperdinck wieder auf der frühern
Höhe, und das Lied des Taumännchens vollends läßt uns durch seine reine
Schönheit alles Ungemach vergessen. Im Gruße Gretels an die Vögel und
in der nachherigen Erzählung des Traums steckt zwar die alte Base Sen¬
timentalität wieder ihren Kopf heraus, und an die Stelle freier Erfindung
tritt motivische Arbeit. Dagegen führt die Schalkhaftigkeit Gretels und der
Übermut Hänsels in der Weckszene und dem Lerchen-Hahnenzwiegesang zu ent¬
zückenden musikalischen Ideen.

Mit der Erscheinung des Knusperhäuschens aber gelangen wir an einen
entscheidenden künstlerischen Wendepunkt. War bisher das Verhältnis so, daß
das Gute bei weitem überwog, so wird nun für längere Zeit das Verfehlte
zur Regel, das Gute aber zur Ausnahme. Was der Grund dieses künst¬
lerischen Rückgangs ist, ob ein wirkliches Nachlassen der schöpferischen Kraft


Grciizboteu II 189S 36
Moderne Vpern

Angst der Kinder einen glänzenden, echt modernen Ausdruck gefunden habe, und
daß sich gerade hier Humperdincks Talent von seiner besten Seite zeige. Das
ist eben Geschmacksache. Für meine musikalische Empfindung fehlt dieser Szene
das wichtigste, die greifbare melodische Gestalt; ich finde sie gequält und atme
auf, wenn das Sandmännchen kommt mit seinem wundervollen Liedchen, und
mit mir freuen sich gewiß alle die, die sich noch Sinn und Verständnis für
wirkliche musikalische Schönheit bewahrt haben. Warum geht bei dem kleinen
Liede eine Bewegung durchs Haus? Warum neigen sie alle die Köpfe und
flüstern einander ins Ohr: Wie schön? Nur weil der ungezwungen diese Gehalt
dieser edeln Melodie jedes Herz gefangen nimmt. Das Gebet der Kinder hält
die gewonnene Stimmung fest, und es wäre alles schön und gut, wenn die
Lustbarkeit nur rasch ein Ende nähme. Leider werden wir aber noch zu Zeugen
einer großen Pantomime gemacht, gegen die ja an sich gewiß nichts einzuwenden
wäre, wenn nicht in der begleitenden Musik Fehler zu Tage träten, die man
gerade bei Humperdinck so gern vermieden sehen möchte, nämlich Sentimen¬
talität und — man verzeihe das Wort — Protzenhaftigkeit. Oder ist es
etwa nicht tadelnswert, wenn aus dem Liede des Sandmännchens das schönste
Stück herausgerissen und ich möchte fast sagen in unkeuscher Weise im ganzen
Orchester herumgeschleift wird? Ist es nicht protzenhaft, das Gebet der Kinder
Pomphaft aufzuputzen und herzurüsten wie eine Waldnymphe zu einem Hof¬
ball? Fände sich die Musik zu dieser Pantomime irgendwo bei Mascagni
oder Leoncavallv, so würde niemand Anstoß daran nehmen. Man würde zu¬
geben, daß sie sich dem Gesamtton ungezwungen einreihe, und würde sich
vielleicht sogar freuen über die Geschicklichkeit der Orchesterbehandlung und
den Reichtum der instrumentalen Arbeit. Anders bei Humperdinck. Im Hause
des deutschen Edelmanns erwartet man andre Manieren, als in dem des
italienischen Naturburschen. Was bei diesem überrascht und erfreut, kann bei
jenem immer noch aufgebauscht und unnobel erscheinen.

Das Vorspiel zum dritten Bilde zeigt Humperdinck wieder auf der frühern
Höhe, und das Lied des Taumännchens vollends läßt uns durch seine reine
Schönheit alles Ungemach vergessen. Im Gruße Gretels an die Vögel und
in der nachherigen Erzählung des Traums steckt zwar die alte Base Sen¬
timentalität wieder ihren Kopf heraus, und an die Stelle freier Erfindung
tritt motivische Arbeit. Dagegen führt die Schalkhaftigkeit Gretels und der
Übermut Hänsels in der Weckszene und dem Lerchen-Hahnenzwiegesang zu ent¬
zückenden musikalischen Ideen.

Mit der Erscheinung des Knusperhäuschens aber gelangen wir an einen
entscheidenden künstlerischen Wendepunkt. War bisher das Verhältnis so, daß
das Gute bei weitem überwog, so wird nun für längere Zeit das Verfehlte
zur Regel, das Gute aber zur Ausnahme. Was der Grund dieses künst¬
lerischen Rückgangs ist, ob ein wirkliches Nachlassen der schöpferischen Kraft


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[0289] Moderne Vpern Angst der Kinder einen glänzenden, echt modernen Ausdruck gefunden habe, und daß sich gerade hier Humperdincks Talent von seiner besten Seite zeige. Das ist eben Geschmacksache. Für meine musikalische Empfindung fehlt dieser Szene das wichtigste, die greifbare melodische Gestalt; ich finde sie gequält und atme auf, wenn das Sandmännchen kommt mit seinem wundervollen Liedchen, und mit mir freuen sich gewiß alle die, die sich noch Sinn und Verständnis für wirkliche musikalische Schönheit bewahrt haben. Warum geht bei dem kleinen Liede eine Bewegung durchs Haus? Warum neigen sie alle die Köpfe und flüstern einander ins Ohr: Wie schön? Nur weil der ungezwungen diese Gehalt dieser edeln Melodie jedes Herz gefangen nimmt. Das Gebet der Kinder hält die gewonnene Stimmung fest, und es wäre alles schön und gut, wenn die Lustbarkeit nur rasch ein Ende nähme. Leider werden wir aber noch zu Zeugen einer großen Pantomime gemacht, gegen die ja an sich gewiß nichts einzuwenden wäre, wenn nicht in der begleitenden Musik Fehler zu Tage träten, die man gerade bei Humperdinck so gern vermieden sehen möchte, nämlich Sentimen¬ talität und — man verzeihe das Wort — Protzenhaftigkeit. Oder ist es etwa nicht tadelnswert, wenn aus dem Liede des Sandmännchens das schönste Stück herausgerissen und ich möchte fast sagen in unkeuscher Weise im ganzen Orchester herumgeschleift wird? Ist es nicht protzenhaft, das Gebet der Kinder Pomphaft aufzuputzen und herzurüsten wie eine Waldnymphe zu einem Hof¬ ball? Fände sich die Musik zu dieser Pantomime irgendwo bei Mascagni oder Leoncavallv, so würde niemand Anstoß daran nehmen. Man würde zu¬ geben, daß sie sich dem Gesamtton ungezwungen einreihe, und würde sich vielleicht sogar freuen über die Geschicklichkeit der Orchesterbehandlung und den Reichtum der instrumentalen Arbeit. Anders bei Humperdinck. Im Hause des deutschen Edelmanns erwartet man andre Manieren, als in dem des italienischen Naturburschen. Was bei diesem überrascht und erfreut, kann bei jenem immer noch aufgebauscht und unnobel erscheinen. Das Vorspiel zum dritten Bilde zeigt Humperdinck wieder auf der frühern Höhe, und das Lied des Taumännchens vollends läßt uns durch seine reine Schönheit alles Ungemach vergessen. Im Gruße Gretels an die Vögel und in der nachherigen Erzählung des Traums steckt zwar die alte Base Sen¬ timentalität wieder ihren Kopf heraus, und an die Stelle freier Erfindung tritt motivische Arbeit. Dagegen führt die Schalkhaftigkeit Gretels und der Übermut Hänsels in der Weckszene und dem Lerchen-Hahnenzwiegesang zu ent¬ zückenden musikalischen Ideen. Mit der Erscheinung des Knusperhäuschens aber gelangen wir an einen entscheidenden künstlerischen Wendepunkt. War bisher das Verhältnis so, daß das Gute bei weitem überwog, so wird nun für längere Zeit das Verfehlte zur Regel, das Gute aber zur Ausnahme. Was der Grund dieses künst¬ lerischen Rückgangs ist, ob ein wirkliches Nachlassen der schöpferischen Kraft Grciizboteu II 189S 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/289>, abgerufen am 25.08.2024.