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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Genüge thun können. Freilich ist das Vorspiel und überhaupt die besten
Partien aus Hansel und Gretel ohne Wagners Vorgang nicht denkbar Humper¬
dinck steht auf dem Boden der durch Wagner erweiterten und bereicherten Har¬
monik und Melodik (?); aber er verzichtet in dem Bewußtsein der eignen
Kraft darauf, die Manier des Meisters nachzuahmen, und schafft aus eigner
Erfindung wieder in scharf umgrenzten Formen scharf umgrenzte musikalische
Gebilde. Überall wo Humperdinck diese seine Selbständigkeit wahrt, bleibt er
deun auch anregend und bewundernswürdig; überall aber, wo er der Manier
Wagners Zugeständnisse macht, sei es durch ausgedehnte motivische Arbeit
oder durch ein Verlassen des ihm eingebornen natürlichen Tons, sinkt er von
seiner Höhe herab und wird, wie wir das später sehen werden, zum umständ¬
lichen Erzähler.

Zunächst ist aber davon noch nicht die Rede. Die ersten Szenen zeigen
Humperdinck auf der Höhe. Deu Zwiegesang der Kinder möchte ich mit einer
Schnur von Perlen vergleichen, von denen immer eine schöner, kostbarer und
glänzender als die andre ist. Hier steht man einer reifen und überlegnen
Kraft gegenüber, die, wo sie sich ungeschminkt selbst giebt, nur freudige Be¬
wunderung zu erregen vermag. Daß Humperdinck in dieser ersten Szene
und auch später einige Volksliedchen verarbeitet hat, fällt nach meiner Mei¬
nung gar nicht in die Wagschale. Die Liedchen waren ja schon lange da, es
bedürfte aber erst der Kunst Humperdincks, sie zu einem so reizenden musika¬
lischen Ganzen zu verarbeiten. Sollte es ihm wirklich leichter fallen, Gutes
zu schaffen, wenn er sich hie und da ans schon vorhandne Weisen stützt, so
kann man ihm nur dringend raten, ungenirt seiner musikalischen Natur nach¬
zugeben und nicht den Wohlfeileu Spott derer zu fürchten, die geneigt sind,
ihm deshalb Unselbständigkeit vorzuwerfen. Die Volksliedchen verhalten sich
zu dem, was Humperdinck aus ihnen gemacht hat, wie die Gewürze in der
Büchse zur fertigen wohlschmeckenden Speise.

Besonders schön ist die Charakteristik der beiden Eltern. Aus dem mono¬
logischen Gesänge der Mutter spricht die Müdigkeit einer im Kampf ums Dasein
gequälten Seele, aus dem Liede des Vaters aber der leise Schmerz einer ehr¬
lichen und redlichen Armut. Er hat ja ein wenig über den Durst getrunken,
der gute Besenbinder, aber die angeborne Gutmütigkeit seines Herzens leuchtet
auch durch das bischen Alkohol. Es liegt etwas in seinem Liede, was fast
zu Thränen rührt, eine schlichte Einfalt und ein Anflug von Wehmut, von
denen man sagen möchte, daß sie einen ausgesprochen deutschen Charakter
haben.

Das Folgende hält sich allerdings nicht mehr ganz auf dieser Höhe.
Neben vortrefflichen finden sich auch schon weniger gelungne Partien. Das
Orchester begleitet ja in sinniger Weise die Bereicherung der Speisekammer, die
Angst des Vaters um seine lieben Kinder kommt in breiten, ernsten Akkorden


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Genüge thun können. Freilich ist das Vorspiel und überhaupt die besten
Partien aus Hansel und Gretel ohne Wagners Vorgang nicht denkbar Humper¬
dinck steht auf dem Boden der durch Wagner erweiterten und bereicherten Har¬
monik und Melodik (?); aber er verzichtet in dem Bewußtsein der eignen
Kraft darauf, die Manier des Meisters nachzuahmen, und schafft aus eigner
Erfindung wieder in scharf umgrenzten Formen scharf umgrenzte musikalische
Gebilde. Überall wo Humperdinck diese seine Selbständigkeit wahrt, bleibt er
deun auch anregend und bewundernswürdig; überall aber, wo er der Manier
Wagners Zugeständnisse macht, sei es durch ausgedehnte motivische Arbeit
oder durch ein Verlassen des ihm eingebornen natürlichen Tons, sinkt er von
seiner Höhe herab und wird, wie wir das später sehen werden, zum umständ¬
lichen Erzähler.

Zunächst ist aber davon noch nicht die Rede. Die ersten Szenen zeigen
Humperdinck auf der Höhe. Deu Zwiegesang der Kinder möchte ich mit einer
Schnur von Perlen vergleichen, von denen immer eine schöner, kostbarer und
glänzender als die andre ist. Hier steht man einer reifen und überlegnen
Kraft gegenüber, die, wo sie sich ungeschminkt selbst giebt, nur freudige Be¬
wunderung zu erregen vermag. Daß Humperdinck in dieser ersten Szene
und auch später einige Volksliedchen verarbeitet hat, fällt nach meiner Mei¬
nung gar nicht in die Wagschale. Die Liedchen waren ja schon lange da, es
bedürfte aber erst der Kunst Humperdincks, sie zu einem so reizenden musika¬
lischen Ganzen zu verarbeiten. Sollte es ihm wirklich leichter fallen, Gutes
zu schaffen, wenn er sich hie und da ans schon vorhandne Weisen stützt, so
kann man ihm nur dringend raten, ungenirt seiner musikalischen Natur nach¬
zugeben und nicht den Wohlfeileu Spott derer zu fürchten, die geneigt sind,
ihm deshalb Unselbständigkeit vorzuwerfen. Die Volksliedchen verhalten sich
zu dem, was Humperdinck aus ihnen gemacht hat, wie die Gewürze in der
Büchse zur fertigen wohlschmeckenden Speise.

Besonders schön ist die Charakteristik der beiden Eltern. Aus dem mono¬
logischen Gesänge der Mutter spricht die Müdigkeit einer im Kampf ums Dasein
gequälten Seele, aus dem Liede des Vaters aber der leise Schmerz einer ehr¬
lichen und redlichen Armut. Er hat ja ein wenig über den Durst getrunken,
der gute Besenbinder, aber die angeborne Gutmütigkeit seines Herzens leuchtet
auch durch das bischen Alkohol. Es liegt etwas in seinem Liede, was fast
zu Thränen rührt, eine schlichte Einfalt und ein Anflug von Wehmut, von
denen man sagen möchte, daß sie einen ausgesprochen deutschen Charakter
haben.

Das Folgende hält sich allerdings nicht mehr ganz auf dieser Höhe.
Neben vortrefflichen finden sich auch schon weniger gelungne Partien. Das
Orchester begleitet ja in sinniger Weise die Bereicherung der Speisekammer, die
Angst des Vaters um seine lieben Kinder kommt in breiten, ernsten Akkorden


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[0287] Moderne Gper» Genüge thun können. Freilich ist das Vorspiel und überhaupt die besten Partien aus Hansel und Gretel ohne Wagners Vorgang nicht denkbar Humper¬ dinck steht auf dem Boden der durch Wagner erweiterten und bereicherten Har¬ monik und Melodik (?); aber er verzichtet in dem Bewußtsein der eignen Kraft darauf, die Manier des Meisters nachzuahmen, und schafft aus eigner Erfindung wieder in scharf umgrenzten Formen scharf umgrenzte musikalische Gebilde. Überall wo Humperdinck diese seine Selbständigkeit wahrt, bleibt er deun auch anregend und bewundernswürdig; überall aber, wo er der Manier Wagners Zugeständnisse macht, sei es durch ausgedehnte motivische Arbeit oder durch ein Verlassen des ihm eingebornen natürlichen Tons, sinkt er von seiner Höhe herab und wird, wie wir das später sehen werden, zum umständ¬ lichen Erzähler. Zunächst ist aber davon noch nicht die Rede. Die ersten Szenen zeigen Humperdinck auf der Höhe. Deu Zwiegesang der Kinder möchte ich mit einer Schnur von Perlen vergleichen, von denen immer eine schöner, kostbarer und glänzender als die andre ist. Hier steht man einer reifen und überlegnen Kraft gegenüber, die, wo sie sich ungeschminkt selbst giebt, nur freudige Be¬ wunderung zu erregen vermag. Daß Humperdinck in dieser ersten Szene und auch später einige Volksliedchen verarbeitet hat, fällt nach meiner Mei¬ nung gar nicht in die Wagschale. Die Liedchen waren ja schon lange da, es bedürfte aber erst der Kunst Humperdincks, sie zu einem so reizenden musika¬ lischen Ganzen zu verarbeiten. Sollte es ihm wirklich leichter fallen, Gutes zu schaffen, wenn er sich hie und da ans schon vorhandne Weisen stützt, so kann man ihm nur dringend raten, ungenirt seiner musikalischen Natur nach¬ zugeben und nicht den Wohlfeileu Spott derer zu fürchten, die geneigt sind, ihm deshalb Unselbständigkeit vorzuwerfen. Die Volksliedchen verhalten sich zu dem, was Humperdinck aus ihnen gemacht hat, wie die Gewürze in der Büchse zur fertigen wohlschmeckenden Speise. Besonders schön ist die Charakteristik der beiden Eltern. Aus dem mono¬ logischen Gesänge der Mutter spricht die Müdigkeit einer im Kampf ums Dasein gequälten Seele, aus dem Liede des Vaters aber der leise Schmerz einer ehr¬ lichen und redlichen Armut. Er hat ja ein wenig über den Durst getrunken, der gute Besenbinder, aber die angeborne Gutmütigkeit seines Herzens leuchtet auch durch das bischen Alkohol. Es liegt etwas in seinem Liede, was fast zu Thränen rührt, eine schlichte Einfalt und ein Anflug von Wehmut, von denen man sagen möchte, daß sie einen ausgesprochen deutschen Charakter haben. Das Folgende hält sich allerdings nicht mehr ganz auf dieser Höhe. Neben vortrefflichen finden sich auch schon weniger gelungne Partien. Das Orchester begleitet ja in sinniger Weise die Bereicherung der Speisekammer, die Angst des Vaters um seine lieben Kinder kommt in breiten, ernsten Akkorden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/287>, abgerufen am 22.12.2024.