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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anarchie und Rechtsstaat

lehr, den es mit Seinesgleichen eingeht, der Gesellschaft vor, in die es nicht
eingegangen, in der es vielmehr nur geboren ist."

Es ist aber doch leicht zu sehen, daß der Krieg aller gegen alle erst dann
zum Abschluß kommen kann, wenn die Konkurrenz der Vereine aufhört. Wo
das egoistische Prinzip mit Bewußtsein verfolgt wird, da ist jeder Verein eine
besondre Interessengruppe, die gewillt ist, ihre Macht zu gebrauchen und nur
vor der ihr überlegnen Macht eines andern Vereins Halt macht. Können doch
selbst die Staaten nicht unter einander Frieden halten, obwohl jeder im wesent¬
lichen ein in sich abgeschlossenes Interessengebiet umfaßt! Jeder auf egoistischer
Grundlage stehende Verein muß darnach streben, sich zu vergrößern und seine
Macht zu erweitern; jede Verschiebung der Machtverhältnisse muß zu erneuten
Kämpfen führen, die nur durch einen Vertrag ihren Abschluß finden kann. Und
das so lange, bis die von den einzelnen Vereinen vertretenen Interessen so
umfassend sind, daß sie in sich abgeschlossene Kreise bilden, die einander nur be¬
rühren, kaum aber kreuzen. Es werden sich zunächst etwa die einzelnen Berufs¬
stände zum Schutz ihrer Interessen zusammenschließen. Auf dieser Stufe der
Entwicklung ist es klar, daß der Verein noch "das Werk, das Erzeugnis" des
Einzelnen ist. Aber das ist nur der Anfang. Zur Stärkung ihrer Macht
wird sich jede Interessengruppe mit den ihr verwandten vereinigen, und diese
Verbindung wird so lange fortgesetzt werden, bis eine allgemeine Interessen¬
vertretung die Aufgabe jedes einzelnen Vereins geworden ist. Dann ist aber
der Augenblick gekommen, in dem der Verein "eine Macht über mir, ein
von mir Unerreichbares, eine Autorität geworden ist, die mir Schranken setzt."
So wird aus dem Verein eine Gesellschaft, ein Staat. Ob ich die Autorität
dieser neuen Macht anerkenne, bleibt mir überlasten; aber ich muß mich ihr
fügen, ich muß "in den Grenzen der Gesetzlichkeit" bleiben und darf mir nicht
mehr erlauben, "als mir die Gesellschaft und deren Gesetz erlaubt." Jetzt ist
der Verein nicht mehr mein "Werk," sondern ich werde in ihn hineingeboren
und kann mich ihm nur entziehen dadurch, daß ich mich aus dem von ihm
umfaßten Interessenkreise herausbegebe. Wo bleibt aber da der Gewinn? Die
Autorität des Staates für mich nicht anzuerkennen, seinem moralischen Ein¬
fluß mich zu entziehen, bleibt mir ja ohnehin in jedem Falle unbenommen;
und um meine Eigenheit dem Staate gegenüber zu retten, habe ich nur nötig,
das Staatsgebiet zu verlassen.

Das ist die Entwicklung der Formen, zu der ein durch egoistische Prin¬
zipien geleitetes Zusammenleben der Menschen führt. Und -- es ist zugleich
der Gang der geschichtlichen Entwicklung.

Wenn sich das Recht als eine menschliche, eine sittliche Notwendigkeit er¬
geben hat, so verdankt es doch nicht, wie Jhering in seinem "Zweck im Recht"
sagt, "der ethischen Überzeugung von seiner Hoheit und Majestät den Platz,
den es in der heutigen Welt einnimmt," sondern der Beginn der Entwicklung


Anarchie und Rechtsstaat

lehr, den es mit Seinesgleichen eingeht, der Gesellschaft vor, in die es nicht
eingegangen, in der es vielmehr nur geboren ist."

Es ist aber doch leicht zu sehen, daß der Krieg aller gegen alle erst dann
zum Abschluß kommen kann, wenn die Konkurrenz der Vereine aufhört. Wo
das egoistische Prinzip mit Bewußtsein verfolgt wird, da ist jeder Verein eine
besondre Interessengruppe, die gewillt ist, ihre Macht zu gebrauchen und nur
vor der ihr überlegnen Macht eines andern Vereins Halt macht. Können doch
selbst die Staaten nicht unter einander Frieden halten, obwohl jeder im wesent¬
lichen ein in sich abgeschlossenes Interessengebiet umfaßt! Jeder auf egoistischer
Grundlage stehende Verein muß darnach streben, sich zu vergrößern und seine
Macht zu erweitern; jede Verschiebung der Machtverhältnisse muß zu erneuten
Kämpfen führen, die nur durch einen Vertrag ihren Abschluß finden kann. Und
das so lange, bis die von den einzelnen Vereinen vertretenen Interessen so
umfassend sind, daß sie in sich abgeschlossene Kreise bilden, die einander nur be¬
rühren, kaum aber kreuzen. Es werden sich zunächst etwa die einzelnen Berufs¬
stände zum Schutz ihrer Interessen zusammenschließen. Auf dieser Stufe der
Entwicklung ist es klar, daß der Verein noch „das Werk, das Erzeugnis" des
Einzelnen ist. Aber das ist nur der Anfang. Zur Stärkung ihrer Macht
wird sich jede Interessengruppe mit den ihr verwandten vereinigen, und diese
Verbindung wird so lange fortgesetzt werden, bis eine allgemeine Interessen¬
vertretung die Aufgabe jedes einzelnen Vereins geworden ist. Dann ist aber
der Augenblick gekommen, in dem der Verein „eine Macht über mir, ein
von mir Unerreichbares, eine Autorität geworden ist, die mir Schranken setzt."
So wird aus dem Verein eine Gesellschaft, ein Staat. Ob ich die Autorität
dieser neuen Macht anerkenne, bleibt mir überlasten; aber ich muß mich ihr
fügen, ich muß „in den Grenzen der Gesetzlichkeit" bleiben und darf mir nicht
mehr erlauben, „als mir die Gesellschaft und deren Gesetz erlaubt." Jetzt ist
der Verein nicht mehr mein „Werk," sondern ich werde in ihn hineingeboren
und kann mich ihm nur entziehen dadurch, daß ich mich aus dem von ihm
umfaßten Interessenkreise herausbegebe. Wo bleibt aber da der Gewinn? Die
Autorität des Staates für mich nicht anzuerkennen, seinem moralischen Ein¬
fluß mich zu entziehen, bleibt mir ja ohnehin in jedem Falle unbenommen;
und um meine Eigenheit dem Staate gegenüber zu retten, habe ich nur nötig,
das Staatsgebiet zu verlassen.

Das ist die Entwicklung der Formen, zu der ein durch egoistische Prin¬
zipien geleitetes Zusammenleben der Menschen führt. Und — es ist zugleich
der Gang der geschichtlichen Entwicklung.

Wenn sich das Recht als eine menschliche, eine sittliche Notwendigkeit er¬
geben hat, so verdankt es doch nicht, wie Jhering in seinem „Zweck im Recht"
sagt, „der ethischen Überzeugung von seiner Hoheit und Majestät den Platz,
den es in der heutigen Welt einnimmt," sondern der Beginn der Entwicklung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/216>, abgerufen am 22.12.2024.