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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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haltlos in die Arme warf und ungetrübten musikalischen Genuß aus ihr ziehen
zu können behauptete, ebenso sehr täuschten sich auch die Musiker von Beruf,
die die Cavalleria als ein schlechthin seichtes und banales Produkt ohne weiteres
aus der Liste der Werke streichen wollten, die von vernünftigen Menschen ernst
zu nehmen sind. Wie so häufig, liegt die Wahrheit auch hier in der Mitte
zwischen den uneinigen Parteien, mir ist es nicht ganz leicht, diese mittlere
Linie auch wirklich herauszufinden und aus den Eigenschaften des Werkes
selbst glaubhaft zu belegen.

Gewiß, Maseagni ist unter Umständen so trivial, wie es nur Verdi sein
konnte in seinen musikalischen Flegeljahren; aber dafür haben seine Melodien
sinnlichen Reiz und wirkliche Erfindung. In seiner Harmonik ist er häufig
gewaltthätig und roh, nichts ist ihm zu hart und unvermittelt, daß er es nicht
niederschriebe; aber dasür hat er wieder dicht daneben wirklich wertvolle Ideen,
die eine thatsächliche Bereicherung des harmonischen Ausdrucksvermögens heißen
können. Maseagui ist allerdings oft theatralisch äußerlich und lulissenhaft,
das hindert aber nicht, daß er im ganzen doch mehr echtes Bühnenblut hat
als seine gesamte weise Kritikerschar zusammen. Die von ihm geschaffnen
Charaktere sind durchaus nicht rein von Flecken, sie sind im Ausdruck ihrer
Gefühle oft banal, selbst musikalisch roh, es fehlt ihnen darum aber durchaus
nicht an Kraft und Leidenschaft, ja Innigkeit und Anmut. Zudem verfügt
Maseagni über ein Pathos von nicht gewöhnlicher Wahrheit und Größe, und
vor allem: er ist nie langweilig, er versteht selbst da noch zu unterhalten, wo
er künstlerisch abstößt.

Natürlich ist es sehr leicht, sich bloß auf die Fehler zu versteifen und
sich mit vornehmem Achselzucken von dem ganzen Werke abzuwenden. Doch ist
das kein Standpunkt, wie ihn die Kritik einzunehmen berechtigt ist, die über
Erscheinungen des Tages zu Gericht zu sitzen hat. Der Historiker, der es in
hundert Jahren unternimmt, eine Geschichte der Oper in großen Zügen zu
schreiben, der mag ja vielleicht berechtigt sein, die Partitur der Cavalleria als
unwesentlich beiseite zu legen. Wer aber mitten im Getriebe des Tages steht
und rings umbrandet ist von Mittelmäßigkeit oder anspruchsvoll auftretender
Leerheit und Erfindungslosigteit, der hat allen Grund, sich über eine so ur¬
wüchsige und kräftige Erscheinung wie Maseagni zu freuen. So verfehlt es
wäre, einen jungen Maler unsrer Tage nach dem Maßstabe Michelangelos
oder Rafaels zu messen, und so wenig durch eine derart überspannte Kritik dem
künstlerischen Leben der Gegenwart ein Gefallen erwiesen wird, so wenig ist
man berechtigt, an Maseagni den Maßstab der großen deutschen Leistungen
anzulegen und ihn, wenn er vor solchen Ansprüchen nicht bestehen kann, für
wertlos zu erklären. Man muß sich aus den Standpunkt des Komponisten,
das heißt in diesem Falle auf den italienischen Standpunkt stellen und muß
von vornherein daraus verzichten, Musik von reiner Schönheit zu hören. Hat


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haltlos in die Arme warf und ungetrübten musikalischen Genuß aus ihr ziehen
zu können behauptete, ebenso sehr täuschten sich auch die Musiker von Beruf,
die die Cavalleria als ein schlechthin seichtes und banales Produkt ohne weiteres
aus der Liste der Werke streichen wollten, die von vernünftigen Menschen ernst
zu nehmen sind. Wie so häufig, liegt die Wahrheit auch hier in der Mitte
zwischen den uneinigen Parteien, mir ist es nicht ganz leicht, diese mittlere
Linie auch wirklich herauszufinden und aus den Eigenschaften des Werkes
selbst glaubhaft zu belegen.

Gewiß, Maseagni ist unter Umständen so trivial, wie es nur Verdi sein
konnte in seinen musikalischen Flegeljahren; aber dafür haben seine Melodien
sinnlichen Reiz und wirkliche Erfindung. In seiner Harmonik ist er häufig
gewaltthätig und roh, nichts ist ihm zu hart und unvermittelt, daß er es nicht
niederschriebe; aber dasür hat er wieder dicht daneben wirklich wertvolle Ideen,
die eine thatsächliche Bereicherung des harmonischen Ausdrucksvermögens heißen
können. Maseagui ist allerdings oft theatralisch äußerlich und lulissenhaft,
das hindert aber nicht, daß er im ganzen doch mehr echtes Bühnenblut hat
als seine gesamte weise Kritikerschar zusammen. Die von ihm geschaffnen
Charaktere sind durchaus nicht rein von Flecken, sie sind im Ausdruck ihrer
Gefühle oft banal, selbst musikalisch roh, es fehlt ihnen darum aber durchaus
nicht an Kraft und Leidenschaft, ja Innigkeit und Anmut. Zudem verfügt
Maseagni über ein Pathos von nicht gewöhnlicher Wahrheit und Größe, und
vor allem: er ist nie langweilig, er versteht selbst da noch zu unterhalten, wo
er künstlerisch abstößt.

Natürlich ist es sehr leicht, sich bloß auf die Fehler zu versteifen und
sich mit vornehmem Achselzucken von dem ganzen Werke abzuwenden. Doch ist
das kein Standpunkt, wie ihn die Kritik einzunehmen berechtigt ist, die über
Erscheinungen des Tages zu Gericht zu sitzen hat. Der Historiker, der es in
hundert Jahren unternimmt, eine Geschichte der Oper in großen Zügen zu
schreiben, der mag ja vielleicht berechtigt sein, die Partitur der Cavalleria als
unwesentlich beiseite zu legen. Wer aber mitten im Getriebe des Tages steht
und rings umbrandet ist von Mittelmäßigkeit oder anspruchsvoll auftretender
Leerheit und Erfindungslosigteit, der hat allen Grund, sich über eine so ur¬
wüchsige und kräftige Erscheinung wie Maseagni zu freuen. So verfehlt es
wäre, einen jungen Maler unsrer Tage nach dem Maßstabe Michelangelos
oder Rafaels zu messen, und so wenig durch eine derart überspannte Kritik dem
künstlerischen Leben der Gegenwart ein Gefallen erwiesen wird, so wenig ist
man berechtigt, an Maseagni den Maßstab der großen deutschen Leistungen
anzulegen und ihn, wenn er vor solchen Ansprüchen nicht bestehen kann, für
wertlos zu erklären. Man muß sich aus den Standpunkt des Komponisten,
das heißt in diesem Falle auf den italienischen Standpunkt stellen und muß
von vornherein daraus verzichten, Musik von reiner Schönheit zu hören. Hat


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[0191] Moderne Gpern haltlos in die Arme warf und ungetrübten musikalischen Genuß aus ihr ziehen zu können behauptete, ebenso sehr täuschten sich auch die Musiker von Beruf, die die Cavalleria als ein schlechthin seichtes und banales Produkt ohne weiteres aus der Liste der Werke streichen wollten, die von vernünftigen Menschen ernst zu nehmen sind. Wie so häufig, liegt die Wahrheit auch hier in der Mitte zwischen den uneinigen Parteien, mir ist es nicht ganz leicht, diese mittlere Linie auch wirklich herauszufinden und aus den Eigenschaften des Werkes selbst glaubhaft zu belegen. Gewiß, Maseagni ist unter Umständen so trivial, wie es nur Verdi sein konnte in seinen musikalischen Flegeljahren; aber dafür haben seine Melodien sinnlichen Reiz und wirkliche Erfindung. In seiner Harmonik ist er häufig gewaltthätig und roh, nichts ist ihm zu hart und unvermittelt, daß er es nicht niederschriebe; aber dasür hat er wieder dicht daneben wirklich wertvolle Ideen, die eine thatsächliche Bereicherung des harmonischen Ausdrucksvermögens heißen können. Maseagui ist allerdings oft theatralisch äußerlich und lulissenhaft, das hindert aber nicht, daß er im ganzen doch mehr echtes Bühnenblut hat als seine gesamte weise Kritikerschar zusammen. Die von ihm geschaffnen Charaktere sind durchaus nicht rein von Flecken, sie sind im Ausdruck ihrer Gefühle oft banal, selbst musikalisch roh, es fehlt ihnen darum aber durchaus nicht an Kraft und Leidenschaft, ja Innigkeit und Anmut. Zudem verfügt Maseagni über ein Pathos von nicht gewöhnlicher Wahrheit und Größe, und vor allem: er ist nie langweilig, er versteht selbst da noch zu unterhalten, wo er künstlerisch abstößt. Natürlich ist es sehr leicht, sich bloß auf die Fehler zu versteifen und sich mit vornehmem Achselzucken von dem ganzen Werke abzuwenden. Doch ist das kein Standpunkt, wie ihn die Kritik einzunehmen berechtigt ist, die über Erscheinungen des Tages zu Gericht zu sitzen hat. Der Historiker, der es in hundert Jahren unternimmt, eine Geschichte der Oper in großen Zügen zu schreiben, der mag ja vielleicht berechtigt sein, die Partitur der Cavalleria als unwesentlich beiseite zu legen. Wer aber mitten im Getriebe des Tages steht und rings umbrandet ist von Mittelmäßigkeit oder anspruchsvoll auftretender Leerheit und Erfindungslosigteit, der hat allen Grund, sich über eine so ur¬ wüchsige und kräftige Erscheinung wie Maseagni zu freuen. So verfehlt es wäre, einen jungen Maler unsrer Tage nach dem Maßstabe Michelangelos oder Rafaels zu messen, und so wenig durch eine derart überspannte Kritik dem künstlerischen Leben der Gegenwart ein Gefallen erwiesen wird, so wenig ist man berechtigt, an Maseagni den Maßstab der großen deutschen Leistungen anzulegen und ihn, wenn er vor solchen Ansprüchen nicht bestehen kann, für wertlos zu erklären. Man muß sich aus den Standpunkt des Komponisten, das heißt in diesem Falle auf den italienischen Standpunkt stellen und muß von vornherein daraus verzichten, Musik von reiner Schönheit zu hören. Hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/191>, abgerufen am 26.08.2024.