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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

Beispiele genug, daß kranke Dichter sehr gesunde Werke geschaffen, so Schiller,
dessen Idealismus man doch schwerlich auf sein Brustleiden zurückführen kaun,
so Otto Ludwig, der von seiner Krankheit zwar genug am Schaffen gehindert
wurde, dessen Hauptwerke, ja dessen zahlreiche Fragmente aber doch in der
Hauptsache durchaus gesund sind. Oft freilich entspricht dem kranken Werke
(nicht ohne weiteres zu verwechseln mit dem eine Krankheit darstellenden Werk!)
ein kranker Dichter, aber man geht doch wieder zu weit, wenn man nun das
ganze Schaffen dieses Dichters aus der Krankheit erklären will; man darf
keinen Augenblick vergessen, daß sich selbst im kranken Dichter gesunde Kräfte
regen, daß die Phantasie, die Gestaltungskraft, selbst der sittliche Wille
nicht notwendig gelähmt zu sein braucht, wenn der Körper siech, die Geistes-
richtung einseitig und die Stimmung düster geworden ist. Heinrich Heine war
in seiner "Matratzengruft" ohne Zweifel körperlich wie geistig herabgekommen;
dennoch stehen einige seiner schönsten und reinsten Gedichte im "Romanzero."
Es ist selbstverständlich eine Aufgabe der Litteraturwissenschaft, die Gesundheit
eines Dichters zu untersuchen, festzustellen, ob etwa krankhafte Anlagen in ihm
waren, wie sich diese entwickelt, ob sie überwunden wurden oder zum vollstän¬
digen Ruin des Dichters führten; aber man gebe sich um des Himmels willen
nicht der Täuschung hin, als ob man damit Großes erklären könnte, so die
besondre Begabung des Dichters, und zwischen den Zuständen des Dichters
und der Beschaffenheit seiner Werke den notwendigen innern Zusammenhang
stets nachzuweisen imstande sei. Wer das zu können behauptet, ist ein Charlcitcm.
Vor allem aber soll man solche Untersuchungen mit der nötigen Pietät, nicht
vor einem großen Publikum führen; ich bin kein Freund von Geheimwissen-
schaften, aber man darf die Wissenschaft auch nicht gemein machen. Dadurch,
daß man im Feuilleton der Zeitungen das Leben der Dichter unter das Sezir-
messer bringt und vor dem neugierigen Auge des Bildungspöbels jede Sünde,
jede Krankheit nicht bloß des Dichters, sondern auch seiner Eltern und Ver¬
wandten austrank, alles hübsch mit medizinischen Namen benennt und die
Werke des Dichters zugleich als ausgeworfenen Krankheitsstoff erscheinen läßt,
dient man nicht der Wissenschaft, sondern dem Skandal und zieht nur das
Protzentum in Flachen und Mittelmäßigen groß, die natürlich gesund sind.
Über Otto Ludwig schreibt Dr. Sadger u. a.: "Als feststehend kaun gelten, daß
Otto Ludwig ein sogenannter Hereditarier war, will sagen, daß er von Hause
aus eine schwere erbliche Belastung trug. Beide Biographen (Heydrich und
Stern) sprechen von einer vererbten Nervosität. Die frühen Jugendshmptome,
die sich zeigten, sind geeignet, diese Angabe aufs kräftigste zu stützen. Aber
schon hier klafft eine breite Lücke. Von wem hat Otto Ludwig seine Neurose
geerbt? Doch wohl zunächst von Vater oder Mutter oder beiden Teilen zu¬
sammen. Allein was über das Nerven- und Seelenleben der beiden zur Stunde
bekannt ist, wird kaum in irgend welcher Weise zu verwerten sein." Später


Litteratur und Pathologie

Beispiele genug, daß kranke Dichter sehr gesunde Werke geschaffen, so Schiller,
dessen Idealismus man doch schwerlich auf sein Brustleiden zurückführen kaun,
so Otto Ludwig, der von seiner Krankheit zwar genug am Schaffen gehindert
wurde, dessen Hauptwerke, ja dessen zahlreiche Fragmente aber doch in der
Hauptsache durchaus gesund sind. Oft freilich entspricht dem kranken Werke
(nicht ohne weiteres zu verwechseln mit dem eine Krankheit darstellenden Werk!)
ein kranker Dichter, aber man geht doch wieder zu weit, wenn man nun das
ganze Schaffen dieses Dichters aus der Krankheit erklären will; man darf
keinen Augenblick vergessen, daß sich selbst im kranken Dichter gesunde Kräfte
regen, daß die Phantasie, die Gestaltungskraft, selbst der sittliche Wille
nicht notwendig gelähmt zu sein braucht, wenn der Körper siech, die Geistes-
richtung einseitig und die Stimmung düster geworden ist. Heinrich Heine war
in seiner „Matratzengruft" ohne Zweifel körperlich wie geistig herabgekommen;
dennoch stehen einige seiner schönsten und reinsten Gedichte im „Romanzero."
Es ist selbstverständlich eine Aufgabe der Litteraturwissenschaft, die Gesundheit
eines Dichters zu untersuchen, festzustellen, ob etwa krankhafte Anlagen in ihm
waren, wie sich diese entwickelt, ob sie überwunden wurden oder zum vollstän¬
digen Ruin des Dichters führten; aber man gebe sich um des Himmels willen
nicht der Täuschung hin, als ob man damit Großes erklären könnte, so die
besondre Begabung des Dichters, und zwischen den Zuständen des Dichters
und der Beschaffenheit seiner Werke den notwendigen innern Zusammenhang
stets nachzuweisen imstande sei. Wer das zu können behauptet, ist ein Charlcitcm.
Vor allem aber soll man solche Untersuchungen mit der nötigen Pietät, nicht
vor einem großen Publikum führen; ich bin kein Freund von Geheimwissen-
schaften, aber man darf die Wissenschaft auch nicht gemein machen. Dadurch,
daß man im Feuilleton der Zeitungen das Leben der Dichter unter das Sezir-
messer bringt und vor dem neugierigen Auge des Bildungspöbels jede Sünde,
jede Krankheit nicht bloß des Dichters, sondern auch seiner Eltern und Ver¬
wandten austrank, alles hübsch mit medizinischen Namen benennt und die
Werke des Dichters zugleich als ausgeworfenen Krankheitsstoff erscheinen läßt,
dient man nicht der Wissenschaft, sondern dem Skandal und zieht nur das
Protzentum in Flachen und Mittelmäßigen groß, die natürlich gesund sind.
Über Otto Ludwig schreibt Dr. Sadger u. a.: „Als feststehend kaun gelten, daß
Otto Ludwig ein sogenannter Hereditarier war, will sagen, daß er von Hause
aus eine schwere erbliche Belastung trug. Beide Biographen (Heydrich und
Stern) sprechen von einer vererbten Nervosität. Die frühen Jugendshmptome,
die sich zeigten, sind geeignet, diese Angabe aufs kräftigste zu stützen. Aber
schon hier klafft eine breite Lücke. Von wem hat Otto Ludwig seine Neurose
geerbt? Doch wohl zunächst von Vater oder Mutter oder beiden Teilen zu¬
sammen. Allein was über das Nerven- und Seelenleben der beiden zur Stunde
bekannt ist, wird kaum in irgend welcher Weise zu verwerten sein." Später


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[0187] Litteratur und Pathologie Beispiele genug, daß kranke Dichter sehr gesunde Werke geschaffen, so Schiller, dessen Idealismus man doch schwerlich auf sein Brustleiden zurückführen kaun, so Otto Ludwig, der von seiner Krankheit zwar genug am Schaffen gehindert wurde, dessen Hauptwerke, ja dessen zahlreiche Fragmente aber doch in der Hauptsache durchaus gesund sind. Oft freilich entspricht dem kranken Werke (nicht ohne weiteres zu verwechseln mit dem eine Krankheit darstellenden Werk!) ein kranker Dichter, aber man geht doch wieder zu weit, wenn man nun das ganze Schaffen dieses Dichters aus der Krankheit erklären will; man darf keinen Augenblick vergessen, daß sich selbst im kranken Dichter gesunde Kräfte regen, daß die Phantasie, die Gestaltungskraft, selbst der sittliche Wille nicht notwendig gelähmt zu sein braucht, wenn der Körper siech, die Geistes- richtung einseitig und die Stimmung düster geworden ist. Heinrich Heine war in seiner „Matratzengruft" ohne Zweifel körperlich wie geistig herabgekommen; dennoch stehen einige seiner schönsten und reinsten Gedichte im „Romanzero." Es ist selbstverständlich eine Aufgabe der Litteraturwissenschaft, die Gesundheit eines Dichters zu untersuchen, festzustellen, ob etwa krankhafte Anlagen in ihm waren, wie sich diese entwickelt, ob sie überwunden wurden oder zum vollstän¬ digen Ruin des Dichters führten; aber man gebe sich um des Himmels willen nicht der Täuschung hin, als ob man damit Großes erklären könnte, so die besondre Begabung des Dichters, und zwischen den Zuständen des Dichters und der Beschaffenheit seiner Werke den notwendigen innern Zusammenhang stets nachzuweisen imstande sei. Wer das zu können behauptet, ist ein Charlcitcm. Vor allem aber soll man solche Untersuchungen mit der nötigen Pietät, nicht vor einem großen Publikum führen; ich bin kein Freund von Geheimwissen- schaften, aber man darf die Wissenschaft auch nicht gemein machen. Dadurch, daß man im Feuilleton der Zeitungen das Leben der Dichter unter das Sezir- messer bringt und vor dem neugierigen Auge des Bildungspöbels jede Sünde, jede Krankheit nicht bloß des Dichters, sondern auch seiner Eltern und Ver¬ wandten austrank, alles hübsch mit medizinischen Namen benennt und die Werke des Dichters zugleich als ausgeworfenen Krankheitsstoff erscheinen läßt, dient man nicht der Wissenschaft, sondern dem Skandal und zieht nur das Protzentum in Flachen und Mittelmäßigen groß, die natürlich gesund sind. Über Otto Ludwig schreibt Dr. Sadger u. a.: „Als feststehend kaun gelten, daß Otto Ludwig ein sogenannter Hereditarier war, will sagen, daß er von Hause aus eine schwere erbliche Belastung trug. Beide Biographen (Heydrich und Stern) sprechen von einer vererbten Nervosität. Die frühen Jugendshmptome, die sich zeigten, sind geeignet, diese Angabe aufs kräftigste zu stützen. Aber schon hier klafft eine breite Lücke. Von wem hat Otto Ludwig seine Neurose geerbt? Doch wohl zunächst von Vater oder Mutter oder beiden Teilen zu¬ sammen. Allein was über das Nerven- und Seelenleben der beiden zur Stunde bekannt ist, wird kaum in irgend welcher Weise zu verwerten sein." Später

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/187>, abgerufen am 26.08.2024.