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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur > und Pathologie

Wie im Grunde doch wohl auch das Leben, wenn wirs auch nicht überall
erkennen. Die Menschen und ihre Charaktere in der Poesie naturwissenschaftlich
zu begründen, ist, glaube ich, unmöglich, aber um Ende auch nicht nötig;
wohl aber muß man sie lebendig hinstellen, ihr Denken, Fühlen, Wollen, mag
es sich zu Thaten oder Leiden verdichten, naturgemäß entwickeln und daraus
ihr Schicksal gestalten. Es hindert mich natürlich nichts, jemandem ver¬
erbte Leidenschaften und Familienzüge zu geben, aber ich darf auf die Ver¬
erbung an und für sich nichts bauen, ich muß jene Züge genau so behandeln
wie andre Charaktereigenschaften, kurz, es muß mir bewußt bleiben, daß mit
jedem Menschen sozusagen eine neue Welt anfängt, und daß jeder auch die
Verantwortlichkeit für sich selbst übernehmen muß, mag er immerhin das
Produkt ererbter Eigenschaften und der Verhältnisse, und der Wille nicht
frei sein. Jeder, der diese Verantwortlichkeit nicht übernimmt, scheidet dadurch
stillschweigend aus der menschlichen Gesellschaft aus, man kann ihn mindestens
einsperren -- das ist auch ein Menschenrecht --, aber der Fall kommt natürlich
nie vor. Das Schicksal jemandes, der die Sünden seiner Väter büßt, ist gewiß
traurig, aber tragisch ist es uicht; denn ohne (wenn auch, nur vermeintliches)
Wollen und Verantwortlichkeitsgefühl giebt es keine Tragik. Auch dramatisch
verwenden kann man es nicht; denn Ursache und Wirkung sind hier nie in
notwendigen Zusammenhang zu setzen, sind gar nicht mehr zweierlei, sondern
fallen zusammen. Wo wir in der neuern Poesie der Vererbung begegnen, da
ist sie auch meist weiter nichts als Unklarheit, Bequemlichkeit, ja dichterisches
Unvermögen, ein Rückfall in die berüchtigte Schicksalstragödie; dramatisch ist
es ziemlich gleichwertig, ob ich einen kranken Vater gehabt habe, oder ob in
meiner Familie ein Ahnenbild Menschen zu erschlage" Pflegt. Im übrigen ist
gerade in Ibsens "Gespenstern" das Krankheitsbild, wie schon Sadger, der es
als Mediziner wissen muß, nachgewiesen hat, völlig falsch, und auch die Nach¬
ahmer Ibsens, selbst Gerhart Hauptmann, haben ähnliche Sünden begangen,
die sich mit den von ihnen gepredigten naturalistischen Lehren sicher nicht ver¬
tragen. Gerade bei Gerhard Hauptmann kann man die ungenügende Ent¬
wicklung und Motivirung, auch von der Vererbung abgesehen, öfter tadeln.
Beim Kollegen Crcimpton z. B. ist die Versumpfung ohne Zweifel sehr wohl
glaublich zu machen, aber, es geschieht nicht hinreichend; wir erhalten zwar ein
getreues Krankheitsbild, aber die Genesis beschränkt sich auf einige dunkle An¬
deutungen, und der Charakter felbst, wie er dargestellt wird, erlaubt nicht
völlig sichere Schlüsse, sodaß wir denn auch zum Schluß zweifeln, ob die
Rettung gelungen sei. Mag man die Wurzeln einer. Krankheit oft auch tief
im Organismus des Menschen versteckt liegen lassen müssen, die Kunst hat zu
zeigen, wie sie zum Ausbruch kommt, und dann auch wahrheitsgemäß ihre
Folgen. Auch da wird ost genug gesündigt, sowohl trotz alles Naturalismus
in schöufürberischer Weise, indem man die Kranken , als Märtyrer und ihre


Litteratur > und Pathologie

Wie im Grunde doch wohl auch das Leben, wenn wirs auch nicht überall
erkennen. Die Menschen und ihre Charaktere in der Poesie naturwissenschaftlich
zu begründen, ist, glaube ich, unmöglich, aber um Ende auch nicht nötig;
wohl aber muß man sie lebendig hinstellen, ihr Denken, Fühlen, Wollen, mag
es sich zu Thaten oder Leiden verdichten, naturgemäß entwickeln und daraus
ihr Schicksal gestalten. Es hindert mich natürlich nichts, jemandem ver¬
erbte Leidenschaften und Familienzüge zu geben, aber ich darf auf die Ver¬
erbung an und für sich nichts bauen, ich muß jene Züge genau so behandeln
wie andre Charaktereigenschaften, kurz, es muß mir bewußt bleiben, daß mit
jedem Menschen sozusagen eine neue Welt anfängt, und daß jeder auch die
Verantwortlichkeit für sich selbst übernehmen muß, mag er immerhin das
Produkt ererbter Eigenschaften und der Verhältnisse, und der Wille nicht
frei sein. Jeder, der diese Verantwortlichkeit nicht übernimmt, scheidet dadurch
stillschweigend aus der menschlichen Gesellschaft aus, man kann ihn mindestens
einsperren — das ist auch ein Menschenrecht —, aber der Fall kommt natürlich
nie vor. Das Schicksal jemandes, der die Sünden seiner Väter büßt, ist gewiß
traurig, aber tragisch ist es uicht; denn ohne (wenn auch, nur vermeintliches)
Wollen und Verantwortlichkeitsgefühl giebt es keine Tragik. Auch dramatisch
verwenden kann man es nicht; denn Ursache und Wirkung sind hier nie in
notwendigen Zusammenhang zu setzen, sind gar nicht mehr zweierlei, sondern
fallen zusammen. Wo wir in der neuern Poesie der Vererbung begegnen, da
ist sie auch meist weiter nichts als Unklarheit, Bequemlichkeit, ja dichterisches
Unvermögen, ein Rückfall in die berüchtigte Schicksalstragödie; dramatisch ist
es ziemlich gleichwertig, ob ich einen kranken Vater gehabt habe, oder ob in
meiner Familie ein Ahnenbild Menschen zu erschlage» Pflegt. Im übrigen ist
gerade in Ibsens „Gespenstern" das Krankheitsbild, wie schon Sadger, der es
als Mediziner wissen muß, nachgewiesen hat, völlig falsch, und auch die Nach¬
ahmer Ibsens, selbst Gerhart Hauptmann, haben ähnliche Sünden begangen,
die sich mit den von ihnen gepredigten naturalistischen Lehren sicher nicht ver¬
tragen. Gerade bei Gerhard Hauptmann kann man die ungenügende Ent¬
wicklung und Motivirung, auch von der Vererbung abgesehen, öfter tadeln.
Beim Kollegen Crcimpton z. B. ist die Versumpfung ohne Zweifel sehr wohl
glaublich zu machen, aber, es geschieht nicht hinreichend; wir erhalten zwar ein
getreues Krankheitsbild, aber die Genesis beschränkt sich auf einige dunkle An¬
deutungen, und der Charakter felbst, wie er dargestellt wird, erlaubt nicht
völlig sichere Schlüsse, sodaß wir denn auch zum Schluß zweifeln, ob die
Rettung gelungen sei. Mag man die Wurzeln einer. Krankheit oft auch tief
im Organismus des Menschen versteckt liegen lassen müssen, die Kunst hat zu
zeigen, wie sie zum Ausbruch kommt, und dann auch wahrheitsgemäß ihre
Folgen. Auch da wird ost genug gesündigt, sowohl trotz alles Naturalismus
in schöufürberischer Weise, indem man die Kranken , als Märtyrer und ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/184>, abgerufen am 26.08.2024.