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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

Wieder in den fünfziger Jahren unsers Jahrhunderts, wo der gesunde Realis¬
mus, heute auch poetischer Realismus genannt, aufkam, so endlich uoch in den
siebziger Jahren, als die gesunde Butzenscheibenlyrik der pessimistischen das
Leben schwer machte; man kann aber nicht, gerade sagen, daß diese Richtungen
die Blüte, deutscher Dichtung entwickelt hätten. Dann giebt es auch wieder
Zeiten, wo alle Poesie krank sein oder krank thun muß, wenn sie etwas gelten
will; es genügt, an die Weltschmerzperiode zu erinnern. Hier steckt aber die
Krankheit nicht mehr allein im Stoff, sondern auch in der Behandlung und
damit im Dichter selber. Ist ein Krankheitsprozeß, sei er nun geistiger Natur,
oder gehe der körperliche mit geistigen und gemütlichen Umwandlungen Hand
in Hand, unzweifelhaft dichterisch zu gestalten, so kann auch ein kranker Dichter
ganz sicher Hervorragendes leisten, sei es, daß er gegen die Krankheit ankämpfend
sie in bestimmter Richtung überwindet, sei es, daß er Anschauungen und Em¬
pfindungen, die sie giebt, verklärt, verstärkt, vertieft, mit um so größerer Ge¬
walt wiedergiebt. Swifts satanischer Hohn, Byrons himmelstürmender Trotz,
Höltys Wehmut, Lenaus Melancholie, Heines Cynismus sind doch gewiß auf
Krankheit (an körperliche denke ich einstweilen nicht) zurückzuführen, aber wer
mochte sie in der Litteratur missen? Die Dichtung soll durch Himmel und
Hölle führen, und wenn auch in des gesunden Dichters Herz und Phantasie
beide hineingehen, wer in der Hölle geweilt hat, wird sie wahrscheinlich am
großartigsten gestalten. Zuletzt sind ja gesund und krank wie gut und böse
relative Begriffe. Wer wagte von sich zu rühmen, daß er körperlich und
geistig völlig normal sei? Aber man soll auch wieder nicht alles auf den Kopf
stellen, das Gesunde nicht plötzlich krank, das Kranke plötzlich gesund nennen.
Bis zu einem bestimmten Punkte geht das, was mau den gesunden Menschen¬
verstand nennt, und was immer im Bunde mit einer richtigen Empfindung zu
sein pflegt, doch völlig sicher und weiß die frischen Regungen urwüchsiger
Kraft von den verzweifelten Windungen ohnmächtiger Siechheit und den tollen
Sprüngen der Narrheit und des Wahnsinns sehr wohl zu unterscheiden. In
der Gesellschaft, wo die Mode herrscht, darf man diesen gesunden Menschen¬
verstand freilich nicht immer suchen.

Lassen wir zunächst unsern Dichter gesund, d. h. mit einander genan ent¬
sprechender dichterischer Kraft, ästhetischer Erkenntnis und ethischem Wollen
ausgerüstet sein: wann wird ein solcher Dichter Krankheitsprozcsse darstellen?
"Nur, wo ein Problem vorhanden ist, hat eure Kunst etwas zu suchen," rief
einst ein deutscher Tragiker, und ein andermal meinte er, ein Drama sei in allen
Stadien unsittlich, weil feine Aufgabe eben sei, in seiner Gesamtheit die Un-
sittlichkeit aufzuheben. Unsittlichkeit ist nach der modernen Anschauung, aber
auch schon nach der Christi (Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, Wohl
aber die Kranken) weiter nichts als Krankheit; die Krankheit erwächst aus den
sozialen Verhältnissen, und zwar deshalb, weil diese ungelöste Probleme bergen.


Litteratur und Pathologie

Wieder in den fünfziger Jahren unsers Jahrhunderts, wo der gesunde Realis¬
mus, heute auch poetischer Realismus genannt, aufkam, so endlich uoch in den
siebziger Jahren, als die gesunde Butzenscheibenlyrik der pessimistischen das
Leben schwer machte; man kann aber nicht, gerade sagen, daß diese Richtungen
die Blüte, deutscher Dichtung entwickelt hätten. Dann giebt es auch wieder
Zeiten, wo alle Poesie krank sein oder krank thun muß, wenn sie etwas gelten
will; es genügt, an die Weltschmerzperiode zu erinnern. Hier steckt aber die
Krankheit nicht mehr allein im Stoff, sondern auch in der Behandlung und
damit im Dichter selber. Ist ein Krankheitsprozeß, sei er nun geistiger Natur,
oder gehe der körperliche mit geistigen und gemütlichen Umwandlungen Hand
in Hand, unzweifelhaft dichterisch zu gestalten, so kann auch ein kranker Dichter
ganz sicher Hervorragendes leisten, sei es, daß er gegen die Krankheit ankämpfend
sie in bestimmter Richtung überwindet, sei es, daß er Anschauungen und Em¬
pfindungen, die sie giebt, verklärt, verstärkt, vertieft, mit um so größerer Ge¬
walt wiedergiebt. Swifts satanischer Hohn, Byrons himmelstürmender Trotz,
Höltys Wehmut, Lenaus Melancholie, Heines Cynismus sind doch gewiß auf
Krankheit (an körperliche denke ich einstweilen nicht) zurückzuführen, aber wer
mochte sie in der Litteratur missen? Die Dichtung soll durch Himmel und
Hölle führen, und wenn auch in des gesunden Dichters Herz und Phantasie
beide hineingehen, wer in der Hölle geweilt hat, wird sie wahrscheinlich am
großartigsten gestalten. Zuletzt sind ja gesund und krank wie gut und böse
relative Begriffe. Wer wagte von sich zu rühmen, daß er körperlich und
geistig völlig normal sei? Aber man soll auch wieder nicht alles auf den Kopf
stellen, das Gesunde nicht plötzlich krank, das Kranke plötzlich gesund nennen.
Bis zu einem bestimmten Punkte geht das, was mau den gesunden Menschen¬
verstand nennt, und was immer im Bunde mit einer richtigen Empfindung zu
sein pflegt, doch völlig sicher und weiß die frischen Regungen urwüchsiger
Kraft von den verzweifelten Windungen ohnmächtiger Siechheit und den tollen
Sprüngen der Narrheit und des Wahnsinns sehr wohl zu unterscheiden. In
der Gesellschaft, wo die Mode herrscht, darf man diesen gesunden Menschen¬
verstand freilich nicht immer suchen.

Lassen wir zunächst unsern Dichter gesund, d. h. mit einander genan ent¬
sprechender dichterischer Kraft, ästhetischer Erkenntnis und ethischem Wollen
ausgerüstet sein: wann wird ein solcher Dichter Krankheitsprozcsse darstellen?
„Nur, wo ein Problem vorhanden ist, hat eure Kunst etwas zu suchen," rief
einst ein deutscher Tragiker, und ein andermal meinte er, ein Drama sei in allen
Stadien unsittlich, weil feine Aufgabe eben sei, in seiner Gesamtheit die Un-
sittlichkeit aufzuheben. Unsittlichkeit ist nach der modernen Anschauung, aber
auch schon nach der Christi (Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, Wohl
aber die Kranken) weiter nichts als Krankheit; die Krankheit erwächst aus den
sozialen Verhältnissen, und zwar deshalb, weil diese ungelöste Probleme bergen.


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[0181] Litteratur und Pathologie Wieder in den fünfziger Jahren unsers Jahrhunderts, wo der gesunde Realis¬ mus, heute auch poetischer Realismus genannt, aufkam, so endlich uoch in den siebziger Jahren, als die gesunde Butzenscheibenlyrik der pessimistischen das Leben schwer machte; man kann aber nicht, gerade sagen, daß diese Richtungen die Blüte, deutscher Dichtung entwickelt hätten. Dann giebt es auch wieder Zeiten, wo alle Poesie krank sein oder krank thun muß, wenn sie etwas gelten will; es genügt, an die Weltschmerzperiode zu erinnern. Hier steckt aber die Krankheit nicht mehr allein im Stoff, sondern auch in der Behandlung und damit im Dichter selber. Ist ein Krankheitsprozeß, sei er nun geistiger Natur, oder gehe der körperliche mit geistigen und gemütlichen Umwandlungen Hand in Hand, unzweifelhaft dichterisch zu gestalten, so kann auch ein kranker Dichter ganz sicher Hervorragendes leisten, sei es, daß er gegen die Krankheit ankämpfend sie in bestimmter Richtung überwindet, sei es, daß er Anschauungen und Em¬ pfindungen, die sie giebt, verklärt, verstärkt, vertieft, mit um so größerer Ge¬ walt wiedergiebt. Swifts satanischer Hohn, Byrons himmelstürmender Trotz, Höltys Wehmut, Lenaus Melancholie, Heines Cynismus sind doch gewiß auf Krankheit (an körperliche denke ich einstweilen nicht) zurückzuführen, aber wer mochte sie in der Litteratur missen? Die Dichtung soll durch Himmel und Hölle führen, und wenn auch in des gesunden Dichters Herz und Phantasie beide hineingehen, wer in der Hölle geweilt hat, wird sie wahrscheinlich am großartigsten gestalten. Zuletzt sind ja gesund und krank wie gut und böse relative Begriffe. Wer wagte von sich zu rühmen, daß er körperlich und geistig völlig normal sei? Aber man soll auch wieder nicht alles auf den Kopf stellen, das Gesunde nicht plötzlich krank, das Kranke plötzlich gesund nennen. Bis zu einem bestimmten Punkte geht das, was mau den gesunden Menschen¬ verstand nennt, und was immer im Bunde mit einer richtigen Empfindung zu sein pflegt, doch völlig sicher und weiß die frischen Regungen urwüchsiger Kraft von den verzweifelten Windungen ohnmächtiger Siechheit und den tollen Sprüngen der Narrheit und des Wahnsinns sehr wohl zu unterscheiden. In der Gesellschaft, wo die Mode herrscht, darf man diesen gesunden Menschen¬ verstand freilich nicht immer suchen. Lassen wir zunächst unsern Dichter gesund, d. h. mit einander genan ent¬ sprechender dichterischer Kraft, ästhetischer Erkenntnis und ethischem Wollen ausgerüstet sein: wann wird ein solcher Dichter Krankheitsprozcsse darstellen? „Nur, wo ein Problem vorhanden ist, hat eure Kunst etwas zu suchen," rief einst ein deutscher Tragiker, und ein andermal meinte er, ein Drama sei in allen Stadien unsittlich, weil feine Aufgabe eben sei, in seiner Gesamtheit die Un- sittlichkeit aufzuheben. Unsittlichkeit ist nach der modernen Anschauung, aber auch schon nach der Christi (Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, Wohl aber die Kranken) weiter nichts als Krankheit; die Krankheit erwächst aus den sozialen Verhältnissen, und zwar deshalb, weil diese ungelöste Probleme bergen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/181>, abgerufen am 26.08.2024.